Michael Braun: Verlorensein als Weltgefühl. Die Sehnsucht der Emmy Hennings
Michael Braun
VERLORENSEIN ALS WELTGEFÜHL
Die Sehnsucht der Emmy Hennings
„Mein Gott, mein Gott, warum hast Du mich verlassen.“ Die Frage des sterbenden Jesus Christus bezeichnet die Situation äußersten Verlorenseins, in der eine Rettung aussichtslos scheint. Diesen flehentlichen Satz vom Verlassensein notiert auch die Dichterin, Tänzerin und Sängerin Emmy Hennings (1885-1948), als ihr im Juli 1914 eine traumatische Erfahrung zustößt: Sie, die Diseuse und Muse der Münchner Bohème, für die das Ungebundensein das Lebenselixier ist, wird wegen Beischlafdiebstahls, begangen an einem Freier in Hannover, in der Justizvollzuganstalt Neudeck in München inhaftiert. Es ist ein Schlüsselerlebnis vom Verlassen- und Ausgesetztsein, das sie nie verwinden wird. In einem zweiten Verfahren wurde sie dann noch im Februar 1915 in „militärische Schutzhaft“ genommen, da man sie der „Fluchthilfe“ bei der Desertion des Anarchisten Franz Jung verdächtigte. Dreimal wird sie Anlauf nehmen, um die Chronik ihrer Haftzeit, die insgesamt etwa drei Monate währte, aufzuzeichnen. Nur ein Manuskript wird zu ihren Lebzeiten veröffentlicht, der atemlos protokollierte Roman „Gefängnis“, der nach langen Verhandlungen 1919 im Berliner Verlag Erich Reiß erscheint. Zwei weitere Fassungen des Manuskripts, die Romane „Das graue Haus“ und „Das Haus im Schatten“, an denen Emmy Hennings in den 1920er Jahren arbeitete, finden dann keine Verleger mehr. Das Drama des Verlassenseins, das die Inhaftierung in München auslöste, ist nun im ersten Band der kommentierten Studienausgabe von Emmy Hennings´ Werken akribisch dokumentiert. Die Herausgeberinnen Christa Baumberger und Nicola Behrmann haben hier eindrucksvoll belegen können, wie sehr diese Verlassenheitssituation im Gefängnis das tragische Weltgefühl der Emmy Hennings verstärkt hat.
„Verlorensein ... ist dies das Ziel?“ Diese Frage hat Emmy Hennings in ihrem späten Gedicht „Das flüchtige Spiel“ gestellt – bereits schon ihre frühen Lebenslinien führen indes zur Urszene der Verlassenheit. Aus der Geborgenheit des kleinbürgerlichen Elternhauses in Flensburg war Emmy in die unstete Welt der kleinen Theaterbühnen und der Wanderschauspielerei aufgebrochen, hatte früh ein Kind geboren, der Vater verschwand über Nacht. Dann begann ihre jahrelange Tour durch Cabarets, und mit ihr die Erfahrung grundlegender Orientierungs- und Haltlosigkeit. Dem „Todesengel“ begegnet sie zum ersten Mal 1910, als sie nach den kräftezehrenden Jahren als Wanderschauspielerin an Typhus erkrankte. Als die Krise überlebt, konvertiert sie zum Katholizismus. Was sie dann 1913 als ihr Weltgefühl aufzeichnet, kehrt auch später in ihren Liedern im „Cabaret Voltaire“ wieder: ein dunkler Gesang der Verlassenheit und Todesbeschwörung: „Mir ist, als ob ich schon gezeichnet wäre / Und auf der Totenliste stünde. / Es hält mich ab von mancher Sünde, / Wie langsam ich am Leben zehre! // Und ängstlich sind of meine Schritte, / Mein Herz hat einen kranken Schlag / Und schwächer wird’s mit jedem Tag. / Ein Todesengel steht in meines Zimmers Mitte. // Doch tanz ich bis zur Atemnot. / Bald werde ich im Grabe liegen, / Und niemand wird sich an mich schmiegen. / Ach, küssen will ich bis zum Tod.“
Emmy Hennings´ Gedichte haben von Beginn an einen Zustand der Selbstauflösung aufgezeichnet, den Absturz im Drogenrausch und in ewiger Sündhaftigkeit. Sie sind in ihrem konventionellen Versbau in Volksliedstrophen weit entfernt vom Wörterschamanismus ihres Mannes Hugo Ball, weit entfernt auch von den radikalen Formzertrümmerungstechniken ihrer dadaistischen Weggefährten. Die Literaturgeschichte rubriziert Emmy meistens als Gründerfigur des Dadaismus, da sie mit ihrem Mann Hugo Ball im Februar 1916 das legendäre „Cabaret Voltaire“ eröffnete. Als Dichterin ist Emmy freilich keine Dadaistin, sondern eine Spätromantikerin. Ihre Gedichte sind erschütternde Litaneien der Selbstverneinung und einer fortdauernden Selbstbezichtigung im Blick auf ein als sündhaft empfundenes Verhalten im Alltag, das die konvertierte Katholikin nicht billigen mochte. Auch nach ihrer Konversion war Emmy Hennings nämlich auf Gelegenheitsprostitution angewiesen, um gemeinsam mit ihrem Lebensgefährten Hugo Ball und ihrer Tochter Annemarie zu überleben.
Ihre Zeit im Gefängnis hat ihr Bewusstsein der eigenen Sündhaftigkeit weiter verstärkt. So haben sich in ihren Roman „Gefängnis“ auch jene anrührenden Sentenzen zum quälenden Schuldgefühl eingeschrieben, auf die auch viele ihrer Gedichte zulaufen: „Ich brauche meine Sünde nicht zu suchen, denn meine Sünde fällt zu sehr auf, weil nur Sünde da ist. Ich habe Schuld. Nur ich habe Schuld. An unendlich vielem. Vielleicht an allem.“ Das ist die dunkle, von einer religiösen Daseinsangst getragene Grundmelodie im Werk von Emmy Hennings – das Eingeständnis einer unaufhebbaren Schuld und die Negativierung der eigenen Persona. Eine Tagebuchnotiz von 1919 resümiert auf erschütternde Weise diese Poetik der Ich-Verneinung: „Ich bin nur Sünde und Sehnsucht ... Was in mir ist, möchte ich wegwerfen, ignorieren, verbrennen, verfliegen sehen. Daher wünsche ich, nicht beachtet zu sein. Ich bitte, meine Bitte, mich zu lieben, NICHT zu erhören, denn ich bin nicht wert, geliebt zu werden.“ Dieser Daseinsverneinungs-Schmerz tönt uns aus fast allen Texten dieser Poetin entgegen, der wir einige der schönsten Liebesgedichte in deutscher Sprache verdanken. Es ist höchste Zeit, dass fast siebzig Jahre nach ihrem Tod endlich eine Ausgabe ihrer gesammelten Gedichte erscheint.
Emmy Hennings: Gefängnis/ Das graue Haus/ Das Haus im Schatten. Hrsg. u. kommentiert von Christa Baumberger und Nicola Behrmann. Wallstein Verlag, Göttingen 2015, 576 S., 24,90 Euro.
Regina Bucher/Bernhard Echte (Hrsg.): Emmy Ball-Hennings. Muse Diseuse Dichterin. 2. Erw. Aufl., Nimbus Verlag, Wädenswil 2015, 90 S., 14,80 Euro.
Bärbel Reetz: Das Paradies war für uns. Emmy Ball-Hennings und Hugo Ball. Insel Verlag, Berlin 2015, 480 S., 16,99 Euro.