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Meret Oppenheim: Husch, husch, der schönste Vokal entleert sich

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Mario Osterland


In meinem Kopf sind die Gedanken eingeschlossen wie in einem Bienenkorb

Die Gedichte Meret Oppenheims in neuer Edition



„Ich kann das nicht und will das nicht. Ich habe kein Gerippe, nach dem ich male.“ Meret Oppenheims Absage an das Serielle und somit leicht Wiedererkennbare mag nur ein Zugang zum Verständnis ihres Werkes sein. Auf formaler Ebene ist er mit Sicherheit der wichtigste. Als junge Künstlerin wurde ihr oft vorgeworfen, dass sie „keine Linie“ habe, sich ihre Bilder und Objekte viel zu sehr von einander unterscheiden würden. Damit ist sie ganz bei Marcel Duchamp, der spätestens ab 1912 die Ansicht vertrat, dass ein Künstler vielseitig bleiben, einen „Look“ unbedingt vermeiden müsse.

Doch Oppenheim, die in den 1930er Jahren zur Pariser Avantgardeszene um Duchamp und André Breton gehörte, folgte damit keinem Diktum. Sie als Schülerin oder gar „das Mädchen“ der Surrealisten zu sehen, würde ihr in mehrfacher Hinsicht nicht gerecht. Auch deshalb nicht, weil ihr unbedingter Anspruch auf Freiheit und Unabhängigkeit bisweilen sogar stärker zu sein schien als ihr eigener Wille. Zumindest scheiterten ihre Versuche, bestimmten Bildern gleichartige Werke folgen zu lassen. „Ich habe mir Mühe gegeben, das nächste war total verschieden.“

Ohnehin ist Meret Oppenheim auch heute noch vor allem für ihre Objekte, fast muss man sagen: ihr Objekt bekannt. Das Frühstück im Pelz, oder Le déjeuner en fourrure, ließ sie 1936 in die erste Liga der Avantgardekünstler aufrücken. Doch diese Ikone des Surrealismus verstellte jahre-, wenn nicht jahrzehntelang den Blick auf ihr vielfältiges Œuvre. Dazu zählen neben zahlreichen Objekten die bereits angesprochenen Gemälde, Collagen, unzählige Zeichnungen, Fotografien, Entwürfe für Schmuck und Mode sowie der Berner Oppenheim-Brunnen. Und als ob all diese Werke nicht schon Beweis genug für den neugierigen Freigeist Oppenheims wären, gibt es von ihr auch einen Korpus literarischer Werke. Dieser besteht vor allem aus Gedichten, die um einige Prosatexte ergänzt und neu editiert in der Edition Suhrkamp erscheinen.

Von Beeren nährt man sich/ Mit dem Schuh verehrt man sich/ Husch, husch, der schönste Vokal entleert sich. Der Schlussvers des titelgebenden Gedichtes ist zugleich der Name eines Bildes von 1934. Oppenheim machte es ihrem damaligen Geliebten Max Ernst zum Abschiedsgeschenk. Es zeigt sechs verschiedene Formen, die, als Zeichen deutbar, auf einer Linie aufgereiht sind, aber ins Wanken geraten. An einem Ende der Linie ist eine Kette befestigt, an der wiederum ein großes organisches Gewicht zu ziehen scheint. Vielleicht ist es mit Pelz ummantelt.

Natürlich kann diese ins Rutschen geratene Ordnung des „von Beeren genährten“ Lebens biografisch gedeutet werden. Doch es steckt mehr dahinter. Innerhalb ihres Werkes stehen sowohl Bild als auch Gedicht für das Spiel mit Veränderlichkeiten, Wechselwirkungen, Zufällen und aufgebrochenen Bedeutungszuschreibungen. Wenn es in Oppenheims Werk überhaupt so etwas wie einen roten Faden gibt, dann besteht er aus dem privaten Symbol- und Materialkanon, der trotz allem starke Bezüge zum Surrealismus aufweist. Träume, Ängste, Erotik und Gewalt lassen sich in ihren Texte ebenso oft finden wie Hunde, Hummer, Messer oder Haare. Damit lässt sie sich zumindest in der Nähe der Affekt- und Objektwelt ihrer männlichen Kollegen verstehen. So lässt sich das Gedicht Endlich leicht als ein Gemälde Salvador Dalís vorstellen.

Der Metzgerhund schnappt nach dem goldenen Ring.
Die Fee ist gut, aber der Kaffee hart und der
Granit weichgekocht wie eine Haube aus Katzenfell.
Die Knaben, die Männer, die Greise.
Sie sitzen auf der Mauer und beraten. Sie deuten in der
Runde. Die Pflastersteine springen aus dem Boden
wie Springbrunnen und machen sich in alle
Richtungen davon. Man könnte sagen, etwas stimme
nicht. Aber es sind nur die geheimen Kräfte,
die man schon seit heute früh erwartet. Die Steine
fliegen bis zur Küste des Nordmeeres, wo sie an
den silberglänzenden Fäden hängen bleiben.
Sie schaukeln in der Morgensonne.


Allerdings braucht Oppenheim nicht immer den großen surrealistischen Bahnhof. Auch mithilfe nur minimaler Brüche in einer fast realistischen Idylle schafft sie es, große Fiktionsräume zu erzeugen.

Die Wiesen und der Wald sind fast nicht mehr sichtbar,
der Nebel verbirgt die Felder, wo vergessene Ernten
ihre Körner fallen lassen. Die Nachtsonne legt sich auf
eine honigfarbene Wolke.
Ihre Skeletthand hängt herab, und durch ihre Finger
fließen die Wellen des Schattens. Am Waldrand bittet
ein verirrter Jäger die Hirsche um ein Glas Wasser.
Alles ist so still.


Man irrt sich nicht, wenn man in diesen Zeilen auch Anklänge an die deutsche Romantik wahrzunehmen glaubt. Denn neben all dem Surrealismus, der intensiven Auseinandersetzung mit Carl Gustav Jungs Traumdeutung und dem starken Interesse an Materialität, bildet nicht zuletzt die Romantik einen wesentlichen Orientierungspunkt in Oppenheims Texten. Sie zeigt sich in der Adaption von bzw. Hommage an Heines Fräulein am Meere,

Verlassen, vergessen –
So schwarz am Haferstrand.
Ich will die Zeit nicht messen,
Die diesen Schmerz erfand.

Die gelben Wellen schlagen
Das neue Netz entzwei.
Sie kommen, gehn und sagen:
Das arme Allerlei!


aber auch an Oppenheims lebenslangem Interesse am Kaspar Hauser-Stoff. Diesen bearbeitete sie unter anderem für eine Drehbuchvorlage, die ebenfalls in diesem Band enthalten ist. Am Entscheidendsten scheint jedoch Oppenheims Interesse an den poetischen Grandes Dames der Romantik: Karoline von Günderode und Bettina von Arnim. In dem abgedruckten Gespräch über den Briefwechsel der Dichterinnen wird vor allem Oppenheims Bewunderung für den radikalen Individualismus Bettina von Arnims deutlich. Die Verweigerung Arnims gegenüber jeglichen Festlegungen und Erwartungen beeindruckte Oppenheim nachhaltig. „Für sie war alles so trocken und verstaubt, inklusive das von ihr so gehaßte Gedicht in Reimform Fassen. Das sie natürlich ebensogut gekonnt hätte und besser als alle anderen.“ Diese geradezu werthersche Bewunderung lässt deutliche Sympathie für den romantischen Geniebegriff erkennen, der die Idee höher stellt als das eigentliche Werk.
¹ So wundert auch die Bezugnahme auf Bettina von Armin in Oppenheims Gedicht Selbstportrait seit 50000 v. Chr. bis X nicht, in dem es heißt: In meinem Kopf sind die Gedanken/ eingeschlossen wie in einem Bienenkorb./ Später schreibe ich sie nieder.

Es mag sein, dass Oppenheims Texte für sich genommen nicht immer die größte poetische Kraft entfalten. Im Zusammenhang mit ihrem bildkünstlerischen Werk sorgen sie jedoch für einen enormen Erkenntnisgewinn, letztlich für eine Hilfe, das durchaus geschlossene Ideengerüst hinter der Vielseitigkeit Meret Oppenheims zu verstehen.



¹  Im Brief vom 10. Mai 1771 heißt es im Werther: „Ich könnte jetzt nicht zeichnen, nicht einen Strich, und bin nie ein größerer Maler gewesen als in diesen Augenblicken.“ Noch deutlicher erinnert Oppenheims Aussage über Arnim an die des Conti in Lessings Emilia Galotti: „Denn aus jenem erkenne ich, mehr als aus diesem, daß ich wirklich ein großer Maler bin, daß es aber meine Hand nur nicht immer ist. – Oder meinen Sie, Prinz, daß Raffael nicht das größte malerische Genie gewesen wäre, wenn er unglücklicherweise ohne Hände wäre geboren worden?“



Meret Oppenheim: Husch, husch, der schönste Vokal entleert sich. Gedichte. Berlin (edition suhrkamp 2703) 2015. 215 Seiten. 14,00 Euro.

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