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Max Mohr: Es sei denn regenbogenwärts

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Stefan Hölscher

Max Mohr: Es sei denn regenbogenwärts. Gedichte. Baunach (Spurbuchverlag) 2020. 88 Seiten. 14,80 Euro.

Die Auflösung der Ordnung in der Strenge der Form


Wenn man ein wenig in dem von Amadé Esperer herausgegebenen und kommentierten und im Würzburger Spurbuchverlag erschienenen Band „Es sei denn regenbogenwärts“ mit Sonetten von Max Mohr blättert, fällt einem auf, dass der Seitenumfang von Erläuterung und Kommentierung, der den zweiten Teil des Buches ausmacht, umfangreicher ist als der Teil mit den Gedichten selbst. Mag dies auf den ersten Blick überraschen, so hat sich mir als Leser die wichtige Funktion des erläuternden zweiten Teils doch schnell erschlossen.
  Zwar liegt die Lebens- und Schaffenszeit des 1891 in Würzburg geborenen und 1937 in Shanghai an einem Herzinfarkt gestorbenen jüdischen Autors Max Mohr nicht gefühlte Ewigkeiten von unserer Zeit entfernt; doch abgesehen von dem generellen Phänomen des schnellen Wandels von Welt- und Sprachsicht und dem speziellen Umstand, dass Max Mohr in der Weimarer Republik zwar als bekannter Bühnen- und Romanautor, viel weniger jedoch als Lyriker wahrgenommen wurde, kennzeichnet die in dem Band versammelten Gedichte eine Grundspannung, die einordnende Erläuterungen wichtigmacht, um den heute Lesenden den Zugang zu den Texten zu erleichtern.

Max Mohrs Gedichte sprechen von Erfahrungen einer durch Krieg, Mechanisierung und Beziehungsverlust zerstörten Welt. Sie sprechen von einer Welt größtmöglicher Ordnungs-auflösung. Sie bedienen sich dabei aber einer lyrischen Form, die – wie keine zweite – für klare Struktur, Fügung und Ordnung steht: eben der Form des Sonetts. Und auch wenn die Sonettform zur Zeit Mohrs, nicht zuletzt auch durch den starken Einfluss von Rilke von vielen Autor*innen genutzt wurde, wie Esperer in seinem Nachwort betont, zum Beispiel von Johannes R. Becher, Theodor Däubler, Georg Heym, Rudolf Alexander Schröder, Georg Trakl und Paul Zech, so ist doch die Sonettform als durchgängiges Ausdrucksmedium für einen existenziellen Weltverlust von einem Autor des 20. Jahrhunderts kein Selbstläufer für unsere Lese- und Verstehensgewohnheiten. Im Gegenteil: hier könnten sich Konsistenz-, Authentizitäts- und Angemessenheitsbedenken breitmachen. Umso wichtiger sind die Erläuterungen.

Esperer nimmt in seinem durchweg klar und angenehm lesbar geschriebenen Kommentar eine Einordnung der Sonette Mohrs in den Kontext deutschsprachiger Kriegslyrik, in den Kontext des Expressionismus und den Kontext jüdischer Religion und Kultur vor. Ich habe bei meiner Lektüre zwischen den Gedichten und den Erläuterungen gependelt und konnte dadurch einen besseren Kontakt zu den Gedichten Mohrs bekommen.
    Der Band versammelt Sonette aus zwei verschiedenen historischen Phasen: die zwischen 1914 und 1917 entstandenen „Sonette aus dem Unterstand“ und die 1930/1931 geschriebenen „Sonette vom neuen Noah.“ Die Sonette aus dem ersten Weltkrieg, in dem Mohr als „Feldunterarzt“ direkt an der Front war und sich offenbar wiederholt unter Einsatz seines eigenen Lebens für das anderer eingesetzt hat, machen überdeutlich, dass Mohr – anders als andere Autoren seiner Zeit – eine entschiedene Antikriegshaltung hatte:

Fort Vaux

Ich hab kein Wasser für den trockenen Schlund
Und für die schmutz- und blutbefleckten Hände.
Dort röchelt sterbend einer schwer zu Ende,
Dort schläft ein andrer müd mit offnem Mund.

Auf Steinen liege ich. Mein Licht flackt wund
Und das Gewölbe und die nassen Wände
Voll dicker Fliegen flackern mit. Die Brände
Und Donner tiefsten Wahnsinns schlagen rund

Zugleich zeigen selbst diese durch Krieg, Vernichtung und Sterben geprägten Gedichte immer wieder auch eine andere, sehnsuchtsvolle Seite – so auch die beiden abschließenden Terzette von „Fort Vaux“:

Um mich wieder die Wirbel ihrer Qual!
Von Leichen ist die Luft dick, schwül und fahl –
Wie wagst Du Dich hierher, verirrter Traum?

Und doch… mir träumt… Von was? Von bebender Scham
Von Harmonie, die schwellend näher kam,
Von Mondschein über einem Blütenbaum…

Die „Sonette aus dem Unterstand“ haben mich deutlich mehr beeindruckt als die „Sonette vom neuen Noah“, als den der Autor, wie er explizit mitteilt, sich selbst empfindet. Zusammenhängen mag dies damit, dass die Noah-Sonette sowohl in Hinblick auf die Ist- wie auch die Ziel-Situation, auf die sie Bezug nehmen, ziemlich diffus bleiben. In seiner „Vorrede“ zu den Noah-Sonetten spricht Mohr von der „Gesamtheit der falschen menschlichen Beziehungen, was den Mann in die Arche treibt“, was eine irgendwie immer und überall gültige und damit denn doch letzten Endes eher nichtssagende Diagnose darstellt. Auch wo die Reise der Arche hingehen soll, wird nicht recht klar. Am Ende der Vorrede heißt es: „von dem festen Lande abzustoßen, und ohne Ziel, es sei denn regenbogenwärts.“ Eine Wendung, die dem Band den Titel verliehen hat und die im Kontext jüdischen Glaubens, wie Esperer in seinem Kommentar betont, „Zeichen des Bundes zwischen Gott und den Menschen“ ist – sicher also kein Symbol, wie man heutzutage leicht denken könnte, der LGBTIQ-Community, mit der Mohr nichts zu tun hatte.

Am Ende des siebten und letzten Sonetts aus der Noah-Reihe heißt es:

Hinweg damit, hinweg jetzt die Gedanken,
die frühen Winde streichen über dich,
die Segel flattern schon und füllen sich,

die frische Woge und das frische Schwanken,
erst noch ein Zögern, dann das weite Grau,
dann schauerts euch, und dann das neue Blau.

Es dürften nicht nur rein persönliche Orientierungs- und Sinnfragen gewesen sein, die einerseits die existenzielle Verzweiflung, das Noah-Gefühl und andererseits die Unklarheit in Bezug auf die positive Bestimmung der Zielfrage in Mohr als Autor ausgelöst haben. Seismographisch dürfte der Dichter hier auch die Zeichen der sich mehr und mehr verdunkelnden Zeit gespürt haben. Was „das neue Blau“ für ihn hätte sein können, durften weder er noch wir als Lesende später erfahren, da Mohr zwar dem Naziregime entkommen und nach China fliehen konnte, dort aber, wie so viele andere jüdische Flüchtlinge (so auch der Großvater des Schreibers dieser Zeilen), in den lebensfeindlichen Bedingungen der Flüchtlingslager keine Chance auf Überleben mehr hatte. Die Reise des „neuen Noah“ endet so in einem tragischen Abgrund. Das poetische Fließen versiegte für immer und das Gedächtnis für solche Dichter schwindet bei den Nachgeborenen. Umso wichtiger, dass Esperer uns einen bedeutenden Teil aus dem Werk Mohrs wieder nähergebracht hat.


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