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Michael Lentz: Chora

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Stefan Hölscher

Michael Lentz: Chora. Gedichte. Frankfurt a.M. (S. Fischer) 2023. 128 Seiten. 24,00 Euro.

Schimmern an einem dunklen Ort


Der im Februar im S. Fischer Verlag erschienene neue Gedichtband von Michael Lentz trägt als Titel den Begriff „Chora“, das altgriechische Wort für „Platz, Gebiet, Land, Raum“: „χώρα“. In Platons spätem Dialogwerk Timaios, in dem es um Sein und Werden von Welt und Mensch geht, meint dieser dort eher unscharf gebrauchte Begriff die allem Seienden und Erkennbaren vorausgehenden Grundbedingungen. In der Interpretation von Jaques Derrida bezieht sich der Begriff auf die Erzeugung der Philosophie, die dem Unterschied zwischen Mythos und Logos vorausliegt und selbst nicht mehr philosophisch reflektiert werden kann – was die Sache nur unwesentlich klarer macht. Mit „Chora“ scheint aber in diesen philosophischen Verwendungen auf etwas Bezug genommen zu werden, was grundsätzlich der begrifflich und damit auch individuell fassbaren Existenz vorausgeht, sie erst ermöglicht, in ihr aber nicht mehr logisch be-greifbar ist. Allein schon mit diesem ebenso kurzen wie existenziell fundamentalen Titel erhebt der Gedichtband von Lentz einen auch philosophisch nicht zu geringen Anspruch.

Der Band enthält Gedichte aus über 15 Jahren Schaffenszeit von Michael Lentz, was trotz der minimalistisch parallelisierten Binnenstruktur in die Kapitel „Haus“, „Faden“, „Ich“, „Sprünge“, „Ich“, „Staat“ „Falte“ den Umstand erklärt, dass Lesende hier auf stilistisch recht unterschiedliche Texte treffen. In ihren inhaltlichen Bezügen kreisen diese Texte allerdings in hohem Maße um Aspekte wie Ursprung, Familie, Kind, Entwicklung, Dasein, Sterben und Tod, also um Grundbedingungen menschlicher Existenz. Bei aller Verschiedenheit des stilistischen Feinge-webes eint die Texte ebenfalls ihr deutlicher Bezug zur Tradition konkreter Poesie, die ja die Sprache als Urgrund unseres bewussten Erkennens immer auch selbst zum Objekt macht. Nicht wenige der Texte stehen vollumfänglich in dieser durch Namen wie Jandl, Gomringer und Pastior gekennzeichneten Tradition, während andere nur spürbare Einflüsse dieser Tradition aufweisen. Es ließe sich hier auch von einem Unterschied kompositorischer Strenge sprechen. Am einen Ende des Spektrums stehen Texte, die zumeist in dem für Lentz ja durchaus charakteristischen Anagramm-Stil gehalten sind, die also das Buchstabenmaterial einer Zeile fortlaufend neu kombinieren, wie etwa das Gedicht „wut dosieren“, dessen Anfang so geht:

wo ideen stur
wutdiener so
deiner wut so
studieren wo
dieter uns wo
siedet wo nur
sieder tun wo
weidet nur so
duester in wo
die sturen wo
die worte uns
wos unter eid
wo ritus eden
wir edens out
weide uns ort
undsoweiter
wo in duestre
undsoweiter
wut die Rosen
die wutrosen
undsoweiter
wos unter die
erde so in wut
weide uns rot
wo unter eids
urne wie tods
rune wie tods
tod: nur wiese
undsoweiter…

Der Charme dieser handwerklich gekonnt gebauten Texte besteht darin, dass sie im Zuge ihrer Neukombinationen uns vertraute Wörter und Wendungen mit neuartigen, die herkömmlichen Sprachformen brechenden Elementen direkt verbinden, wodurch einerseits immer wieder neue Assoziationsrichtungen gebahnt werden und andererseits Logos, Spiel, Absurdität und Nonsens in ihrem unablässigen Wechsel eine Art Trance oder mentales Schwindelgefühl hervorrufen können. Indem diese Texte in der Einhaltung ihres Bauprinzips über mehrere Seiten gehen und vor allem im Kapitel „Staat“ eine ganze Reihe von ihnen aufeinanderfolgen, habe ich mich bei der Lektüre gefragt: Finde ich das nun eher inspirierend oder ermüdend? Finde ich das eher öffnend oder verschließend? Finde ich das vortrefflich auskomponiert oder einfach zu sehr in die Länge gezogen? Und meine Antworten gingen mal mehr in die eine und mal mehr in die andere Richtung.

Fraglos spannend finde ich dagegen diejenigen Texte, in die sich Elemente konkreter Poesie wie Ankerpunkte, Stolpersteine, Klang- und Rhythmusgeber hineinbegeben, wie etwa in „stille feiung“, die so beginnt:

wie sich alles wieder holt das grab der altern
das elterngrab der bruder tot dieschwesterfern
das einzne kind daseinzelkind des bruders grab
das brudergrab der weg ans grab ganz grap und graf
und grob das grab die augenstele kalt wie kalt
wie eiseskalt der frost der frisst der augenkammer…
        
Mit seinen fast im Staccato tönenden kurzen Worten neben den verdichtet zusammengesetzten („dieschwesterfern“, „daseinzelkind“, „augenstele“, „augenkammer“), mit seinen starken Asso-nanzen (besonders mit dem a-Laut: „grab“, „altern“, „das“, „ans grab ganz grap und graf“…), mit seiner unvermittelt einsetzenden Bedeutungsdirektheit („wie sich alles wieder holt das grab der altern / das elterngrab der bruder tot…“ ) packt mich ein ein solcher Text sofort und lässt mich bis zuletzt auch nicht wieder los.

Und dieses Gepacktwerden erlebe ich noch stärker bei Texten, bei denen sich die größeren Freiheitsgrade ihrer Konstruktion mit einer Quasi-Geschichte verbinden, die sich in starker Bild-lichkeit in Szene zu setzen weiß. Mein Favorit dafür ist das Gedicht „feuerabend strahlte auf im linden elternpark“, das so beginnt:  

feuerabend strahlte auf im linden elternpark
panorama in rondeau ein paar fasan ein wildes
paar im kleinen schritt im trippeltakt doch gänzlich da

in der mitte um sich selbst kein blick versteht sie ganz
zu fassen so was schönes macht den ganzen krieg vergessen
ich hab sie gern doch paps erkennt da mehr und schießt sie schnurstracks

taxiderm so stoppt mit einem mal der morbus pick
das heitre paar stolziert nicht mehr im lebenlosen park
zeigt da genau die stelle karussell ein schräger topos

im rondeau ein steppenläufer rollend außer wind
du siehst in diesem haus wohin du siehst nur ausgestopfte
haut was heute einer zeugt füllt morgen schon wer aus…
                           
Schon der Titel erzeugt mit dem Neologismus „feuerabend“ statt des – im Zusammenhang mit dem „linden elternpark“ erwartbaren „Feierabends“ eine Irritation, die sich durch das im Text erzählte Schicksal des abgeschossenen Fasanenpaars rückwirkend auflöst. Die ersten beiden Verse schaffen dabei in ihrer 3-Wort-Rhythmik, den Trippeltanz des Fasanenpaars quasi feder-leicht in Sprache zu setzen: „panorama in rondeau / ein paar fasan / ein wildes paar / im kleinen schritt / im trippel-takt / doch gänzlich da“. Ist dieser Tanz „so was schönes“, das „den ganzen krieg vergessen [macht]“, so ist es für die Lesenden umso schockierender , dass „paps“, der da „mehr“ „erkennt“, die beiden im Tanz verbundenen Fasane „schnurstracks“ erschießt, wodurch zugleich ein brutal-greller Kontrast zwischen dem Kindlichen „ich hab sie gern“ und dem folgen-den „schießt sie schnurstracks taxiderm“ entsteht. Hier werden die erotisch leichtfüßige Schönheit der tanzenden Fasane mit dem kindlichen Erleben und der vielleicht auch aus Traumatisierungen im Krieg entstandenen Tier-Jäger-Sammel-Gewalt beim Vater in größter poetischer Prägnanz und Eindringlichkeit zusammengeführt.

Es sind besonders solche Texte, die „Chora“ als dunklen und unserer Verfügbarkeit grundsätzlich entzogenen Ort aufschimmern und die Lektüre des Gedichtbands zu einem bewegenden Erlebnis werden lassen. In jedem Fall aber bietet der Band auf gut 100 Seiten eine Fülle bis ins kleinste Detail durchkomponierter Texte, die gerade da, wo sie nahezu simpel erscheinen, große handwerkliche Könnerschaft und perfektionsgetriebene Akribie dokumentieren.  


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