Martina Jakobson: Hier biegen wir ab
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Jan Kuhlbrodt
Martina Jakobson: Hier biegen wir ab. Oberwart (edition lex
liszt 12) 2022. 71 Seiten. 16,00 Euro.
Zu Martina Jakobsons Gedichten
Immer wieder kommen neue Verlage hinzu, und das ist gut so,
gut für die Sichtbarkeit der Breite lyrischer Produktionen.
Im österreichischen Verlag edition lex liszt 12 legte
nun Martina Jakobson einen Band mit Gedichten unter dem Titel „Hier biegen wir
ab“ vor.
Jakobson ist dem Lyrikleser, der Lyrikleserin keine
Unbekannte. Wir haben ihr einige großartige Übersetzungen, vor allem aus dem
Russischen, zu verdanken. Erinnern möchte ich dabei an die beiden in der
Edition Rugerup erschienenen Bände mit Übersetzungen von Gedichten Arsenij
Tarkowskijs und Inokenntij Annenskijs, zwei Bücher, die zumindest bei mir
dramatische Lücken füllten, weil einerseits die noch in der DDR erschienenen
Tarkowskij-Gedichte kaum zu bekommen sind und Annenskij bis dato nur als Name
durch den Diskurs klang und er endlich, mit Gedichten gefüllt, greifbar wurde.
Als Übersetzerin ist die Autorin also etabliert. Wenn man Walter
Benjamins Diktum ernst nimmt, dass die Übersetzung Sprachen ins Gespräch bringt,
und man auch Novalis gedenkt, der in aller Kunst Übersetzung vermutet, ist es
nicht verwunderlich, dass die Autorin nun mit eigenen Gedichten auftritt.
Jakobson ist 1966 in Berlin geboren. Ihr Vater war Diplomat
und ihre Mutter russisch-ukrainische Übersetzerin, sie wurde also sowohl in Mehrsprachigkeit
hineingeboren, als auch in die politischen Verwerfungen des vergangenen
Jahrhunderts. Beides vermeine ich als eine Art kosmisches Hintergrundrauschen
der vorliegenden Texte zu vernehmen, das sich zuweilen zum konkreten
historischen Bezug verdichtet. Geschichte ist gegen-wärtig und hinterlässt
Spuren, Prägungen.
Aber sie wird dadurch eben auch eine Art Fessel.
DU SAGST, ICH LEBTEmanchmal noch in der Sowjetunionnach wie vor trage ich zuweilen Rotdie Farbe des Feuers und der Diktaturin mir schwelt die Energie der Befehleder Stechschritt auf schutzlosen Plätzengezähmte Tiere wissen nicht wohinwenn der Käfig sich öffnet

Dieses kurze Gedicht könnte man durchaus als programmatisch
betrachten. Wir begleiten die Stimme in einer lyrischen Welterschließung nach
dem Verlassen des Käfigs. Und im Freien begegnet diese Stimme immer wieder
rudimentären Geschichtsbrocken, die sich in der Natur abgesetzt haben. Zuweilen
als Tradition, zuweilen aber auch gegenständlich manifest.
DER NEBEList eine Improvisation des Herbstesund streift morgens mit grauer Handdurch die Reihen mit dem Weinverwischt die Kontraste des Augenblicksverdrängt das Eckige Rissige Brüchigein den flüssigen Hintergrund der Erinnerungschiebt vor das Polaroid des Sommerseine Schwarz-Weiß-Fotografie
In den Gedichten Jakobsons verschmelzen also Natur und
Geschichte, oder besser: Sie werden als Verschmolzene sichtbar.