Matthias Weglage: Mitten in die Sinnküche
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Matthias
Weglage
Zu
Alexander Graeff: Die Reduktion der Pfirsichsaucen im köstlichen
Ereignishorizont. Berlin (Verlagshaus Berlin) 2019. 120 Seiten. 17,90 Euro.
Mitten
in die Sinnküche
Dynamisch
ist ein Stichwort, das für die poetische Arbeit Alexanders Graeffs gut passen
würde. Befragt nach seiner Poetik, antwortete er mir einmal, queeres Denken, und
dass ein Weltgefüge dieser Art des Denkens eines ohne Telos sei, ohne erklärte
Sinnausrichtungen und Zwecke, nicht klar gerichtet. Um nicht selbst zu
verkrusten, müsse diese Art des Denkens auf Normen grundsätzlich verzichten
oder in Frage stellen. Was bleibt, müsse sich seine eigenen, neuen Sensorien
der Wahrnehmung ständig selbst neu schaffen.
Es
ist daher nicht leicht, eine poetische Arbeit zu charakterisieren, die mit
einem solchen Anspruch auftritt. Denn es liegt nahe zu vermuten, dass sie auch
auf ein festes poetologisches Programm verzichten will. Doch landet nicht
Anti-Teleologie notwendig im Beliebigen? Welche Kriterien bleiben? Der
Lyrik-Debutband des Berliner Schriftstellers, Verlegers und
Literatur-vermittlers Alexander Graeff, der 2019 im Verlagshaus Berlin
erschienen ist „Die Reduktion der Pfirsichsaucen im köstlichen
Ereignishorizont“ (Verlagshaus Berlin, 2019), besitzt trotz seines starken
Ausschwingens in philosophisches Terrain und der Verwendung eines mitunter fast
essayistisch abstrakten Vokabulars auf der anderen Seite auch eine
spielerisch-artistische Gebärde, seine Gedichte wirken oft unernst, ja surreal
und scheinen sich dem Zugriff zu verweigern. „Ich möchte dir deine Tomaten karamellisieren!“
proklamiert gleich eines der ersten Gedichte des Bands, das ausgerechnet
“Zustand der Avantgarde“ heißt: „Ich möchte dir deine Tomaten karamellisieren/
Kristall am Pfannenrand begehren/ Und auch am Klang des Glockenwerks/ Erkennen
können/ : Ein Lebkuchen, das möcht ich sein!/ Mit fortbepflanzten Teilen
meines/ Zweifach zweifelhaften Dings da unten/ Gleich neben meinem Paradies.//
Körperlich vor der Kultur/ Singen meine Mechan-/Ismen Lieder Utopien.“ Ein paar
Zeilen später im selben Gedicht heißt es noch einmal: „Ein Lebkuchen, das möcht
ich sein! / Ein Ursprung in mir, ein erster./ Es bleibt der Blick auf diesen/
Intendierten Fuß gehüllt in/ Popkultur, und auf Beine eines/ Gnostischen
Apparats/ : Beseeltes Licht, das wir doch sind/ Während des Trambahnfahrens
durch die Stadt.“
Wo
ist die Avantgarde hingelangt? In Party-Stimmung und Popkultur, in leere
kulinarische Phantasien? Von welchen Mechanismen fühlt sich das lyrische Ich
beherrscht? Und inwiefern darf es dennoch beanspruchen, ein beseeltes Licht zu
sein? Und worin liegt bei alledem die Queerness? Was zunächst auffällt bei den
Gedichten, ist das wunderliche Zusammenwerfen von Begriffen wie Utopie,
Ursprung und Avantgarde mit Bildern aus der Partyküche. Wie nach einer lustvoll
unter Bohemiens durchzechten Nacht scheint das lyrische Ich auch in dem Gedicht
„espuma an folgenschweren sätzen II“ am Morgen zu erwachen : “Ein Döner
schimmelt in der Ecke/ Ein Klavier erscheint am Horizont/ Die Küche küsst ein
Zirkuszelt/ Ein Christ vergiftet uns die Lachse“. Es ist mitunter bei den
Gedichten, als ob wir uns in die Atmosphäre ausgelassener Künstler-Partys
versetzt fühlen müssen. Die Gedichte überfallen den Leser mit einem
irritierenden Spiel aus Bildern und disparaten Sinnversatzstücken, mit denen
sie offensichtlich zunächst provozieren wollen.
Die
kulinarische Bilderwelt spielt dabei zweifellos eine wichtige Rolle. Der
wunderliche Lyrik-Koch bereitet karamellisierte Tomaten, zieht Kilometer von
Zuckerwatte, bäckt Mandeleclairs, Pangasius hängt an Kastanienstreifen und
sogar an der Gardinenquaste, die Körperflüssigkeiten der Geliebten schmecken
nach Chardonnay auf Eis. „Du aber du bist eine verspielte Quaste an der
Gardinenkordel/ Ein gut geträumtes Stück Pangasius an Kastanienstreifen/ Deine
Körper-flüssigkeiten Chardonnay auf Eis“ heißt es (in: Espuma an folgenschweren
Sätzen III). In dieser bunt schimmernden Welt von Krustaden, Kuvertüren,
Pralinen und Parfaits, einer lustvollen Welt des Schmeckens, Leckens und einer
nicht selten stark erotisch aufgeladenen Sinnenverzauberung tauchen noch viel
seltsamere Tierwelten auf, Dackel, die über Dächern schweben, Seelöwen beim Gangbang,
mechanische Schweine mit Propellern, die über die Discotanzfläche rasen. Ein
sonderbares Lyrik-Fest.
Dem
Gedichtband ist ein Glossar zu kulinarischen Spezialitäten angefügt, bei denen
der mit Fremdworten überforderte Leser sich Hilfe holen darf. Doch was bedeutet
nun das Kulinarische? Das Essen kann bekanntlich zu Vielerlei Vorspiel und
Begleitung sein, zum Liebesakt, zum Fest allgemein, auf Brot und Wein reduziert
sogar als Metapher der Gottesnähe taugen. Dem Essen haftet ein Beigeschmack des
Versöhnlichen an, es söhnt Körper und Geist aus, vermittelt Freude oder
Freuden.[1] Doch anders
als etwa bei epischen Festmahlschilderungen wie in Thomas Manns „Buddenbrooks“,
bei der Darstellung bürgerlicher Festkultur und Dekadenz, oder den vielen
opulenten Esszenen in den Romanen von Günter Grass wirkt die Kulinarik dieses
Lyrikers zwar sinnenfroh, aber nicht schwelgerisch.[2] Es fällt
eine fast barocke Lust an vielfältigen erlesenen Speisen auf, aber anders als
etwa auch beim Schlaraffenlandmotiv des Märchens ist Graeffs Utopia-Schlaraffia
eher ein Gedanken-Kalkül, ein lyrisches Präparat. Es ist eine Form
konzeptueller Lyrik, die die Metaphern der Küche ganz bewusst in ihre eigene
Bilder- und Erlebniswelt hineinkomponiert. Die „Reduktion“, von dem bereits der
Titel des Gedichtbands spricht, ist ein Begriff aus der Kochkunst, er meint
„das lange Einkochen von Flüssigkeiten wie Fonds, Bratensaft oder Saucen, um
den Wassergehalt zu verringern und den Geschmack zu intensivieren.“ Der
Kulinariker ist ein Geschmackskünstler. Die Aufwertung der unschuldigen
Sinnenfreunden muss daher nicht notwendig leeres Sinnkonstrukt sein.
Bekanntlich ist das sapere der sapientia, seinem Ursinn nach, ja
nicht nur die Kunst der Weisheit, sondern zunächst auch einfach die des guten
Geschmacks.
Kulinarik
und Kulinaristik haben in den letzten Jahren eine große Aufwertung erfahren. Der
Kulinariker will die Dinge der Küche nicht zu den niedrigen Dingen des
alltäglichen Bedarfs rechnen. Er sucht das gute Leben.[3] Und
Kulinarik hat schließlich auch eine ernst zu nehmende philosophische Seite.
Kein geringerer als Friedrich Nietzsche hatte geschrieben: „... dass durch den
vollkommnen Mangel an Vernunft in der Küche ... die Entwicklung des Menschen am
längsten aufgehalten, am schlimmsten beeinträchtigt“ worden ist. (Jenseits von
Gut und Böse [234], KSA 5: 173)[4] Solange dem
Essen nur so viel Beachtung geschenkt wird als eben gerade notwendig, bewegt
sich die Kultur noch in den Traditionen der kategorischen Leibverachtung, der
platonisch-christlichen Askese. Der Antiplatonismus des Lyrikers Graeff will im
Kern den Gegensatz von Geist und Sinnlichkeit unterlaufen, sein anspruchsvolles
Lyrik-Spiel setzt auf die Lusträume der Phantasie, auf glückende poetische
Momente. Die Gedichte wollen die Sinne keineswegs nur aufs Essen schärfen:
„Sorg für erhöhte Speichelproduktion, für/ die Reduktion der Pfirsichsaucen im/
köstlichen Ereignishorizont./ Saug ganz fest daran, so kann/ ich diesen
reaktionären Rollback der/ Existenz ertragen.“ (aus: Beim Betrachten eines
Fotos von vier mittelalterlichen Altarflügeln“)
Auch
sonst fällt der existenzphilosophische Ton seiner Gedichte auf. „Fertigwerden
mit diesem Ding von Leben“ heißt es einmal lapidar - fast als Aufforderung - in
„Georg, oder: Die Begegnung mit dem Heiligen“. In dem Gedicht „Existenzphilosophische
Betrachtung meines lyrisches Ichs“ begreift sich das lyrische Ich als ein
philosophisch Zweifelndes: „Dieses Ich & zweifeln/ dieses Zweifeln &
ich“. Um welche Art zweifelnder Sinnsuche also geht es? Vor allem: wenn queere
Lyrik und Literatur, mit der der Autor sympathisiert, allgemein auch quer zu festgelegten
Normen und Inhalten des christlich-abendländischen Weltbilds, der Metaphysik
und jedes zweckgerichteten Denkens steht, fragt sich, wie sich die Gedichte
philosophisch positionieren. Nun, die Antwort ist nicht leicht, aber
jedenfalls: anti-essentialistisch. Sie wollen als Sprachspiel verführen,
performativ sein, in gewissem Sinne nur einfach frech sein und zu jenem
heiteren Olymp des Scheins einladen, von dem Nietzsche gesprochen hatte. „Da
sind Zweifel, kein Über-,/ kein Untergang, nur der/ Klang der Stimme am/
Herzkatheter dieser Sprache./ Karkassen, links und rechts/ Phänomene :
präparierte, negierte/ ein Dobermann hat sie verschluckt.“ heißt es gleich im
Geleitgedicht des Bandes. Rückgriffe auf traditionelle Bildungswelten und
Philosophie sind eher zitathaft, eklektizistisch wie etwa bei den „Beinen des
gnostischen Apparats“ in dem eingangs erwähnten Gedicht „Zustand der
Avantgarde“ mit seinem auch etwas nostalgie-lastigen Titel. Gnostisch wäre
allenfalls der Weltschmerz zu nennen, in der Konsumgesellschaft auch ständig
mit falschen Freuden konfrontiert zu sein, dass die Sehnsucht nach
unverstellter Sinnlichkeit überall an die alles zermalmende Popkultur stößt.[5]
Im
Gedicht „Das Weltfleisch-Theorem“ beschreibt das lyrische Ich eine tiefe
Sehnsucht, in die Geheimnisse der Materie zu dringen. „Gebt dem Löwen meine
Beine/ & lasst mich doch bitte bitte/ die kleinen Kieselsteine lecken.// So
fahre ich zurück/ ins Fleisch meiner Bewegung/ ohne unentzifferbare Aporeme.//
So keimt Zement in der Materie/ grüner Staub der Küchen/ & der Stoffe ihrer
Wiederkehr.// So tropft mir endlich die Bedeutung von/ Bankrott ganz langsam
ins Bewusstsein/ obwohl ich schon lange illiquid gewesen.“
In
dem Gedicht „Rhythmus und Karte“ gibt er einen Hinweis auf die Frage nach dem
eigenen poetologischen Standpunkt, indem Graeff eine Art lyrische Geographie
liefert: “Da wir versatil zusammensitzen, darf/ ich rasch berichten, was/ ich
mir schon lange wünsche auf/ die Erdkruste zu kritzeln.// Ich habe auf einer
Karte eingetragen, wo/ die Nebelbänke liegen, wie/ ich lebe ohne Bilder und
Begriffe.// was ich meine mit diesen Sachen/ Identität und Umlaufbahn, und/ wie
Selbstverständlichkeiten im/ Rhythmus des Entrüstens wippen.“ Was das lyrische
Ich sich wünscht, ist jedenfalls eine Welt ohne feste Bilder und Begriffe. Eben,
sich nicht festlegen wollen, auch sexuell nicht, denn queeres Denken will ja
allgemein tradierte heteronormative Denk-strukturen aufbrechen. Es will, dass
„die Selbstverständlichkeiten im Rhythmus des Entrüstens wippen.“ Das Schreiben
in der Geste des Verweigerns bleibt. Ähnlich auch in dem Gedicht “Einen
Menschen der Revolte“: „Tut mir Leid-/ ich bin nicht gerichtet,/ ich flattere
wie bunte Wäsche/ über Häuser-/ schluchten, mein Schluchzen/ eingelegter
Fisch,/ Dorade oder Dorsch/ in Dattelgemisch/ mit Senf aus Dijon,/ auf Tellern
aus Perlmutt./ Ich gestehe es dir ohne Schuld,/ ich kann nicht anders als/
absichtslos zu treiben.“
Intellektuelles
zeigt sich also in Graeffs Gedichten neben Lustvollem. Die Gedichte eignen sich
eine fragmentarisierte Welt mit einer kindlichen Gebärde des Greifens,
Schmeckens und sich Wunderns an. Darin haben sie auch einen Zug ins
Anarchische. „Ich hatte niemals Marmelade gegessen/ & nach meinem
Aufenthalt in der Fremdenstadt/ hat mir mein Horizont eine Zungenwissenschaft
gezeugt.“ heißt es im Gedicht „Das Kaktusfeigen-Theorem“. Die kulinarische
Wiedergeburt der Welt dient zunächst einer ganz persönlichen Sinnsuche. „Ich
hatte niemals Likör daraus gemacht/ & bin angesichts dieser prachtvollen
Kakteen/ vollkasko-versichert. Ich lasse es geschehen/ wie meine Gastronomie
einen warmen Orient/ erschafft, ganz zu meiner persönlichen Orientierung“. Man
darf das als bescheidenes Selbstbekenntnis des Autors lesen. Die lyrische
Zungenwissenschaft kann dennoch viele Themen anrühren, die Sehnsucht nach
unkontrollierten Freiheiten, eine ohne falsche Überzuckerungen gelebte Liebe,
das Generationenproblem, das Älterwerden, die Sehnsucht nach Sinn. Aber eben
immer wieder auch nach Zuständen der Desorientierung, wie beispielsweise bei
dem Gedicht “Kleine Hunde sind auch Hunde“, wo das Ich bei den Loopings einer
Achterbahnfahrt durch die Lüfte gewirbelt wird und schließlich die Orientierung
verliert: „Rechts und Links/ beim Looping haltloser/ wahrnehmbarer Dinge/
verliere ich/ Universalismus/ Gravitation/ Anspruch/ Sprache/ Pro/ Nomen.“ Die
hochfahrenden Träume des lyrischen Ichs sind immer schnell wieder in den
enttäuschenden Alltag zurückgerufen, „zum Wäschewaschen, Dackelschrubben/ &
zum Stimmegeben/ gegen Sachsen.“ (Aus: Das Kaktusfeigen-Theorem). Gerade in
solchen unprätentiösen Momenten nehmen die trotz ihrer mitunter spürbar
konstruktivistischen Arbeitsweise immer sinnlich und präzis bleibenden Gedichte
für sich ein.
Alexander
Graeffs Gedichte zeigen eine Suche nach Lyrik-Neuland. Die Gedichte erzählen
davon, dass den Emotionen Lauf gelassen werden muss und dass sie am Ende
Sprenghaft haben können, wenn die Sensibilität und Schmeck-Kunst geistige Räume
aufschließt und dabei mit dem Fremden, Devianten mitfühlen kann. Die Sprache
dafür muss sich daher neu entwickeln, „Tentakel“ für das noch Unbegriffene,
Fremde zu schaffen. Donna Haraway spricht in einem neueren Essay von einem
„tentakulären Denken“.[6] Ein sehr
schönes Gedicht Graeffs richtet sich „An das fehlende Kind in der Welt“: „Ich
war einunddreißig und ein prävalierter Weg zurückgelegt./ Ein veritabler Abweg
vom Hochweg/ ein Unweg entlang Scheinwerfern auf blinde Flecken.// Ich war
Neununddreißig und ein großes Nein in mir, weil/ Denen, die ich liebte,
Schicksalsschläge widerfuhren/ Die Schakale hatten Krisen, wirklich große.// Mit
vierzig war kein Kind in dieser Welt./ Nur die Bewegungsillusion am
parabelhaften Ausgangsrund/ Das Kopfweh meiner Möglichkeiten war mir Verführung
genug.“ Das Gedicht erinnert an das Kopfweh verloren gegangener Wünsche. Worin
sie liegen, kann nur die individuelle Glückssuche entscheiden. Die Hoffnung auf
eine bessere Welt bleibt. Ob beides aneinanderhängt, lässt das Gedicht offen.
Auch der Queer-Poet ist Utopiker. Man merkt, dass das fehlende Kind, das das
Gedicht heraufbeschwört, ein philosophisches und kundiges ist, nur scheinbar
verspielt.
Ein
anderes Gedicht erzählt vom verloren gegangenen “Löwenmenschen“: „Weit vor der
menschheitsgeschichtlichen/ Ausbreitung des anatomisch / modernen Homo sapiens/
haben Personen anderer Art gelebt./ Verborgen in kühlen Höhlenspalten/ der
schwäbischen Alp und eingeklemmt/ zwischen Stuttgart und München“. Sie erinnern
an „konträre Weisen des Denkens, denn/ bis heute kursiert in jenem Flecken/
Land zwischen Stuttgart und München/ ein hohler Schrecken vor dem Anderssein.“
Diese wie geträumt wirkende Archäologie des Urmenschen sendet eine Traumsprache
aus. Wenn der ausgestorbene Löwenmensch in Bildern und Träumen noch in unserer
Welt auftauchen kann, als schreckhafte Erinnerung ans Anderssein, kann seine
Ausgrenzung, seine Auslöschung nicht ganz gelungen sein.
Die
Einsichten aus der turbulenten Sinnküche Alexander Graeffs träumen sich voraus
in die Toleranz einer komplexer und divers gewordenen Gesellschaft, in der neue
Sensibilitäten verlangt sind. Wo überkommene Lebensmuster sich überlebt haben,
muss eine Gesellschaft sich auch sprachlich und literarisch neu aufstellen, „das
Ich ganz dicht/ an einem Nervenbeben“ (aus dem Gedicht „Variabel“).
Das
Kulinarische ist ein Konstrukt, ein Vehikel. Ob der Autor es weiter nutzen
wird, ist ungewiss. Hier und da stellt es sich wohl auch vor den unmittelbaren
Ausdruck der Emotion. Wo die Gedichte beispielsweise den Zustand der Avantgarde
mit kulinarischen Bildern einfangen wollen, spürt man ein Unbehagen, spürt man das
Experiment, ist der Anspruch, auf zeitgeschichtlich größere Themen
auszugreifen, noch nicht erfüllt.[7] Mitunter
muss der hedonistische Postmodernismus auf diese Weise Fragezeichen hinterlassen,
aber dass die Lyrikwelt Graeffs auf diese Weise nicht zum bloßen
Unterhaltungsstück wird, liegt an der großen Lust des Autors an verstörenden Bildern,
an seiner Sicherheit auf der sprachlichen Ebene.
Ein
also im Rückblick und bei wiederholter Lektüre noch überaus anregend
bleibender, vielseitiger, keineswegs wie leichte Kost zu konsumierender
Gedichtband, das Lyrik-Debut eines bereits erfahrenen Prosa-Autors und
Essayisten, dem man über die insularen Enklaven der Lyrikwelt hinaus noch mehr
neugierige Leser wünschen möchte.
[1] Vgl. Tanja Rudtke, Kulinarische Lektüren. Vom Essen und Trinken in der Literatur, Bielefeld 2013.
[2] Günter Grass betonte oft, dass ihn die Geschichte der menschlichen Ernährung, der Kochkunst und Esskultur besonders interessierte, ja er ihr eine politische Bedeutung zumaß. In dem Roman „Aus dem Tagebuch einer Schnecke schrieb er „Bevor ich mal alt bin, und womöglich weise werde, will ich ein erzählendes Kochbuch schreiben: über 99 Gerichte, über Gäste und Menschen als Tiere, die kochen können, über den Vorgang essen, über Abfälle...“ Zitiert nach: Henryka Szumumowska, Das kulinarische Rezept von Günter Grass, in: Studia Germanica Posnaniensia 10 (1982), 95 (online).
[3] Die Kulinaristik ist eine relativ neue Disziplin in der Kulturwissenschaft. Sie fordert eine nachhaltige Esskultur, die von den Vorurteilen gegen das gute Essen befreit. Vgl. hierzu etwa die Bücher von Harald Lemke, Weisheit des Essens. Gastrosophische Feldforschungen, München 2008; ders.: Über das Essen. Philosophische Erkundigungen, München 2014; ders., Ethik des Essens. Einführung in die Gastrosophie, Berlin 2017.
[4] Zitiert nach: Harald Lemke, Nietzsche und der Wille zur Wurst, erschienen in: Mitteilungen des Internationalen Arbeitskreises für Kulturforschung des Essens, Heidelberg 2003, Heft 11, 76-80. (online)
[5] Zum Eklektizismus heißt es etwa in dem Gedicht „Variabel“: „Eklektizistisch und gesprächig ist/ das Diktat des kulinarischen Gebots.“
[6] Von einem tentakulären und sympoetischen Denken spricht Donna J. Haraway im Blick auf die Notwendigkeit, sich zu sensibilisieren im Umgang mit einem zerstörten Planeten (D. J. Haraway: Unruhig bleiben. Die Verwandtschaft der Arten im Chthuluzän, Frankfurt a. M./ New York 2018, 25). Es geht auch ihr um die Sensibilisierung von Denkweisen.
[7] Der „gnostische „Apparat“, von dem das Gedicht „Zustand der Avantgarde“ erzählt, scheint auf die Schein-Sinnenwelt des Marktes, der allbeherrschenden Popkultur zu deuten, gegen das sich das lyrische Ich abgrenzt. In einer whatsapp-Nachricht vom 17. Oktober 2021 schreibt mir A.G.: „Der gnostische Apparat ist der Markt der Popkultur. Es geht immer um zwei Seiten: Hochkultur vs. Pop usw. Dualismus...“