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Michael Krüger: Einmal einfach

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Timo Brandt

Zeitenende mit Ausblick und feinen Widersprüchen


„Hier, an den warmen Sommertagen,
haben wir davon geträumt, der Welt
brüderlich in die Speichen zu greifen.
[…]
Das Grab meiner Eltern ist schon im Angebot,
so schnell hat sich das Rad gedreht.“

Durch die Zeilen von Michael Krügers neustem Gedichtband streifend, kommt mir der Gedanke, dass ich zu jung bin, um diese Gedichte zu verstehen. Während ich weiterlese, hoffe ich inständig, dass dieser Gedanke nicht einem zu raschen (Vor-)Urteil entspringt, welches ich den Texten aufgedrückt habe.

Natürlich sagt auch mir der Tod etwas und ich weiß, dass meine Zeit vergeht. Aber noch nehme ich dieses Vergehen nicht persönlich. Ständig vergeht Zeit, sie vergeht ja für alle gleichermaßen, Stunden vergehen, dann Tage, es ist Zeit für dies und das. Und ich begrüße sogar oft das Vergehen, denn es bringt mich näher an Dinge heran, an Erwartetes und Erreichtes, an Erhofftes und Überwundenes, und führt zu neuen Möglichkeiten.

Es wird wohl der Tag kommen, an dem mir noch stärker bewusst wird, dass es meine Zeit ist, die da vergeht; dass die Zeit zwar unabhängig ist von denen, die in ihr vergehen, aber ich nicht unabhängig von der Zeit. Wo sie für andere noch fließen wird, sprudelt und dahinzieht, wird sie bei mir unwiderruflich versickern. Die Quelle wird schwächer werden, egal wie weit der Fluss schon geflossen ist, auf der Suche nach dem Meer.

„Ich war aus dem Auto ausgestiegen,
schaute über die sanften Hügel der Gascogne,
die wirklich einladend sanft sind, und dachte,
mehr kann das Leben nicht bieten
als diese Wellen aus Weizen, Gerste und Sonnenblumen,
die einmal zum Meer wollten bei der Erschaffung der Welt.
Nicht jeder schafft es bis zum Meer.“

Ich will mit diesem Einstieg nicht behaupten, dass Michael Krügers neuster Gedichtband „nur“ ein Buch über das Alter, den Tod und die Vergänglichkeit ist. Der Band ist voller Zwischentöne, besitzt einen großen Nuancenreichtum, voller kleiner Späße, weiser Hoffnungsschimmer und Beiläufigkeiten.

Aber trotzdem ist die größte Präsenz in dem Band das Vergehen der Zeit, die Unabwendbarkeit des Ende(n)s. Ständig sind da zum Beispiel Uhren.

„Wenn du das Ohr an die Tür presst,
hörst du eine Uhr ticken, so laut,
als wollte sie die Zeit aufwecken,
damit der Tod wieder zu tun hat“

„Alle Uhren
sind bis an die Zähne bewaffnet
und hinken der Zeit hinterher.“
         
Und immer wieder gleiten die Zeilen ins Requiem, ins Zusammenfassen, ins Bilanzziehen. Diese Bilanzen sind voller poetischer Schnörkel und ihr Ton ist schwer zu diagnostizieren: tieftraurig oder nur lakonisch? Klar ist dennoch: es geht um die ständige Begegnung mit dem Ende, das einem bei all der Fülle, die einen umgibt – in all dem, was man denkt und ausdrückt – wie ein Nichts vorkommt.

Elias Canetti schrieb ein Buch gegen den Tod; in einem Interview mit André Müller sagte er, es sei eine Frechheit, wenn ein Mensch sich mit dem Tod abfinde, nur weil alle anderen vor ihm sich damit abgefunden hätten. Die Stoiker auf der anderen Seite lehrten, man solle den Tod hinnehmen, ihn geradezu freudig begrüßen, ihn zumindest nicht fürchten. Seneca schreibt in einem seiner Briefe an den Lucilius: „Nach meinem Leben wird das sein, was vor meinem Leben war. Ich fürchte nicht, woher ich gekommen bin, mir scheint auch, mir ist dort kein Leid geschehen. Warum sollte ich fürchten, wohin ich gehe?“

Michael Krügers Band bewegt sich ein bisschen in der Mitte dieser Positionen; vertritt mit seinen Gedichten, so könnte man sagen, die menschliche Dimension und keine philosophische. Wobei seine Verse dann und wann etwas Absolutes, fast schon Prägnantes haben, das wie eine philosophische Doktrin wirkt.

„Wie das Paradies aussieht?
Die Welt ist so angefüllt mit Elend, dass der Gesang
erfunden werden musste, auch wenn er keine Lösung ist.
Es gibt keine Lösung, auch das Schreiben ist keine.“

„Wir brauchen ein Leben,
sagt er, um zu begreifen, was ein Fremder
mit einem Blick erkennt, dass wir nämlich
so unbedeutend sind wie alle anderen auch.“

Die Gedichte des mittleren Teils sind unterwegs, in vielen unterschiedlichen Städten, entstanden. Hier werden die Züge manchmal weicher. Zwar sieht sich das lyrische Ich auch auf Reisen mit der Ausweglosigkeit seiner Lage als gealterter Mensch konfrontiert, bei dem Neugierde, Empfindung und Hoffnung nicht nachlassen, der aber spürt wie sie ins Leere zu laufen drohen. Aber statt diesem Verhängnis nur zu begegnen, es nur zu benennen, wird es an diesen Orten durch die vielen neuen Eindrücke aufgebrochen, in ihnen gespiegelt und manchmal aufgelöst.

Was darauf hinausläuft, dass man sie wiederlernt:

„Die alte Kunst, Widersprüche auszuhalten,
um das Unverständliche der Schönheit
zu erfahren“

Diese Kunst ist:

„vergessen wie manches Handwerk
oder überflüssig wie das Recht auf Wunder.“

Ebenfalls wichtig für diesen Band sind die Steine und das Gras, Symbole für das ruhende Leben, das Bleibende und Wiederkehrende. Sie erscheinen als schwacher Trost, als Verkörperung der Tatsache, dass alles an seinem Platz ist, dass die Ewigkeit letztlich in den unbeweglichsten Dingen liegt, zu denen man nicht gehören kann und wohl auch nicht will.

„Nimm das Gras, das hilflose Gras
in die Hand, bevor du es schneidest.
Oder, als gnostische Übung, leg den Stein
zurück auf die Wunde, die er am Boden
hinterließ.“

Bei all diesen Zitaten könnte man meinen, es ginge in dem Band allein um das Verwinden des Vergehens, um eine Vorbereitung auf den Tod. Natürlich ist Schreiben, wie Joseph Brodsky einmal in einer Rede vor Universitätsstudierenden sagte, immer eine Vorbereitung auf den Tod, eine Übung im Sterben.

Mitunter wirkt es auch so, als wäre eine solche Einübung Krügers Sujet. Der Tod wird so oft angerufen, entdeckt, und seine Zeichen und seine Macht werden so klar herausgearbeitet, dass man es aus mancher Zeile förmlich flüstern hört: Ich weiß, ich weiß, ich bin nicht bereit, ich versuche es ja.

„Das Meer spült Briefe an Land,
frankiert mit Schnee, geheime
Nachrichten für die Zeit
nach dem Tod.
[…]
Was wir sagen, haben die Toten gespürt,
was wir wissen, wissen wir von ihnen.“

Und letztlich sind die Gedichte doch Lebensberichte. Berichte voll Bedauern, aber auch voller unweigerlicher Erinnerungen, erklingender Lebensnoten. Voller Spiele, die vielleicht nicht mehr gespielt werden können, deren Regeln man aber noch kennt, deren Spaß man noch versteht.

Und seltsamerweise sind es auch die Momente der Bitterkeit, des zynischen bis ironischen Seitenhiebs, der Befürchtung, die den Gedichten etwas nachhaltig Lebendiges verleihen. Vermutlich, weil die Gedichte dadurch, bei aller Tristesse, sehr wach wirken und das lyrische Ich nach wie vor sehr involviert. Die Distanz, die mit all dem Wissen, all den Hinweisen auf die Sterblichkeit heraufbeschworen wurde, wird dadurch wieder verkürzt, die Welt schnellt wieder heran. Noch lebt man und egal ob man dem Tod begegnet oder einem Vogel oder einem Freund: noch ist alles in Bewegung.

Noch einmal Brodsky. Der schrieb über die Gedichte von Konstantin Kavafis (auf die Endzeile eines Gedichtes von Peter Huchel Bezug nehmend): „Gedenke meiner, flüstert der Staub. Und es klingt darin an, dass, wenn wir von der Zeit etwas über uns lernen, umgekehrt die Zeit vielleicht auch etwas von uns lernen könnte. Was das wäre? Das wir zwar an Bedeutung geringer sind, sie aber an Empfindungsvermögen übertreffen.“

„Es gibt eine Art von Gedichten,
hinter denen man sich verstecken kann,
und andre, die einen zeigen.“

Krügers Gedichte haben beide Qualitäten. Man kann sich hinter ihnen verstecken, sich mit ihren Gewissheiten verzahnen. Aber sie zeigen, unvermittelt oder sanft, auch auf, was in uns liegt, verschlungen und glatt zugleich. Etwas, das von überallher und von nirgendwo kommt. Das uns die Möglichkeit gibt, einen Ausdruck für uns zu finden, für die Welt, in der wir existieren, für den Schatten hinter uns und das Licht, das unter manch verschlossener Tür hervorkommt.

Man kann es auch einmal einfach sagen: In Michael Krügers Gedichten kämpft die Existenz mit ihren eigenen Konditionen. Oft unterliegt sie ihnen, aber ihr gelingen auch Erfolge, Ausblicke, meist an kleineren Schauplätzen, versteckt oder geschützt, wo nur eine Rolle spielt, das man am Leben ist und sieht und fühlt und spürt.

„Unter meinem Baum
ist die Schönheit versteckt,
graben ist sinnlos: Man siehst sie
nicht, man muss sie erzählen.“


Michael Krüger: Einmal einfach. Gedichte. Berlin (Suhrkamp Verlag) 2018. 130 Seiten. 20,00 Euro.
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