Merkur, Heft 5 (2022) + Sinn und Form, Heft 2 u. 3 (2022)
Rezensionen/Kritik > Zeitschrift des Monats
Michael Braun
Zeitschrift des Monats
DIE ABTRÜNNIGEN
Merkur, Heft 5, (2022)
Sinn und Form, Heft 2 u. 3 (2022)



„Man muss
den Mut haben, abtrünnig zu sein“: Ausgerechnet ein Wort des Apostels Paulus
hat Uwe Tellkamp als Maxime in seinen neuen, fast schon hysterisch rezipierten
Roman „Der Schlaf in den Uhren“ implantiert. Zwar wird der Satz im Roman auf
Seite 641 von einer in den giftigsten Farben schillernden Figur mit dem
fabelhaften Namen Eduard Eschschloraque ausgesprochen, einem linken Dandy mit
stalinistischen Neigungen. Aber wenn Eschschloraque (der im Roman als ein Double
des stalinistischen Klassizisten Peter Hacks auftritt) den Satz des Paulus
seinen intellektuellen Widersachern entgegenschleudert, dann ist hier schon der
ganze Selbst-behauptungsstolz des sich als verfemt definierenden Uwe Tellkamp darin
enthalten: „Oportet et haereses esse – Man muss den Mut haben, abtrünnig zu
sein.“
Wer sich
in den führenden deutschen Kulturzeitschriften umsieht, wird überrascht
feststellen, dass solche Selbstpositionierungen als Abtrünniger, renitenter Nonkonformist
und unbeugsamer Außenseiter immer noch einen großen Reiz ausüben auf die
literarische Intelligenz. Wenn wir etwa die zwei zentralen Essays der jüngsten
Ausgaben des Merkur und von Sinn und Form genau studieren, dann
ist doch auffällig, wie sehr sich hier an den uralten Denkfiguren einer Konservativen
Revolution abgearbeitet wird. Im Maiheft des Merkur rekapituliert
Steffen Martus noch einmal den erregten Literaturstreit, den 1993 die
Veröffentlichung von Botho Strauß´ polarisierendem Essay „Anschwellender
Bocksgesang“ im Spiegel auslöste. Zwar ist Strauß´ Essay in den drei
Jahrzehnten, die seit seiner Veröffentlichung verstrichen sind, schon
erschöpfend diskutiert und kommentiert worden. Aber im Blick auf die gereizte
Debatte um einen nationalkonservativen Autor wie Tellkamp bekommen Strauß´
Einlassungen eine unheimliche Aktualität. Der „Anschwellende Bocksgesang“ war
zu einem Zeitpunkt veröffentlicht worden, als das wiedervereinigte Deutschland
gerade von einer massiven Xenophobie erfasst war und in Hoyerswerda und in Rostock-Lichtenhagen
die Unterkünfte von Asylbewerbern brannten. Strauß´ Essay schien da wie ein
Brandbeschleuniger zu wirken. Mit seinem Zugriff auf Reizvokabeln wie
„Sittengesetz“, „Kräfte des Hergebrachten“ oder gar „Blutopfer“ rührte Strauß
an äußerst fragwürdige Kategorien, ohne seine Analyse zu konkretisieren: „Daß
ein Volk sein Sittengesetz gegen andere behaupten will und dafür bereit ist,
Blutopfer zu bringen, das verstehen wir nicht mehr und halten es in unserer
liberal-libertären Selbstbezogenheit für verwerflich.“ Mit seiner Tirade bezog
sich Strauß in identifikatorischer Absicht auf einen geistigen Raum, der seit
den 1920er Jahren von den Denkern der Konservativen Revolution markiert
wurde. Die Stunde der wahren Poesie beginnt auch für Strauß – wie für Uwe Tellkamp
heute – mit dem „Mut zur Sezession“. Die Sehnsucht nach einer Bindekraft von
nationalen oder „sittengesetzlichen“ Ordnungen und nach einer entschlossenen
Dissidenz gegenüber dem mainstream hat nach wie vor Konjunktur und
findet Anhänger, die sich dann in ihrer scheinhaften Exklusivität ihres
ästhetischen Widerstands einrichten. Ein Beispiel für eine bewundernde
Rezeption der Denkfiguren der Konservativen Revolution liefert auch das
März/April-Heft von Sinn und Form. Hier werden in einem Aufsatz des
Germanisten Nils B. Schulz in einer doch irritierenden Insistenz die Autoren
einer „konservativen Achse“ aufgerufen, die sich einig sind in ihrem
selbstglorifizierenden Habitus, als Kämpfer „auf verlorenem Posten“ zu stehen.
Gemeint ist die Tradition eines dezidiert konservativen Denkens, das sich
selbst als reaktionär bezeichnet: Die zitierten Autoren sind Rudolf Borchardt,
Martin Heidegger, Ernst Jünger, Nicolas Goméz Davila und Botho Strauß. Uwe
Tellkamp fehlt vorläufig in dieser Reihe, wäre aber ohne große Probleme hier
einzufügen. Nils B. Schulz referiert in den einschlägigen Stichworten all die
Topoi und Motive, die hier für die intellektuelle Absonderung exemplarisch
sind: „Auf verlorenem Posten, in aussichtsloser Lage trete >das Leben oft in
eine ihm sonst unbekannte Helle und Durchsichtigkeit<.“ So wird hier allzu
brav Ernst Jünger nachgebetet, und genauso andächtig werden die Dauerbrenner
der konservativen Selbstbehauptung repetiert. Der distanzierte, zurückgezogene
Außenseiter wird von Strauß als „Reaktionär“ geadelt, der gegen „die
Vergesslichkeit“ kämpft. Bei Ernst Jünger ist der edle Zurückgezogene entweder
ein „Anarch“ oder ein „Waldgänger“.
Man kennt
all diese Positionierungen, die letztlich nur der Selbsterhöhung der Autoren
dienen. Verwunderlich ist nur, dass in diesem Sinn und Form-Aufsatz
keinerlei Relativierungen und Ernüchterungen dieser Abtrünnigkeits-Postulate
vorgenommen werden. Sinn und Form hat es ja in seiner langen ruhmreichen
Geschichte immer wieder verstanden, konträre Weltanschauungen und konservative,
fortschrittsskeptische, marxistische und postmarxistische Denkfiguren zu Wort
kommen zu lassen. Der Rückblick auf all die Denker, die „auf verlorenem Posten“
zu stehen glauben, ist in diesem Fall etwas mager ausgefallen. Eine tolle
Entschädigung für Sinn und Form-Fans bietet das aktuelle Mai/Juni-Heft
(Nr. 3/2022) mit drei fantastischen Beiträgen. Der 2021 verstorbene Ingomar von
Kieseritzky ist hier mit einem überaus eleganten fiktiven Bericht über die
eigene Beerdigung vertreten. Thomas Hettche brilliert mit seiner Tübinger
Poetikvorlesung: „Männer sind sinkende Sterne“, die von einer erotischen
Filmszene mit Brigitte Bardot einen Bogen schlägt zu einigen Urtexten unserer
Literatur, etwa zu Homers „Odyssee“ und der orientalischen Erzählung von
Sindbad, dem Seefahrer. Und zu den intensivsten Gedichten, die in den
vergangenen Jahren in Sinn und Form gedruckt wurden, gehören mit
Sicherheit die weit ausgreifenden Existenz-Gesänge von Kornelia Koepsell. In
einem „Canto“ und einer „Ekloge“ bilanziert das lyrische Ich Koepsells die
Möglichkeiten poetischen Sprechens, nachdem alle Geheimnisse und „wahre Rätsel“
verschwunden sind: „Von Wüterichen werden die Wörter beäugt, / werden Mündern
entrissen, die längst erschöpft sind. / Nach düsteren Tagen verlassen die
Menschen die Wohnung./ Auch ich bin unterwegs, die Erde/ ist sonderbar
aufgeregt, und ich möchte/ glauben an neue Träger der Hoffnung.“
Merkur,
Heft 5 (2022), Klett-Cotta Verlag, 102 Seiten, 14 Euro.
Sinn
und Form, Heft 2 und 3 (2022), Postfach 21 02 50, 10502 Berlin. Jeweils 140
Seiten, jeweils 11 Euro.