Michael Braun: Der letzte Lyrik-Enthusiast
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Michael
Braun
Der letzte
Lyrik-Enthusiast
Peter Hamm ist
tot
Dieser
leidenschaftliche Lyrik-Enthusiast und große Literaturkritiker kam aus einer
Epoche, die heute schon wieder versunken ist. Peter Hamm, 1937 in München
geboren, verließ im Alter von 14 Jahren die Schule, lebte aber schon früh in
engem Kontakt mit den wichtigsten Lyrikern seiner Zeit. Bei Nelly Sachs und
Elisabeth Borchers suchte er Trost – und gleichzeitig Anerkennung für seine
eigenen Gedichte, die bereits ab 1954 in den führenden Zeitschriften und
Anthologien der Nachkriegszeit erschienen. In einem Alter, da heute für viele
das Smartphone die einzige Lesebühne ist, hatte er bereits eine erste Karriere
als genialischer Jungdichter absolviert. Er debütierte als 17jähriger in den
„Akzenten“ und profilierte sich in Walter Höllerers legendärer Anthologie
„Transit“ (1956) und Wolfgang Weyrauchs „Expeditionen“ (1959).
Peter Hamm
hatte früh seine Mutter verloren. Sie starb bei Kriegsbeginn an Diphterie, mit
der sie durch ihn angesteckt worden war. Dieser Verlust blieb mit dauerhaften
Schuldgefühlen belastet. Der Vater schob ihn ab in katholische Internate, in
denen er von rigiden Erziehern gepeinigt wurde. So wurde ab 1957 die spätere Literaturnobelpreisträgerin
Nelly Sachs für ihn zu einer Heiligenfigur, eine jüdische Mutter, die ihn
beschützte und der er mitunter auch mit Selbstmorddrohungen zusetzte, um ihre Aufmerksamkeit
zu erzwingen.
In den
sechziger Jahren vollzog der genialische Jungdichter einen spektakulären
Positionswechsel. In seiner Lyrik-Anthologie „Aussichten“ forderte er 1966 in
marxistischer Diktion die „Wiederentdeckung der Wirklichkeit“ und den Primat
der Politik vor der Poesie: „Die heute Zwanzig- bis Dreißigjährigen haben es
nicht mehr nötig, Realität zu >verdrängen<, weil sie mit keiner
verfehlten Vergangenheit belastet sind. Dazu kommt, daß die äußere Umwelt gut
zwanzig Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg schon wieder so bedrohliche Züge
angenommen hat, daß sich mancher, der sich lieber ins Labor zurückziehen würde,
aufgerufen fühlt, stattdessen die Straße aufzusuchen und den öffentlichen
Platz.“ Zwanzig Jahre lang schrieb Hamm nach dieser Positionierung für den
„Realismus“ keine Gedichte mehr. Als dann 1982 sein Gedichtband „Der Balken“
erschien, war er bereits auf seinen Status als Großkritiker festgelegt. In anrührenden Porträtfilmen widmete er sich
seinen literarischen Hausheiligen Robert Walser, Ingeborg Bachmann und Peter
Handke. Viele Jahre arbeitete Hamm als Redakteur für den Bayerischen Rundfunk,
bis zuletzt war er einflussreiches Mitglied in diversen Jurys und beim
„Literaturclub“ des Schweizer Fernsehens. „Zur Kunst des Unmöglichen bekenne
ich mich“, zitierte Hamm einmal den schwedischen Dichter und Mystiker Gunnar
Ekelöf. In der literaturkritischen Erkundung dieser „Kunst des Unmöglichen“ hat
Peter Hamm, der am 23. Juli mit 82 Jahren gestorben ist, Großes geleistet.