Michael Braun: Zirkusdirektor der modernen Poesie
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Zirkusdirektor
der modernen Poesie
Zum 100.
Geburtstag von Walter Höllerer
Von Michael
Braun
„Ich werde
verreisen in alle Länder und werde dann nach Hause kommen und einen Zirkus gründen
und dann schreibe ich ein Buch.“ Walter Höllerer, der diese Sätze als
Elfjähriger in sein Aufsatzheft schrieb, hat Wort gehalten. Der größte
Netzwerker und Kommunikator in der deutschen Literatur der 1960er Jahre hat
viele Länder in poetischer Mission bereist und hat letztlich auch den
Literaturzirkus neu begründet. Der am 19. Dezember 1922 in Sulzbach-Rosenberg
in der Oberpfalz geborene Walter Höllerer war mehr als nur ein Schriftsteller
und Literaturprofessor. Er war eine medientechnisch hochkreative Kraftstation,
von der nahezu alle relevanten literarischen Initiativen in den 1960er und
frühen 1970er Jahren ausgingen – mit erheblichen Folgen für das literarische
Leben in der Bundesrepublik. Die Infrastruktur des heutigen Literaturbetriebs,
seine Rituale mit moderierten Lesungen in eigens eingerichteten
Literaturhäusern sind ohne seinen Erfindergeist nicht denkbar.
Als er 1952
mit seinem Gedichtband „Der andere Gast“ debütierte, wurde er noch als Shootingstar
der Lyrik gehandelt, auf poetischer Augenhöhe mit Paul Celan und Ingeborg
Bachmann, die in diesen Jahren mit „Mohn und Gedächtnis“ und „Die gestundete
Zeit“ epochale Debütwerke vorgelegt hatten. Höllerer aber war zu neugierig und vor
allem zu ideenreich, um sich auf eine herkömmliche Dichter-Karriere mit all
ihren Unsicherheiten einzulassen. Nach der von ihm lancierten Gründung der
Literaturzeitschrift „Akzente“ im Februar 1954 folgte eine literaturorganisatorische
Großtat auf die andere. Mit seinen Lesereihen „Literatur im technischen
Zeitalter“ und „Ein Gedicht und sein Autor“ machte er Poesie ab 1961 zum
öffentlichen Ereignis. In der Berliner Kongresshalle und in Hörsälen der TU
Berlin, wo er 1959 zum Ordinarius für Germanistik berufen worden war, strömten
bis zu 1500 Leute zusammen, wenn Höllerer dort seine von ihm eingeladenen
Autoren vorstellte. Wie selbstverständlich wurden diese Lesungen dann im TV
ausgestrahlt, die Fernseh-Präsenz der Gegenwartsliteratur war nie größer als in
dieser Zeit. 1963 gründete er mit Hilfe der Ford Foundation das „Literarische
Colloquium Berlin“, das er als kreative Alternative zur männerbündischen Gruppe
47 verstand und das wir auch heute noch gelegentlich als Thinktank für
innovative Literatur erleben können. In der gegenwärtig zaghaften und in
zahllose Communities und Kanäle partikularisierten Lyrik-Diskussion wird kaum
mehr wahrgenommen, was als die größte Leistung Höllerers gelten kann. In
Lyrik-Anthologien wie „Transit“ (1956) oder „Junge amerikanische Lyrik“ (1961),
mit seinen „Thesen zum langen Gedicht“ (1965) und mit Poetik-Sammelbänden wie
„Theorie der modernen Lyrik“ (1965) öffnete er der deutschen Dichtung das Tor
zur internationalen Moderne.
Zu seinen
wirkungsmächtigsten Interventionen gehören sicherlich seine „Thesen zum langen
Gedicht“, die eine lange erhitzte Debatte auslösten: „Im langen Gedicht bauen
wir, aus den verschiedensten Wahrnehmungen, eine mögliche Welt um uns auf,
sparen uns aus und erreichen auf diesem Weg, dass wir sichtbar werden. – Doch
dies ist nur möglich mit freierem Atem, der im Versbau, im Schriftbild Gestalt
annimmt. Ich werde mir sichtbar.“ Diese Passion für den „freieren Atem“ hatte
Höllerer damals von dem großen Amerikaner Charles Olson adaptiert, dessen
„Black Mountain College“ in North Carolina dann auch Vorbild für die Gründung
des LCB wurde. Karl Krolow reagierte damals sehr säuerlich auf Höllerers Thesen
und Günter Eich machte sich lustig darüber, indem er sehr kurze „lange
Gedichte“ schrieb. So findet sich in Eichs Band „Anlässe und Steingärten“
(1966) in der Abteilung „Lange Gedichte“ der herrliche Vierzeiler zum amerikanischen
Poeten Hart Crane, der sich im April 1932 das Leben nahm, indem er von Bord
eines Passagierschiffes sprang: „Mich überzeugen/ die dünnen Schuhe, der/
einfache Schritt über Stipendien/ und Reling hinaus.“
Zum 100.
Geburtstag Höllerers hat nun der Literaturwissenschaftler Heribert Tommek, der
seit 2014 auch Leiter des von Höllerer selbst gegründeten Literaturarchivs
Sulzbach-Rosenberg ist, alle Verdienste des großen Literatur-Impresarios in
seiner Werkstudie „Flecken“ zusammengetragen. Das Buch konzentriert sich auf
Höllerers Poetik der Augenblicks-Wahrnehmung und seine „Topographie des
Gegenwärtigen“, seine biografischen Stationen werden nur gestreift. An einigen
Stellen geht Tommek aber auch auf das biografische Trauma Höllerers ein. In
seinem Gedicht „Ich sah ich hörte“ (von 1964) reagierte Höllerer nämlich auf
den Schock, den er als Soldat der Wehrmacht im März 1943 im besetzten
Griechenland erlebte. Von einem Lastwagen aus beobachtete er damals die
Erschießung von zwanzig zivilen Geiseln unmittelbar vor dem Berg Hymettos bei
Athen. Die Verbrechen des deutschen Vernichtungskriegs, glaubt Tommek, haben
Höllerer zeit seines Lebens verfolgt und seien der eigentliche Antrieb seines
Schreibens gewesen. In Höllerers Tätigkeit als „Horch-Funker“ beim
militärischen Nachrichtendienst ist, so Tommek, bereits der Zeichen-Entzifferer
angelegt, der später mit großer Leidenschaft die Zeichensysteme des
„technischen Zeitalters“ untersuchte. Der Schriftsteller Höllerer trat im Lauf
der Zeit immer mehr zurück hinter den Literaturvermittler. Fünfzehn Jahre lang
mühte er sich ab mit seinem epischen Hauptwerk, dem Roman „Die Elephantenuhr“.
Als er dann 1973 bei Suhrkamp endlich erschien, war das Echo äußerst mau. Aber
Höllerer machte weiter. Seine Kraft reichte noch viele Jahre; 2003 starb er in
Berlin. Wer das Glück hatte, diesem charismatischen Literaturvermittler zu
begegnen, konnte sich immer an seinem befreienden Lachen stärken. Mit diesem
Lachen, das zu seinem Markenzeichen wurde, hat er die moderne Poesie zugänglicher
gemacht.
Heribert
Tommek: Flecken. Walter Höllerer und die Epiphanien der Moderne. Edition
Text+Kritik, München 2022. 190 Seiten, 29 Euro.