Michael Spyra: In Auflösung begriffen
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Alena Diedrich
Michael Spyra: In Auflösung begriffen. Holderbank (Urs Engeler - roughbooks) 2023. 82 Seiten. 14,00 Euro.
Das Gasthaus am Ende der Kulturlandschaft
Aus Michael Spyras letztem Gedichtband kennen wir den Voyeur als einen aufmerksamen Zeitgenossen, als feinsinnigen Beobachter zwischenmenschlicher Kontakte. Schon hier waren Räume relevant, vor allem als Kulisse für Begegnungen. Auch im neuen Gedichtband In Auflösung begriffen finden wir einen lyrischen Beobachter, der unterschiedliche Orte besucht. Doch nicht der zwischenmenschliche Raum ist hier Gegenstand der Darstellung, sondern die Natur- und Kulturlandschaft. Der Sprecher ist ein Reisender zwischen Bergen und Tälern, entlang der Bahnstrecke, der Bundesstraße, an Autobahnen, Raststätten, vorbei an Flüssen, Gräben und Gartenzäunen – so die Ortsbeschreibungen in den Gedichttiteln. Während Spyras lyrischer Sprecher von Sachsen-Anhalt aus über den Globus reist, wandert er zudem entlang an literaturhistorischen Epochen und Orten – vom sozialistischen Realismus über den Halleschen Dichterkreis bis nach Kuba, dem mythischen Sehnsuchtsort der 68er-Generation.
Einheit und Auflösung
In einer ewigen Ordnung der Dinge ziehen im Dahrenstedter Dramolett die LPG-Landmaschinen ganz romantisch in vorherbestimmten Mustern ihre Kreise, ruht Korn um Korn am Ende wohl behütet zum Wohle der menschlichen Gemeinschaft, der natürlichen Ordnung entzogen, der optimierten unterworfen:
Das Piepen beim Rangieren und die Lichterim Dunkel, das sich auf die Landschaft setzt.Und keins der Körner lag wohl jemals dichteram anderen, wie nun zu guter Letzt.
Der lyrische Reisende hat kein direkt benanntes Ziel, wohl aber führt ihn sein Weg in Suchbewegungen bis an das Ende der mal gepflegten und wohl gedeihenden, mal verdreckten und abgewohnten Kulturlandschaft:
Das Land ist weit und flach nach allen Seiten.Und jemand sucht in diesem flachen, weiten,nach allen Seiten kultivierten Landnach einem Abbruch, einem Rand.
Doch der Ort, an dem die ländliche Monotonie entlang der schmutzigen Straßen und schäbigen Hinterhöfe endet, ist weder diskret noch erhaben. Der Wanderer sucht den Übergang, die Auflösung, das Ende, und findet in der Natur die alltägliche Endlichkeit, das unaufgeregte Vermodern irdischer Dinge in ihren unvollkommenen, doch filigranen Übergangsformen:
Der graue Himmel und die kahlen Äste,die schwarzen Bäume und der kalte Wind,der Straßengraben, angewehte Reste,die nicht mehr Laub und noch nicht Erde sind.Die blanken Nervaturen, Blattgebeine,die noch nicht Erde sind und nicht mehr Laub.
Quasi nebenbei ziehen Bilder und Rezeptionsfetzen in Aufzäh-lungen vorbei, gleichzeitig und als verschränkter Widerspruch postmoderner Vielheit. Die Brüche treten dort am deutlichsten hervor, wo unsere Wahrnehmung ins Schleudern gerät und sich die Realität in die ansonsten paargereimte Idylle schleicht. Wir nehmen erst hinterher wahr, was wir gesehen haben:
Die Kiefernwälder und die Ackerbrache,der grüne Mittelstreifen und die Lache,das ausgewalzte Ziegelrot, der Zahn,der Huf, die Eingeweide, Knochensplitteram Fahrbahnrand, das aufgeplatzte Wild,zerfetzt, der zweite PKW, ein dritter,die Bremsspur, Schlittern und das Blechgewitter,die Rettungsgasse erst im nächsten Bild.
Landschaft und Bewusstsein
Im Kapitel Mit zunehmendem Schwund beginnt die Auflösung diskret zu werden. In Ankunft mäandert der Sprecher mit Weißwein und Zigarette durch den Freitagnachmittag auf der Terrasse. Ein Erster, zweiter, dritter Mann treten hinzu und treiben den Auflösungsprozess durch Likör und ein Tabakgrasgemisch voran. Die schleichende Zersetzung erfolgt durch Kodein und Monotonie – „Seit Wochen, jeden Abend 40 Tropfen“ -, durch die Tristesse des modernen Lebens im Zentrum der Kulturlandschaft – in der Neubausiedlung Fertighaus – und schließlich durch Abhanden-kommen, Wegsein, Sterblichkeit: „Einer geht und einer wird vermisst.“ Verschwinden ist, wenn Materielles sich in Feinstoffliches verwandelt und visuell ungreifbar wird:
Ein Mann steht da, die Hände in den Taschen,und es ist still in ihm und um ihn auch.Ein Mann trägt sieben Bier in seinem Bauchund, statt des Bieres, Luft in sieben Flaschenund in den Lungen etwas feuchten Rauch.[…]Und löst sich auf, und dann ist er verschwunden,der Mann beziehungsweise unsichtbar,ganz einfach weg, wo er noch eben war,so viele, viele, viele, viele Stunden,und dann wird auch der Rest der Szene klar.
Im Gegensatz zu Eichendorffs Frühlingsfahrt, an die das Reimschema erinnert, gibt es hier keine Wiederkehr. Das Verschwundene bleibt durch den Prozess des Verschwindens präsent, der beobachtet wurde. Einer bleibt, spricht und beschreibt Personen, Landschaften, Idyllen und Moritaten. Denn mindestens ein Zuschauer ist nötig, um den Fortgang wahrzunehmen und zu beschreiben, wie in Der unterwartete Untergang einer Dame:
Sie steigt durch ihre Socken in die Schuhe,durchsteigt die Sohlen und den Untergrund,die Auslegware und die Dielen unddie Dämmrung noch in aller Seelenruhe,verringert sich mit zunehmendem Schwung.
Unter dem Gedankenstrich
Wer hier nicht verschwindet und durch Flaschenbier und Fertighausalltag zur Auflösung gebracht wird, dem widerfährt dies durch die sprachliche Gedankenformung im Gedicht, durch die Last des Sprach- und Satzzeichens selbst:
Ein Mann ist Sonntagmorgen nicht bei sich.Der Mann ist an dem Morgen in GedankenUnd stellt sich unter den GedankenstrichUnd steht darunter und gerät ins Wanken.
[…]Er geht darunter unter und vermisstin dem Gedanken nichts und ist sich sicher,dass er nicht sicher ist, wo er nun ist,und der Gedanke ist sein eigentlicher,an diesem Sonntagmorgen, einem Tag,aus dem der Mann in den Morast entgleitet.Und der Morast ist eine Art Belag,der sich auf dem Entglittenen verbreitet.
Im matschigen Übergang oder in alltäglichen Ablagerungen werden Leerstellen sichtbar:
Und dann der Glasrand auf dem schwarzen Tresen,als wäre eben jemand da gewesen,der Aschenbecher, die Zigarrenglut,der Kleiderständer und darauf sein Hut.
Spuren und Zeichen, unbemerkt hinterlassene oder bewusst geschlagene, werden als Spuren der Vorübergegangenen auf den Oberflächen der Welt gespeichert und so lesbar:
Die Kippen, die nicht in den Kübel passten,diverse Daten unbekannter Rastenund Initialen, in das Holz gekerbt.
Der Rastplatz am Ende der Kulturlandschaft
Am Rande der Kulturlandschaft ist ein Rastplatz, ein Gasthaus, das uns hereinlockt zu den Aufgelösten, Verschwundenen und Verflossenen: „Die Welt sieht besser von hier drinnen aus!“. Der Sprechwissenschaftler und Lyriker Spyra lädt uns ein, von innen einen Blick durchs Fenster zu werfen und zu prüfen, ob sich durch den Rahmen die Perspektive auf unseren Kulturraum verändert und ob die gebundene Sprache aus Distichen, Assonanzen, Stab- und Binnenreimen, zusammenhalten kann, was droht, sich vollends aufzulösen. Es lohnt ein Blick hinaus, aber mehr noch hinein, ins Buch.