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Matthias Maaß & Rainer René Mueller: Les Très Belles Heures (2)

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Dirk Uwe Hansen

Matthias Maaß & Rainer René Mueller: Les Très Belles Heures. Zwölf Monatsblätter & zwölf Gedichte. Heidelberg (ARTTRD Wilhelm Kampik) 2025. 39 Seiten. 28,00 Euro

Immerzu verschwinden, hinter dem nächsten Wort


Es ist ein Grund zur Freude, dass in den letzten zehn Jahren, seit dem Erscheinen des Bandes Poèmes — Poetra im Verlag Urs Engeler, endlich wieder Gedichtbände von Rainer René Mueller in schnellerer Folge erscheinen: der großartige Band mit gesammelten Gedichten bei Wallstein (2021) und geschriebes. Selbst mit Stein bei der Edition aouey (2018). Und nun noch ein Stundenbuch, in der äußerlichen Aufmachung (französische Broschur, edles Papier, farbiger Vor- und Nachsatz) dem Band „geschriebes“ sehr ähnlich, mit Bildern von Matthias Maaß und zu einem Preis, der gleich deutlich macht, dass hier keine kommerzielle Unternehmung vorliegt — dem Initiator des Bandes, dem Maaß-Sammler Wilhelm Kampik sei an dieser Stelle herzlich gedankt. Dass Bilder und Texte zusammengeführt werden, ist für einen der bildenden Kunst so innig verbundenen Dichter wie Mueller gewiss keine Überraschung, und doch wird schnell klar, dass wir es hier weder mit illustrierten Gedichten noch mit Texten zu Bildern zu tun haben: Mueller hat neun der Texte für diesen Band neu geschrieben, drei schon vorhandene überarbeitet und sie von ihm selbst ausgewählten Arbeiten von Matthias Maaß (Zeichnungen mit einfachen Mitteln, Kohle, Graphit, Aquarell) an die Seite gestellt. Entstanden ist so das Dokument einer Künstlerfreundschaft, die über den viel zu frühen Tod Maaß‘ hinaus fruchtbar bleibt.

Das Stundenbuch hat, anders als geschriebes. Selbst mit Stein ein Nachwort zum Künstler und ein Vorwort des Autors. Als jemand, der mit dem Werk Matthias Maaß‘ bislang nicht wirklich vertraut gewesen ist, empfinde ich das als sehr nützlich. Allein das Ende des Vorworts befremdet mich zunächst ein wenig: „Dieses Buch, in seiner Eigenheit, sei dem betrachtenden und lesenden Connaisseur anempfohlen,“ heißt dort.  Dass Mueller von der Lektüre des Bandes abschrecken will, scheint mir unwahrscheinlich, ist es also ein caveat lector, mit dem der Autor Enttäuschungen vorbeugen will? Gewiss, Muellers Gedicht mit ihren vielen Bezügen zu Musik, Kunst und Literatur offenbaren mir tatsächlich in all den Jahren, in denen ich sie immer wieder lese, auch immer wieder neue Schichten des Verständnisses — und deren alle zu erfassen, dafür werde ich wohl nicht mehr Connaisseur genug werden, das weiß ich auch. Abschrecken kann mich das nicht, im Gegenteil! Und dann lasse ich schon beim Anblick des ersten Bildes („Trübsal“) alle solchen vorsichtigen Überlegungen fahren. Denn bevor ich dieses Bild noch sorgfältig und kennerhaft betrachten kann, erwischt mich der Blick des porträtierten Gesichts mit einer Unmittelbarkeit, die keinerlei Vorwissen erfordert. Eine Zeichnung, die zu Malerei wird, ein Porträt als Vexierbild, aus dem mich ein zweites anzuschauen scheint, beide archetypisch in Haltung und Ausdruck, beide in- und umeinander verschoben wie die Grenzen zwischen Linie und Fläche — „Eine Zeichnung, die gut sein will, braucht manchmal ihre Zeit,“ steht, ein Eintrag aus Maaß‘ Tagebuch, daneben und das gilt für das Betrachten so gut wie fürs Zeichnen selbst.

Ähnlich unmittelbar wirkt das Gedicht auf der folgenden Doppelseite. Muellers Gedichte nehmen sich Raum. Abgesetzte Satzzeichen, Einrückungen, größere und kleinere Spatien; man möchte sie lesen wie Partituren. Allein wie die ersten vier Zeilen sich am Ende in anderem Rhythmus gesetzt wiederholen, macht diese Analogie deutlich.
… oder sagte jemand : ich kann hier
nur noch sehen .    Aber
                                              ich bin
hier nicht mehr tröstbar …

So beginnt der Text und endet:

… oder sagte jemand
                              ich kann hier nur noch sehen

                              aber :

                   ich bin hier nicht mehr tröstbar …
Wie sich in dem Bild zwei (manchmal denke ich auch mehrere) Gesichter in- und umeinander schieben, ist auch der Text mehrtönig, man meint, zwei oder mehr Stimmen einander umkreisen zu hören, bisweilen scheint es mir, dass in den Lücken, den halben oder ganzen Leerzeilen noch weitere Stimmen warten und zu ahnen sind, immer wieder könnte man Passagen wiederholen, vielleicht einzelne Verse für sich selbst neu zusammenstellen.

Mehrtönigkeit und das Verlangen, die Gedichte wie Partituren zu lesen, diese Qualitäten finden sich in Muellers Gedichten immer wieder (ein zusätzlicher Gewinn ist, dass sich die Gedichte dieses Bandes von Mueller selbst eingelesen auf der Website der Matthias Maaß Collection nachhören lassen). Und solche großartigen Wortfindungen wie Katakombengelege, die — auch wieder als wäre es Musik — schneller im Gehirn ankommen, als sie verstanden werden können. Für all das braucht man zunächst einmal mehr Neugier als Kennerschaft…

Bleiben wir ein bisschen bei den Gesichtern. Im März erfasst uns wieder eines mit der gleichen Unmittelbarkeit — und ganz anderen Mitteln, als könnte Maaß mit Linien malen und mit Flächen zeichnen. Maske, Heiligengesicht oder Harlekin, kaum glaubt man, das Gesicht fixiert zu haben, löst es sich wieder auf

… könnte auch heißen : das Heiligengesicht
geschlossene Augen, eine Maske,
                  das ist werden, vermissen,

sich selber
        
Ebenso wie das Bild zwischen Gegensätzen (ach, allein das offene und das geschlossene Auge) schillern kann, verklammert auch der Text Gegensätzliches. Dröhnen und Stille, Werden und Vermissen, Verlassen und Auftakt („gehabt haben werden“) und als Klammer der unbekannte Schaum in dem aus Malarmé entlehnten Motto und der „Basaltsplit“ am Ende: Als habe Zenon im Märzen seine Paradoxa angespannt.

Wie häufig in diesem Band scheint der Text nicht nur auf das dazugehörige Bild zu verweisen, sondern es zusammenzuführen mit einem späteren. So kommt denn das Heiligengesicht aus dem Märztext im Mai wirklich aufs Blatt, eine Madonna mit leerem Blick („da wohnt keiner mehr, geblendet von Schwarz“) und stummem Mund, archetypisch auch dieses Gesicht in seiner Schlichtheit. Und wieder führt der Text scheinbar Unvereinbares zusammen, die Aggregatszustände des Seins, will mir scheinen, Geburt, Vertreibung, Leere. Ich gebe zu: Bei Vexation, au-delà, dem Maigedicht leuchtet mir dann doch ein, dass Mueller im Vorwort von Kennertum spricht. „… über dem Horizont, / es tropft Musik da“ — so unmittelbar wie die Zeilen auch hier wirken: il sera bon de se préparer au préalable und vielleicht sollte man tatsächlich die 20 Stunden mit diesem Text verbringen, die eine Aufführung von Saties Vexations dauern würde ; und noch einmal 20, um über die „Herzwörter“ und logique du coeur zu Scheler, Pascal und dem λόγος bei Descartes und im Johannesevangelium zu kommen und immer noch den Eindruck zu haben, dass Text und Bild noch nicht alles preisgegeben haben, was verstanden werden könnte.

„Über dem Horizont“, diese Zeile aus dem Maigedicht könnte gleich auf das Bild im Juni verweisen, in dem wirklich eine Art Horizont ein Liniengemälde (unten) und eine Flächenzeichnung (oben) trennt (oder verbindet).

Im Lichthof, bei Holunder

                              Les grands trous bleus que font méchamment les oiseaux
                              Mallarmé . L’Azur

… zur versuchten Stunde :
das Augenlicht brechen,
                              von innen —

dann die Mauersegler :
Fallflug, Schrei schirren,
               in der Höhe der Schrillton :

nur vom Gehör her,
                                dieses Leichte,
das er tut, der Vogel …

               …         er fliegt
                                
Sollte ich einen Text nennen müssen, der „meinen“ Rainer René Mueller in nuce zeigt, so wäre es dieser. Ein Titel, der klingt wie eine Anweisung in einer Partitur (die natürlich nur schwer zu erfüllen ist), die Verankerung in der Literaturgeschichte, wuchtige Bilder („das Augenlicht brechen“), eigenwillige Wörter (schirren) die klirrenden i-Laute und schließlich die kühne Geste, mit der der Vogelflug zu einer Sache des Gehörs gemacht wird, all das lässt mich atemlos zurück.

Ich werde noch eine ganze Zeit mit diesem Band verbringen, ja, es reizt mich, ihn als Stundenbuch ernstzunehmen, ihm einen Platz auf meinem Schreibtisch einzuräumen, ihn dort offen liegen zu lassen und einmal im Monat die nächste Doppelseite aufzuschlagen. Diese langsame Lektüre, da bin ich sicher, wird eher weitere neue Ansätze zur Beschäftigung mit Bildern und Texten ergeben, als dass sie dabei zu einem Abschluss kommt.


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