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Metonymie

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Dirk Uwe Hansen

was poesie kann



Ich muss gestehen, dass ich mich mit gemischten Gefühlen an die Lektüre dieses Bandes gemacht habe. Selbstauskünfte von Dichterinnen und Dichtern - das macht mich natürlich in hohem Maße neugierig, allerdings zugleich auch etwas besorgt: Wie leicht wird aus Selbstbeschreibung Selbstdarstellung und aus Selbstdarstellung Selbststilisierung! Man denke an E.A. Poes "Philosophy of Composition" und ähnliches. Hinzu kam, kaum dass ich das Buch zur Hand genommen hatte, der reißerisch formulierte Klappentext "Die Autorinnen und Autoren - darunter viele der wichtigsten Stimmen der jungen wie der älteren Generation ...". Selbststilisierung im Verbund mit Kanonbildung? Statt "Was Dichtung kann" Essays zu "Was Dichtung soll"? Zum Glück: Nein - das wird spätestens bei der Lektüre von Konstantin Ames´ Kampfschrift gegen an die Dichtung herangetragene Forderungen klar. Und dafür, dass meine Befürchtungen sich bei der Lektüre der "Metonymie" in Luft aufgelöst haben, bin ich den hier versammelten Autorinnen und Autoren (die den Klappentext entweder nicht kannten, oder sich von ihrer Bedeutung als "wichtigste" Stimmen nicht im geringsten haben beeindrucken lassen) und dem Herausgeber Norbert Lange höchst dankbar.

Die große Stärke des Bandes liegt zum einen darin, dass Lange die Beiträger_innen eben nicht alle auf die gleiche(n) Frage(n) antworten lässt (knapp dreißig unterschiedlich originell ausgefüllte Fragebögen - das war auch eine meiner Horrorvorstellungen), sondern die Frage nach den Bedingungen für ihr künstlerisches Schaffen entweder so offen oder so individuell auf die Einzelnen zugeschnitten gestellt hat, dass tatsächlich vollkommen unterschiedliche Gedichte, Reflektionen, Kampfschriften, Berichte und allerlei mehr dabei herausgekommen sind. Dass nun diese so unterschiedlichen Texte in der hier vorgelegten Anordnung auch noch ein stimmiges Ganzes ergeben, das ist eine große Herausgeberleistung.

Mit ganz unterschiedlichen Mitteln und aus ganz unter-schiedlichen Blickrichtungen gehen die Beiträge der Frage nach den Bedingungen für das Entstehen von Poesie, nach den Abläufen beim Schreiben eines Gedichtes, nach der historischen Einordnung zeitgenössischer Dichtung wie nach ihren Perspektiven, nach der Möglichkeit von Poesievermittlung und -betrachtung, ja nach dem Wesen des Textes an sich nach. Das geschieht zum Teil in Echtzeit, wenn wir etwa Elke Erb und Crauss dabei verfolgen können, wie ihre Gedichte entstehen, zum Teil rückblickend, wenn etwa Brigitte Oleschinski zu einem ihrer Gedichte (oder dem, was davon übrig ist) zurückkehrt oder Mara Genschel den Prozess vom Anlass bis zur Aufführung eines Gedichtes nachzeichnet.

Was ist und woraus entsteht Poesie? Auch diese Frage wird unterschiedlich beantwortet: Léonce W. Lupette reflektiert über die Interferenzen zwischen verschiedenen Sprachen, Barbara Felicitas Tax begibt sich auf eine Bildungsreise durch die Geschichte der Poetik, Johann Reißer verfolgt Brinkmann, Kling und Köhler bei ihrem Umgang mit Sprachaufzeichnungsmedien.

Immer wieder ist es das Material und das Werkzeug, das untersucht wird. Uljana Wolf schlägt einen Bogen von der Erfindung des Korrekturpapiers zur Geschichte der erasure-Poesie, Adrian Kasnitz untersucht den Dichtungsapparat, die Instrumente des Dichters, Martin Lechner drei Filme als (Erinnerungs-)Material, Georg Leß - in einem geradezu platonisch anmutenden Dialog - den Horrorfilm als Ausgangspunkt für lyrisches Schaffen, Swantje Lichtenstein wagt sich gleich an ein ABC des Dichtens, Volker Sielaff untersucht die Wechselbeziehungen zwischen Alltag und Gedicht. Stan Lafleur und Thorsten Krämer reflektieren in autobiographischen Skizzen über die Entstehung und Präsentation von Texten.

Überhaupt: der Präsentation und Darstellung lyrischer Texte wird immer wieder nachgegangen. So führt Hartmut Abendschein die Entstehung eines Lyrik-Blogs als eines Organismus vor Augen, Sabine Häusgen untersucht die poetische Performance am Beispiel von Dimitrij Prigovs Gedichten, Martina Hefter den Raum des Gedichtes im Sprechen, Simone Kornappel und Angelika Janz die Gestalt des Gedichtes als geschriebenes Werk, Birgit Kempker die Inszenierung eines Textes.

Aber nicht nur aus der Sicht von Autoren, auch aus der Sicht des Lesers wird Poesie betrachtet: Bertram Reinecke führt das Nachdenken über Dichtung mit dem Musikhören zusammen, Julia Trompeter und Xaver Römer untersuchen das Lesen selbst.

Und einige der Beiträge lassen sich dann auch gleich als poetische mehr denn als poetologische Texte lesen: Ulf Stolterfoht und Monika Rinck steuern Gedichte bei, Mathias Traxler und Jinn Pogy Prosagedichte. Und doch ist diese Klassifizierung natürlich nur eine Krücke für den Rezensenten, sind nur die wenigsten der Beiträge einer 'Kategorie' eindeutig zuzuordnen, ist Pogys Text zum Beispiel zugleich Reflektion über die (typographische) Präsentation von Text, handelt Reineckes Beitrag ebenso vom Schreiben wie vom Lesen ...

So vielfältig die Stimmen in diesem Band sind, so vielfältig ist der Gebrauch, den der Leser von dem Buch machen kann. Gewiss: manche der Beiträge können einzeln gelesen werden und sind geeignet, das eine oder andere germanistische Seminar nachhaltig zu beflügeln (und ich kann nur hoffen, dass viele Seminarbibliotheken die Metonymie - möglichst gleich mehrfach - auf ihre Anschaffungslisten setzen). Wer sich für einzelne Aspekte zeitgenössischer Dichtung interessiert, mag sich einzelne Beiträge heraussuchen und selbst zu neuen Gruppen zusammenstellen. Den größten Nutzen aber hat, wer das Buch von vorn bis hinten in der von Norbert Lange vorgegebenen Reihenfolge (die nicht die Reihenfolge meiner kleinen Aufzählung ist) liest, denn so ergibt sich daraus zugleich eine Enzyklopädie zeitgenössischer Poesie, eine Handreichung für das Lesen von Gedichten, und zwar eine, die auf dieses Lesen neugierig macht.


Und nur für den Fall, dass bald eine zweite Auflage nötig wird (was ich natürlich hoffe): Der Text der Fußnoten könnte zum Nutzen des Lesers gern etwas größer ausfallen, der Klappentext auf Superlative verzichten, und vielleicht wäre dann ja auch noch Platz für eine Stimme (Thomas Kunst vielleicht?), die über Form, Reim und Metrum spricht.


Norbert Lange (Hg.): Metonymie. Berlin (Verlagshaus J. Frank) 2014. 220 Seiten. 13,90 Euro.

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