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Marzanna Kielar: Lass uns die Nacht

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Timo Brandt

Marzanna Kielar: Lass uns die Nacht. Gedichte. Aus dem Polnischen von Renate Schmidgall. München (Edition Lyrik Kabinett bei Hanser) 2020. 128 Seiten. 20,00 Euro.

Im Okular der Vergänglichkeit


„ich streife eine Ameise von meinem Fuß
und schaue, was sie mit dem geschenkten Leben macht,
mit ihrem Tropfen Zeit.
Im gelben Licht des Weges – wie sie die anderen einholt,
die soeben ein Insekt töten, emsig, gierig.
Sie ist sich meines kurzen Zögerns nicht bewusst.“

Man hat das Gefühl, sich in den Gedichten von Marzanna Kielar in einer monumentalen Zwischenwelt zu bewegen – paradiesische und höllische Elemente gehören hier zum Inventar, in jedem Fall aber ist die Natur ein großes Schauspiel, größer als alle menschlichen Schauspiele; mit Ausnahme der Liebe, der Zweisamkeit, die in Kielars Poetik ebenfalls eine, wenn auch nicht die Hauptrolle spielt. Alles dreht sich um tiefes Bleiben, hohe Vergänglichkeit.

„Lass uns die Nacht“ enthält Texte aus den vier Bänden „Sacra conversazione“ (1992), „Materia prima“ (1999), „Monodonie“ (2006) und „Navigationen“ (2018), übersetzt von Renate Schmidgall, neben Karl Dedecius die wohl prominenteste Lyrik-Übersetzerin aus dem Polnischen, der wir u.a. die deutschen Ausgaben von Adam Zagajewski verdanken.

„Das Okular des Eises auf dem Teich ist geborsten.
Nach lähmenden, bleiernen Tagen, endlich! –
werden Schatten anprobiert.
Überall werden sie angenäht: an die Rümpfe der Rosen
im Garten, an die Wimpern, die Garagen. Ein Verlängern,
Kürzen an der Wäsche, die flattert im sonnigen
Luftzug.“

Die Gedichte aus dem ersten Teil haben in vielerlei Hinsicht etwas Elegisches, manchmal schon fast Martialisches an sich. Sehr oft geht es um Vertrautheit und Nähe zu einem Du, aber genauso oft wird auch das Sterben thematisiert, der Tod höchstselbst beizeiten namentlich ins Feld gerufen. Über allem, selbst Momenten der vermeintlichen Ekstase, hängt eine gewisse Schwermut, als würden selbst die schönen Momente unter ihrem eigenen Gewicht nach unten gebogen.

In ihrem Nachwort weist Schmidgall darauf hin, dass die karge Hügel- und Seenlandschaft der Masuren, wo Kielar lebt, eine wichtige Inspirationsquelle für ihre Bildwelten darstellt. Ich würde sogar noch weiter gehen und behaupten, dass diese Landschaft sich nicht nur in der Bilderwelt, sondern auch in der atmosphärischen Veranlagung der Gedichte niedergeschlagen hat und ihren Zug zum Apokalyp-tischen bedingt.

„und wenn das Leben nur ein Lesezeichen
im Buch ist, an der Stelle, wo eher das Hochwasser bei Vivonne
sein müsste, eine Geruchsstudie
oder ein Rezept für ein Fischgericht, für längere Jugend?“

„Die Wölkchen sprechen, getrennt durch Streifen klaren Himmels.
Und eine Wolke zieht vom Horizont her, oben wie ein Amboss,
mit einem Gewitterkragen als Sockel.

Der Tag zieht hörbar die stählernen Taue der Stadt an, die Eiskruste glänzt.“

Denn obgleich Kielar ohne Zweifel ein großes Talent für Naturbeschreibungen hat und ihre Gedichte oft mit einer überwältigenden Anzahl an Sinneseindrücken aufwarten können, gibt es doch einige, in denen Eis, Schlamm, Schutt und Schnee dermaßen dominieren, dass man von einer ausgereiften Endzeitstimmung, zumindest aber von einem Bedrohungsszenario sprechen kann.

Natürlich gibt es auch zahlreiche Gedichte, in denen Kielar das Leben preist, den Frühling, die reinigenden und wiedererweckenden Kräfte der Natur. Aber dennoch bleibt der Eindruck, dass die kontrastreiche Fülle ihrer Dichtung sich vor allem in dunklen Fluten und Himmeln ballt, die Wucht der Natur auf den Silben der Gefahr betont. Ihre Sprache ist voller starker Bilder, die mich einerseits umgehauen haben, andererseits mitunter fast schon zu grell wirken. Ein paar Beispiele:

„Der Mond ritzt die Eisfläche mit der schmalen Klinge des Schlittschuhs.
Die Zeit birst wie ein behauener Stein, entlang der feinen hellen Ader jener Liebe.“

„Der Mond eine Höhlenperle über dem Abhang des Schlafs,
dem fernen.

„das Herz schlägt wieder in seinem Knochenkorb.“

„Mit Augen wie ein ertränktes Nest goldener Wespen.“

Wer mit den Bilderwelten der zitierten Abschnitte etwas anfangen kann, für den/die wird sich „Lass uns die Nacht“ mit Sicherheit als große Leseerfahrung erweisen. Ich vermisse, als Fan der polnischen Dichtung aus den Federn von Zagajewski & Szymborska, deren Gelassenheit und Ironie als Gegenstück zu hochgreifenden Tönen.

Bei Marzanna Kielar bekommt man eher Überbordendes, Archaisches geboten. Der Schrecken vor der Gewaltigkeit der Natur liegt hier als dünne Lasur auf allen Sätzen, erstrahlt farbenreich und blendet gleichsam, wenn die Metaphern aufblitzen. Kielars Gedichte werfen die Gewaltigkeit auf, versuchen sie aber auch zu durchdringen, darin etwas einzurichten. Diese Ambivalenz macht ihre Lyrik, bei aller Kritik, zu einer spannenden Auseinandersetzung mit der menschlichen Furcht um das eigene Ich in der großen weiten Welt und dem Hunger, der in dieser Furcht schlummert, träumt, erwacht.

„Der Körper entbindet sich nach und nach vom Leben.
Er schaut sich um, als hielte er an einer Grenze an
und fragte: »Zu welchem Staat gehört dieser Boden?«“


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