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Michael Spyra: Auf die Äpfel hatte der Herbst geboxt

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Dirk Uwe Hansen

Kill Your Darlings!



Das erste Durchblättern des Debutbandes von Michael Spyra hinterlässt mich beeindruckt: Bemerkenswert groß ist die Zahl der Formen, in denen seine Gedichte daherkommen; da gibt es Blankverse und Reime, Verse werden wiederholt und fugenartig ineinandergeschoben, elegische Distichen tauchen auf, spoken-word-Ästhetik und auch Sonette. Dabei ist Spyras Umgang mit den formalen Anforderungen erfrischend entspannt, geradezu hemdsärmelig bisweilen, er scheut sich nicht, die Form seinen Bedürfnissen anzupassen und einen Reim auch einmal einen Halbreim sein zu lassen, so dass die einzelnen Stücke sich meist gefällig, leicht lesbar präsentieren.

Nicht minder beeindruckend die inhaltliche Vielfalt des Bandes. In den grob nach Liebesgedichten, Naturgedichten und politischen Gedichten (dies jeweils im weiteren Sinne des Wortes) eingeteilten Stücken finden sich Blicke ins Innere des menschlichen Nervensystems, sprechende Tiere, literarische Anspielungen, historische Anekdoten und am Ende wird noch ein Hausmeister in elegischen Distichen besungen.

Doch hier nun beginne ich mit den Gedichten zu fremdeln. Termini wie nucleus vestibularis und Synapsenknöpfchen in ein Gedicht zu verpacken, das Verhältnis von Kirke und Odysseus in Alltagssprache zu dekonstruieren („ ... Auf diesem Stutenhof bist du der Hengst. / Und jetzt, als deine Schweinefreunde fahren, / hab‘ ich durchschaut, wie du dir das hier denkst. ... “), ein Lehrgedicht über die Herstellung einer Masturbationsmanschette, Dialektwörter im Mund von Tieren („Da stimmt was nicht, da regt sich was am Tobel, / erkennt das Eichhörnchen und illert aus dem Kobel. ...“) oder eine Elegie über einen Hausmeister – das alles klingt mir zu sehr nach Aufgaben für Schreibübungen, Übungen zudem, für die sich von den hellenistischen Epigrammatikern bis zu Robert Gernhardt genügend Vorläufer finden ließen, auch wenn Spyra sie zweifellos elegant und geschickt löst.

Die Kohlenmänner

Die Kohlenmänner kommen zu zweit,
ein Dicker, der spricht, und ein Dünner, der schweigt.

Beide bärtig und mit schwarzen Locken,
seh‘ ich sie sich die Säcke auf den Rücken bocken.

Die Augen sind braun und rot an den Rändern,
die Stimme belegt, Kohlenstaub auf den Bändern.

Dann poltern sie beide treppab und treppauf
und nehmen mein Warten wohlwollend in Kauf.

Dann rollen Bierflaschen vom Beifahrersitz.
Der Stift für die Quittung ist immer gespitzt.

Das Chassis vibriert, und schon hüpfen die Herzen.
Dann ziehen sie weiter, ich seh‘ sie noch scherzen.


Ein eher ungewöhnliches Thema in ein Gedicht gegossen, formal sicher gelöst, gewiss (auch wenn ich nicht ganz sicher bin, ob der gespitzte Stift nicht dem Reim geschuldet ist – ein Graphitstift mag zwar gut zu Kohlenmännern passen, für Quittungen eignet er sich nicht). Doch bleibt die Schilderung an der Oberfläche, bildet die Kohlenlieferung als Kindheitserinnerung ab, macht aber darüber hinaus, um mit Paul Klee zu sprechen, nichts sichtbar.

Bei der Lektüre einer Reihe von Gedichten dieses Bandes ergreift mich Unbehagen, wenn ich als Leser nur eine virtuos gestaltete Oberfläche geboten bekomme, die bewundert werden will, unter der aber nichts sichtbar wird.

Dieses Unbehagen mag, das gebe ich gern zu, Geschmackssache sein. Doch gibt es auch Beispiele, in denen Spyra zeigt, dass er durchaus willens ist, einen tieferen Blick des Lesers zu ermöglichen, „Der Flaschensammler“ etwa oder „Der Besucher“ zeigen mehr als nur die Oberfläche sozialer Wirklichkeit:


Der Flaschensammler

Du bist der Wankelmotor eines Steppenläufers,
der Laufradhamster, der die Tram schon fahren sieht.
Ein Sprinter mit den Attributen eines Säufers,
ein Glockenspiel im Beutel, bin ich Eremit.

Das Aufeinanderachten ist uns Schnee von gestern,
wir leben miteinander, reden dran vorbei,
der Jäger und ein Sammler, beides Zwillingsschwestern.
Drei Bären sind wir, tanzend um den heißen Brei,

den Doppelsitz, zusammen. Und ich überlege,
ob du es dir noch leisten kannst zu prüfen, ob
die Bahn die Schienen auch mit großen Münzen präge,
bevor sie stoppt, du wechselst gleich in deinen Mob.

Ich fasle, du erschreckst mich als Defibrillator
und sagst: „Sie müssen besser auf sich aufpassen!“,
berührst, verrückst mich, gleichweit nördlich vom Äquator
und wiederholst dich: „ ... müssen mich mal rauslassen!“


Mit „Regenzeit“ findet sich ein so schönes wie originelles Liebesgedicht („ ... Ist Zeit, dich zu berühren, auf den Lippen, / zart die Zungenplatten aneinander / abzuwetzen, abzureiben ist die Zeit / des Regens: Regenzeit. Das Gras / in deinem Delta schimmert rot vom Gang / der Sonne, glänzt vom Tau aus deinen Poren, / vollgesogen wölbt der Boden sich, wo nun / die Löwin wildert, die Gazelle sich verirrt, / im Schilf des Stromes rauscht das Blut, wo / sanft das Krokodil sie packt, Spiralen dreht / und sich mit ihr ins Becken schraubt.“), doch nur eine Seite zuvor, so konventionell als sollte Erich Kästner wiederbelebt werden:

Guter Morgen

Schenkt mir einen guten Morgen,
mit einer schönen Frau darin,
die, nicht zu brav und nicht verdorben,
mit Kurven und mit sechstem Sinn
...

Es ließen sich noch mehr solcher Paarungen in dem Buch finden; „Cerebellum“ und „Der Augur“ etwa, die beide Fachterminologie ins Metrum nehmen, oder die beiden ready-mades „Thalia“, in dem nicht die Muse, sondern die Oberfläche eines Büchersupermarktes gleichen Namens entlarvend vor Augen geführt wird, und „Der Coolidge-Effekt“, das schlicht die bekannte, banale (und übelsten 50‘er-Jahre-Humor bedienende) Anekdote nacherzählt.

So bleibt mir dann als letzter Eindruck von diesem Band der vergebliche Wunsch, Autor oder Lektorat hätten die Fingerübungen und Oberflächengedichte, die das Gute so sehr in den Schatten stellen, noch herausgenommen, um dem Band ein schärferes Profil zu geben und hinter den Kunststücken die Kunst sichtbar werden zu lassen.



Michael Spyra: Auf die Äpfel hatte der Herbst geboxt. Gedichte. Halle (Mitteldeutscher Verlag) 2014. 80 Seiten. 9,90 Euro.

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