Michael Spyra: Die Berichte des Voyeurs
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Alena Diedrich
Michael Spyra: Die Berichte des Voyeurs. 100
Liebesgedichte. Halle (Mitteldeutscher Verlag) 2021. 144 Seiten. 16,00 Euro.
Literarische Intimitäten
Das Cover des neuen Gedichtbandes von
Michael Spyra zeigt die Welt wie im Voyeursblick durch den Spion: In der Linse
ist der Ausschnitt eines leeren Treppenhauses sichtbar – beständige Auf- und
Abstiege in Erwartung zwischenmenschlichen Getrappels.
»100 Liebesgedichte« verspricht der Untertitel von Michael
Spyras Gedichtband Die Berichte des
Voyeurs und wendet sich damit der Liebe als einem der wichtigsten lyrischen
Themen mit entsprechender Fallhöhe zu. Die vier Kapitel des Bandes werden unter
anderem mit Zitaten von Catull und Sappho eröffnet, was vom sehnsuchtsvollen
Besingen eines Frauenkörpers bis zur Beschreibung romantischer Liebesnächte
diverse Motive erwarten lässt. Dass Michael Spyra – ausgezeichnet mit dem
Bonner Literaturpreis sowie dem Klopstock-Förderpreis – in literarischen
Traditionen zu Hause ist, hat sein Debütband Auf die Äpfel hatte der Herbst geboxt (Mitteldeutscher Verlag 2015)
bewiesen. Bereits in seinem lyrischen Erstling jonglierte er virtuos mit
literarischen Topoi und lyrischem Formenreichtum – Oden, Blankverse, Sonette.
Das Voyeur-Motiv tauchte hier bereits im Eröffnungsgedicht Beiträge zur Beziehungskunde auf:
In meinem Zimmer ist es still und dunkel.In deinem gegenüber ist Licht.So seh‘ ich dich, doch du erkennst mich nicht.
Die Berichte des Voyeurs
nimmt allerdings eine andere Perspektive ein. Hier gibt es kein Ich, das ein Du
beschreibt, vielmehr ist der Voyeur ein Dritter, ein Beobachtender,
Berichtender, nüchtern Dichtender, der namenlose Männer und Frauen in
unterschiedlichen Er-Sie-Konstellationen betrachtet. Geschildert werden
zwischenmenschliche Begegnungen vor dem Hintergrund heterosexueller
Dating-Klischees und den Traditionen lyrischen Sprechens. Während der Titel
einen männlichen Beobachter nahelegt, lassen die Texte selbst das offen. Die
beobachtende Instanz ist literarischer Voyeur im Sinne eines allwissenden
Erzählers, der um zufällige Begegnungen oder alte Bekanntschaften,
Verabredungen, heimliche Absichten und den Beziehungsstatus der beobachteten
Personen weiß. Durch seinen Bericht nehmen wir beim Lesen selbst eine
voyeuristische Perspektive ein, haben Einblicke in die beschriebenen
Paarkonstellationen – stehen aber gleichzeitig draußen, wie auch der Voyeur,
frierend vor der verschlossenen Tür:
Sie applaudieren nicht. Sie schütteln Hände.Sie führt ihn ins Büro. Sie machen Licht.Die Winterkälte außerhalb der Wändebeendet Observierung und Bericht.
Stimmungen und Szenen werden in den Gedichten zwar
beschrieben, doch innere Seelenzustände, Gefühle und Emo-tionen bleiben
ausgespart. So bleibt das eigentliche Intime ungreifbar und unerreichbar. Was
umkreist wird, lässt dann Raum für die Vorstellungskraft – die des Voyeurs und
mit ihm die der Lesenden:
[...] Sie wird ihm holdund öffnet ihm und ihrem Rad den Kellerund ihm die Wohnungstür und dann den Wein,den Gläserschrank, und er schenkt ihnen ein.Dann öffnet sich noch mehr und immer schneller.
Natürlich geht es ganz zentral um Sex, der Drive »primitiver
Kräfte« wird derb, frivol, erotisch und komisch besungen. Doch wen dies
abschrecken mag, kann beruhigt sein – die gemeinsamen Verrenkungen werden nicht
auserzählt, sondern abgeblendet wie allgemein üblich im Liebesfilm-Genre. Sie
lassen sich hinter der sprachlichen Lakonie von Paar- oder Kreuzreimen nur
erahnen:
Und dann sind sie bei ihr, und sie beginnenmit dem, was dort mit ihm und ihr beginnt,was da beginnt, wo sie zusammen sindund was sie dann im Wechselspiel ersinnen,was sie sich so und er sich so ersinnt.
Das ewige Auf und Ab, das alternierende Heben und Senken, mag
dem Thema zwar angemessen sein, kann allerdings hier und da auch etwas ermüden
wie die beständige Partnersuche. Doch Sonette und Terzinen lassen den ewigen
menschlichen Reigen als lyrisch geformten Paarungstanz zugleich auch leicht und
spielerisch wirken, bevor er dann an ein Ende kommt:
Und dann ist da ein fester Freund bei ihr.Und er ist bei der nächsten angekommen.Man stelle sich nur vor: Das wären vier!Wie das wohl wäre, nur mal angenommen.Sie sind es nicht und bleiben jeweils zwei.Und diese zwei sind mit der Zeit verschwommen.Und damit ist die Liaison vorbei.
Spyra beschreibt plötzlich auftretende oder eingefädelte
Gelegenheiten, vorübergehende, vielleicht per Algorithmus gewürfelte Matches,
Seitensprünge, Ehebrüche, aber auch alte Bekanntschaften und verflossene
Liebschaften, die sich wieder begegnen und meist nach vollzogenem Akt
auseinandergehen, in wieder andere Beziehungen:
Sie weiß auch, dass es eine andre gibt.Das weiß sie ja, das ist ja auch nichts Neues.Sie weiß ja auch noch nicht, ob sie ihn liebt,und wenn, dann weiß sie nicht, ob sie ihm treu ist.
Die beobachteten Zweierbeziehungen fügen sich in Die Berichte des Voyeurs zu einem
Kaleidoskop an möglichen Zusammenkünften. Dabei verankern die geschilderten
Bettgeschichten die Akte der abstrakten Paare an konkreten Orten: in Theatern,
Kneipen und Bars, in Leipziger Wohnungen, auf dem Sofa, auf Parkplätzen, in
Freibädern, in Gärten, im Winter an der Feuerschale oder auf Harzreisen, bei
denen zumindest dem Titel nach Stolberger
Diamanten gehoben werden:
Da steht der kahle Stamm, da liegen Wurzeln.Er gräbt im Krater. Sie hebt einen Stein,den ersten Diamanten, und dann purzelndie nächsten schon, als ob es Kiesel sei’n.
Nicht immer gelingt der körperlich-menschliche Drahtseilakt
hinter der Metapher, auch das Abblitzen, plötzliche Abturner und Unlust, körperliches
Versagen, Hemmungen, Körperscham, Entfremdung und Gleichgültigkeit, das
Sich-Abnutzen einer inflationären modernen Liebe in seriellen Beziehungen
gehören zum Beziehungsspiel des Parship-, Tinder-, OKCupid-Zeitalters.
Blind-Date-Szenen rufen die Assoziation des Online-Datings und seiner
Unverbindlichkeiten hervor. Die beschriebenen Liebespaare »sind nicht viel mehr
als Spukgestalten«. Die kurzen Begegnungen sind individuell erzählt, doch
zugleich prototypisch und klischeehaft:
Und als sie von der Motorhaube kippt,hat er die Zigarette fortgeschnipptund fängt sie auf und hebt sie auf der Stelle,auf ihren Rücksitz, in die Fahrgastzelle.Dann ist es schon vorbei. Sie sitzt und raucht.Er steigt in seine Hose und er tauchtzurück ins Hemd, und dann sind sie verschwundenund haben sich auch nicht nochmal gefunden.
Ob aus den physisch tastenden Anfängen auch Konstanten
entstehen, andere Beziehungen hervorgehen – und wenn ja, welche? – bleibt
Spekulation, denn auf die beschriebenen Paare ist meist schnell »ihr letzter
Vers gesungen«. Doch die Lakonie lässt Raum für Vorstellungen und
Möglichkeiten. So blitzen hier und da potentielle Zukünfte auf, zum Beispiel
etwaige familiäre Konstellationen. Im letzten Gedicht wird ein Elternpaar
beschrieben, das nach morgendlichem Akt verbunden, intimer, gemeinsam in den
Tag startet:
Sie atmet schwerer und auch plötzlich lauter.Sie flüstert ihm ins Ohr, dann ist genug.Er zuckt und spuckt und beißt den Bettbezug.Ihr Anblick wirkt am Frühstückstisch vertrauter.
Und doch endet diese Szene wie die anderen vorher. Sie
bleibt nur ein kurzer Ausschnitt, der sich zu den anderen fügt, sich ins
Gesamtbild des Bandes einpasst. Auch zwei Collagen des Autors begleiten den
Band: Sie zeigen Naturlandschaft und Stahlgerüste, Paare aus Liebesfilmen vor
ewigem Mond, Frauenfiguren, tastende Blinde – und einen Dritten, Unbekannten,
die Wanderschuhe lässig ins Bild gestreckt neben technischer Apparatur, der in
der zweiten Collage vollständig im Betrachten aufgeht, doch immer noch da ist:
einer, der beobachtet, beschreibt, zusammenfügt.
Man mag vielleicht einiges vermissen in dem hier
beschriebenen wenig diversen Dating-Diskurs des 21. Jahrhunderts, doch kann man
dafür in Die Berichte des Voyeurs tief ins lyrisch ausbuchstabierte
heteronormative Klischee eintauchen und die Schönheit sowie die Abgründe und
Absurditäten menschlicher Leidenschaften genießen. Wer zudem die sprachliche
Leichtfüßigkeit, den Witz und die Lakonie von etwa Ror Wolfs Waldmann-Gedichten
mag, wird an Michael Spyras lyrischen Paar-Exempeln sicherlich Spaß haben.