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Mátyás Dunajcsik: Ich will alles wissen

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Mátyás Dunajcsik

ICH WILL ALLES WISSEN


Ich will alles wissen, ich will alles wissen, ich will
  alles wissen über die fernen Galaxien in den
  Augen der neu installierten Weltraumteleskope,
  die geheimen Pläne der die Weltherrschaft
  anstrebenden Viren, die letzten Worte der
  aussterbenenden Dinosaurier, die obskuren und
  dunklen Bürorituale des Kreml und des Weißen
  Hauses, das Sexualleben der Bibliothekare nach
  der bildlichen Wende, die die Fixierung unserer
  Kultur auf die Sprache beendete und uns dazu
  brachte, mit Dick Pics statt mit Liebesbriefen zu
  kommunizieren; ich will alles wissen über die
  urzeitlichen Tempel und mythischen Schlachten,
  von denen die Katzen in ihren bequemen
  Vorstadtsesseln träumen, und auch über die
  außerirdischen Städte, Raumschiffe und
  Kreaturen, die es nie in einen Film oder ein
  Computerspiel geschafft haben, die aber nachts
  lautlos in den Hinterköpfen ihrer erschöpften
  Designer herumschwirren.

Ich will alles wissen über die durch die Weltmeere
  schallenden Liebeslieder der Blauwale, ob sie
  verschiedene Stilepochen hatten wie wir, ob sie
  eine Renaissance, einen Barock, eine klassische
  und eine moderne Periode hatten, ob es atonale
  Wale gibt und solche, die immer noch in
  Koloraturen verliebt sind, auch wenn die
  Jugendlichen heute auf Blastbeats und
  gebrochene Rhythmen stehen, und vor allem, ob
  sie schon die Polyphonie entdeckt haben; aber ich
  will auch alles wissen über die Gespräche der
  Chirurgen während zehnstündiger Operationen
  und ob sie eine besondere Musik-Playlist für
  Gehirnoperationen haben und eine andere, um ein
  abgerissenes Bein wieder anzunähen und eine
  dritte, für das Herausziehen einer
  weinflaschengroßen Darth Vader-Figur aus dem
  Arsch eines unglücklichen Fans mit viel Zeit und
  schlechtem Urteilsvermögen.

Ich will alles wissen über die Schachpartien, welche
  die entlang der Küsten Islands verstreuten
  einsamen Leuchtturmwärter über das Funkgerät
  miteinander spielten, und über das eine Mal, als
  sie ein Turnier mit ihren schottischen Kollegen
  organisierten; und auch über die Streiche, die
  blinde Kinder über das frühe Telefonsystem der
  USA spielten, nachdem sie gelernt hatten, das
  System zu hacken, indem sie einfach die richtigen
  Töne ins Festnetz pfiffen, weil sie sich
  langweilten und arm waren und ihre Eltern sich
  ständig stritten im Hintergrund und sie wurden
  nie aus dem Haus gelassen, um mit anderen zu
  spielen, also haben sie ihre eigene unsichtbare
  Flüstergemeinschaft über die Leitungen kreuz
  und quer durch das Land aufgebaut, um sich
  gegenseitig die richtigen Tonsequenzen für den
  Anruf an den Vatikan, den Stadtzoo von New
  York City, das Weltraumzentrum in Houston und
  den abgedankten Kaiser von Japan mitzuteilen.

Ich will alles wissen über die Streitereien und
   Verhandlungen der drei Kuratoren des Louvre,
   der Eremitage und des MoMa, als sie sich auf
   eine interstellare Mission begeben, um das erste
   von einer nicht-menschlichen Spezies
   geschaffene Kunstwerk auf die Erde
   zurückzubringen, und ich will auch alles wissen
   über die Streitereien und Verhandlungen
   derselben drei Kuratoren, als sie versuchen zu
   bestimmen, welche von der menschlichen Spezies
   geschaffenen Kunstwerke sie für den begrenzten
   Ausstellungsraum des letzten Schiffes auswählen
   sollen, das die Erde verlässt, nachdem sie von
   ihren Bewohnern zerstört wurde.

Ich will alles wissen über die Zeit, wie die Zukunft
   die Vergangenheit ständig umschreibt und wie
   trotzdem oder genau deswegen alles, alles, alles
   gleichzeitig geschieht, in demselben, einzigen,
   ewigen und zeitlosen Moment, den nur unser
   Geist entfaltet wie die Blätter einer vertrockneten
   Blume, die in heißes Teewasser fällt, oder die
   Blätter eines vergessenen, fast in Erde
   verwandelten, aus einem Massengrab
   ausgehobenen Gedichtbandes; und warum die
   Zeit doch ebenfalls ein geheimnisvolles Untier
   ist, das sich in unserem Körper wie eine taube
   Schlange versteckt, die einen Geruch, eine
   Melodie und eine Farbe hat und sich im Schlaf in
   unserem Inneren hin und her wälzt, bis sie uns
   entwächst und abstreift.

*

Ich will alles wissen über alle Menschen, die
   Kettenrauchenden und die Staatsgeförderten, die
   Nachtschwimmenden und die Leichenzählenden,
   die Freifallenden und die Überlebenden, die
   Denkmalbauenden und die Waldwandernden, die
   Lachenden und die Weinenden, die Wachenden
   und die Heulenden, die Flüsternden und die
   Sprachlosen, die Uralten und die Eingewanderten
   sowie die Lesenden, und auch anderen,
   insbesondere die unbesungenen Heiligen und
   Märtyrer unserer Zeit, die Kleinen und
   Unbedeutenden, unbemerkt in dem Ozean des
   Leidens, wie

Unsere Liebe Frau der Wohlbehandelten
   Unannehmlichkeit von Dresden, diese alte Frau in
   den Sechzigern mit langen grauen Haaren und
   Tourette-Syndrom, die alle zwei Minuten laut
   aufschreien muss, so dass sie zum Stammgast in
   den örtlichen Punkclubs wurde, wo die Musik
   laut ist und niemand sich über ihren Zustand
   aufregt; oder

Unsere Liebe Frau der Trügerischen Auferstehungen
  von Budapest, die weinend in einem
  Forschungsinstitut steht, während sie versucht,
  die Köpfe hingerichteter Laborratten wieder
  anzunähen, weil ihre Haustierschlange deprimiert
  ist und sich weigert, kopflose Tieren zu fressen
  und bald verhungern wird; oder

Unsere Liebe Frau des Unsichtbaren Wohlwollens
  von Zürich, von der alle dachten, sie sei eine
  Obdachlose, die ihre Tage an einen Gepäckwagen
  gelehnt in der Mitte der Zentralhalle des
  Hauptbahnhofs ihrer Stadt verbrachte, bis ein
  Journalist sie schließlich interviewte und sich
  herausstellte, dass sie eine Nonne war, die
  jehrzehtelang in aller Stille all die Millionen von
  Fahrgästen, die jeden Tag am Bahnhof an ihr
  vorbeikamen, segnete; oder

Unsere Liebe Frau der Unerschütterlichen Geduld
  von Berlin, die ich mit eigenen Augen auf einem
  Black-Metal-Konzert mit ihrem Sohn gesehen
  habe, der sichtlich geistig zurückgeblieben war
  und den sie begleitete, an seiner Seite  stehend in
  der allerersten Reihe zwischen all den jungen
  Metalheads, die halb so alt waren wie sie, in
  Sandalen und pastellfarbener Kleidung wie ein
  Fels in der Brandung aus schwarzem Nietenleder,
  Stiefeln und Band-T-Shirts, mit ihrer Handtasche
  auf der Schulter, als stünde sie in der Schlange an
  der Apotheke oder im Bürgerbüro, während auf
  der Bühne einige wie verfluchte Baumdämonen
  gekleidete Sibirische Männer über die ewige
  Verdammnis und das Ende der Menschheit auf
  Russisch grölten, ohne dass sie auch nur mit der
  Wimper zuckte, weil sie wusste, dass ihr Sohn
  neben ihr the Time of His Life hatte und das war
  das Einzige, was für sie zählte; oder

Unsere Liebe Frau der Bodenlosen Verzweiflung aus
  St. Petersburg, von der ich nur von jemand
  anderem gehört habe und deren Bild sich dennoch
  in meinem Gedächtnis eingebrannt hat und mich
  seither jeden Tag heimsucht, diese junge, aber
  plötzlich alt gewordene Mutter, die an der U-
  Bahn-Station zwischen vielen anderen stand, die
  allerlei gebrauchten Schnickschnack verkauften,
  um etwas Geld für Essen zu bekommen, die aber
  nur ein einziges Abflußsieb aus der Küchenspüle
  hochhielt, nachdem sie höchstwahrscheinlich
  akribisch alle Gegenstände ihres Haushalts auf
  der Suche nach etwas durchforstet hatte, das sie
  verkaufen und ohne das sie leben konnte; ich sehe
  sie da stehen, regungslos in der Hektik der
  überfüllten U-Bahn-Station, das Abflusssieb in
  ihrer hochgehaltenen Hand rund wie das heilige
  Sakrament und leuchtend wie der Glorienschein
  der orthodoxen Ikonen, ihr Gesicht eine Wüste
  und ihr Leid und ihre Hoffnungslosigkeit wie die
  Strahlung eines brennenden Atomkraftwerks in
  der Ukraine, die über Jahrzehnte und
  Landesgrenzen hinweg verläuft.

Ich will alles wissen über alle Menschen, auch wenn
  es mich zerstört, ich will alles wissen, auch wenn
  es mir meine hart erkämpften Worte raubt und
  mich sprachlos hinterlässt. Ich will alles wissen,
  denn wer bin ich, um zu entscheiden, was
  wissenswert ist und was nicht.

*

Ich will alles wissen über dich, egal, ob du dieses
  Gedicht jetzt liest oder zuhörst, ich will alles
  wissen über was dich nachts wach hält, was dich
  an dieser irdischen Existenz zweifeln und was
  dich trotzdem weiterkämpfen lässt. Und da ich
  schnell auf meine Vierziger zugehe, sprich dich
  aus, denn ich habe keine Zeit mehr für deinen
  Bullshit: dies ist ein Gedicht mittleren Alters, das
  genug hat von der Musik der Gespräche, bei
  denen die wichtigsten Noten die sind, die man
  nicht spielt. So come as you are, lay down your
  arms und setz dich hin, trink etwas und sag: Ich
  habe vor nicht allzu langer Zeit eine Abtreibung
  gehabt und mein Körper trauert immer noch um
  etwas, das ich von vornherein nicht gewollt habe;
  und ich werde zuhören, denn ich will alles
  wissen.

Sag: Ich brauche eine Umarmung, weil ich mich wie
  ein Gespenst in dieser Stadt fühle und ich muss
  versichert werden, dass ich immer noch da bin.

Sag: Ich bin dyslexisch und wurde nie diagnostiziert,
  ich habe mich durch alle meine Schulen gequält
  und nie richtig lesen oder schreiben gelernt, und
  niemand hat mir je gesagt, dass es nicht meine
  Schuld ist.

Sag: Ich bin ein Süchtiger, aber ich habe meine
  Kämpfe ausgefochten und brauche jetzt nur noch,
  dass man mir zuhört und mich festhält.

Sag: Ich habe jemanden verloren, den ich allen
  Grund hatte zu hassen, und trotzdem macht es das
  nicht leichter.

Sag: Ich habe meine Muttersprache verloren und es
  ist beschissen, dass meine Mutter meine Gedichte
  nicht mehr lesen können wird.

Sag: Ich habe dich zu sehr geliebt, um dir zu sagen,
  dass du mir das Leben zur Hölle machst, aber
  jetzt ist es an der Zeit, dass ich für mich selbst
  einstehe.

Sag: Mein Land wird von Faschisten und
  Kriminellen regiert, und doch sind die grünen
  Felder und blauen Seen in mir vom selben Ort.  

Sag: Ich habe dem Tod mehr als einmal in die
  Augen geschaut, aber wenn ich in deine schaue,
  sehe ich nur Leben.

Sag: Hallo. Ich bin hier und dies ist, wer ich bin, und
  ich werde zuhören, denn ich will alles wissen;

ich will

alles

wissen,

alles,

alles,

alles.



Wird im September 2023
in meinem Gedichtband Verlorene Gedichte,
von der parasitenpresse (Köln) veröffentlicht.


Mátyás Dunajcsik (*1983) ist ein queerer Autor und Performer, der Prosa, Theater und Lyrik auf Ungarisch, Englisch und neuerdings auf Deutsch schreibt. Er ist geboren und aufgewachsen in Budapest, Ungarn, wo er Ästhetik (Kunsttheorie) und französische Literatur studierte und im Verlagswesen arbeitete. Er emigrierte 2014 und verbrachte zunächst zwei Jahre in Reykjavík, wo er mit einem staatlichen Stipendium isländische Sprache und Literatur studierte, bevor er sich in Deutschland niederließ. Sein literarisches Werk wurde mit zahlreichen Preisen in Ungarn und mehreren internationalen Stipendien ausgezeichnet, darunter die Junge Akademie der Akademie der Künste (2009, Berlin). Auf Ungarisch publizierte er zwei Sammlungen von Kurzgeschichten und ein Kinderbuch, das er später selbst für die Bühne adaptierte. Sein erster Roman kam 2021 heraus und eine Sammlung seiner ungarischen Gedichte soll Ende 2023 erscheinen.
Deutsche Übersetzungen seiner Kurzgeschichten wurden veröffentlicht in: Der Boden unter Berlin (2010, Akademie der Künste, Berlin) und Unterwasserstädte (2017, Edition Solitude, Stuttgart). Im Jahr 2019 schrieb er zusammen mit dem international gefeierten ungarischen Regisseur Árpád Schilling das Theaterstück Elbfuge im Auftrag des Staatsschauspiels Dresden. In den letzten Jahren hat er sich dank der Arbeitsstipendien der Akademie der Künste (INITIAL, 2021) und der Kulturstiftung des Freistaates Sachsen (2022) intensiv mit dem Schreiben auf Deutsch beschäftigt und seine deutschsprachigen Gedichte in Zeit-schriften wie Sinn und Form, Signaturen, Ostragehege und Triëdere veröffentlicht. Sein erster deutschsprachiger Gedichtband, Verlorene Gedichte, erscheint im September 2023 bei der Parasitenpresse (Köln). Er lebt in Berlin und ist Mitarbeiter des Programmbüros der Akademie der Künste. Er begleitet seine literarischen Lesungen oft mit Loop- und Effektpedalen seiner Bassgitarre. http://dunajcsik.com
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