Martina Hefter: Ungeheuer
Dirk Uwe Hansen
Zeuge erstklassiger Dramen
Es wird wohl kein Mensch Martina Hefters neuen Band „Ungeheuer” lesen können, ohne dass ihr dabei ein wenig schwindelig wird; und so kann man dem Buch nur möglichst viele Leser wünschen, denen dieser Schwindel, der bei ungewohnten Bewegungen des Denkens in ungewohnten Räumen entsteht, als Merkmal lohnender Literatur vertraut und lieb ist.
Beginnen wir daher schwindelbedingt kleinschrittig. „Stücke / Gedichte” verspricht das Ungeheuer, wie ein Regal in einer Buchhandlung, in der die schwer verkäuflichen Gattungen Drama und Lyrik gesammelt werden, so als ließen sich die vier Teile des Bandes jeweils einer dieser Kategorien zuordnen. Doch so einfach ist es nicht. Denn wir finden hier Gedichte, die sich, in entsprechender Inszenierung durch den Leser zu Dramen fügen (δρᾶμα bedeutet ja im Griechischen zunächst nichts anderes als Handlung), wie das letzte Kapitel „In Yetiherden”, aber auch Handlungen, die sich als Gedichte lesen (oder: sehen) lassen, wie das Musical mit Ungeheuer zu Beginn des Bandes. Und vielleicht verweist „Stücke” ja auch nicht nur auf die Gattung Drama, denn im „Chor der Lästerer” und „Arbeit” finden wir Stücke in einem viel konkreteren Sinn, herausgebrochene Teile von Gesprächen oder Selbstgesprächen, die wir selbst noch zusammenfügen müssen.
„Musical mit Ungeheuer” ist das erste, längste und titelgebende Kapitel des Bandes. Ein Endzeitszenario in der „Efeu-Stadt”, Personen der Handlung sind der musizierende Mensch (deren Geschlecht unklar bleibt), eine „Kioskmum”, zwei Gartenroboter, das Ungeheuer und St. Georg (wenn der nicht doch nur eine Statue ist). Daneben finden wir eine verhungerte Katze, Meerschweinchen und einen Schwarm Zebrafinken in einer Voliere. Orte der Handlung: das Zimmer des musizierenden Menschen, die Wiese vor dem Kiosk (ein Park), der Platz vor dem verlassenen Einkaufszentrum. Aber all das beginnt schon nach kurzer Zeit in seltsamer Weise durch- und ineinanderzufließen. Denn die Stimmen der Gartenroboter decken sich mit dem Zwitschern der Zebrafinken im Zimmer, die Kioskmum bietet Gummischwäne an, die vielleicht gleich darauf als wirkliche Schwäne auf dem Teich im Park wieder auftauchen, und auch die Personen scheinen einander immer wieder in der Person des Erzählers wenigstens kurzzeitig zu überlappen.
So entwickelt sich weniger eine stringente Handlung aus diesem Szenario, als vielmehr ein Tanz, der den Raum und die darin möglichen Beziehungen auslotet; die Personen nähern sich einander an, umkreisen, durchdringen sich gegenseitig und stoßen sich wieder ab. Dabei wird der Leser nicht allein zum atemlosen Zuschauer (das auch – mir geschah dies vor allem beim Betrachten der Gartenroboterduette), er kann durch die Art seines Lesens zugleich mitchoreographieren, einzelne Szenen vom Park ins Zimmer verlegen, sich mit dem Ungeheuer der ganzen Szenerie wahlweise von außen oder innen nähern, oder gar Stücke (S. 21 z.B. hat eine Ausschneidestrichelung am Innenrand) innerhalb des Stückes verschieben. Das ist bisweilen verwirrend, und das gefällt mir sehr.
Nur ein Beispiel für einen solchen tanzenden raumgreifenden Text:
Zwei Gartenroboter legen die Scheren weg und stellen gegenseitig Erforschungen an ihren Körpern an
Ohne Worte als Pas de Deux getanzt
Das ist Gelenk, darin eingehängt
Fuß, man hinkt damit
wie in einer Fertigungshalle.
Wie heißt, was gerade passiert?
Etwas versüßen.
Ungesund Zucker ausstreuen.
Alles Metall weicht irgendwann aus dem Körper.
Aber was ist Körper?
Wenn Hand deine Hand anlangt
und du sendest nicht, aus Sensation.
Nasenstüber, Niesen, ein Finger,
man zeigt damit auf Dinge mit Adern,
Dinge aus Scham und Material.
Nicht auf Dinge, die wirken, als wären sie wie wir?
Ach, wir. Gewirkte
aus Plastik und Schatten,
hm?
Das zweite Kapitel, Chor der Lästerer, ist weniger dramatisch als fast episch. In einer langen Reihe dreizeiliger Strophen findet hier in aller Breite eine Selbstbeschimpfung („Da beschimpfe ich mich lieber,” sagt Hefter dazu in ihrem kurzen Nachwort) statt, die dabei aber ebenso gut eine Selbstvergewisserung oder Selbstbeobachtung werden kann.
Wurdest am Knie erwischt, Shilo ohne Ranch, Hi-Low ohne Low-Fi,
du Androhung von Schonkost, schwartenköpfiger Schwan,
binde dir ein Brett auf den Bauch, ohne es stirbst du auch.
Trottels Foxtrott, du und dein Traum vom Landen,
bist nicht dran, und willst du vor Freude hüpfen, wo gehst du hin,
in die Hüpfburg „Zum geerdeten Mann”?
Abgesehen davon, dass ich „du Androhung von Schonkost” auf der Stelle aus dieser Chrestomathie der Pejorative in meinem aktiven Wortschatz übernehmen werde, kann ich mich in diesem Kapitel gar nicht genug freuen an Hefters Wortgewalt und unbekümmerter Kompositionskunst, die Reime und Assonanzen fröhlich zu verwenden weiß, ohne sich ihnen je zu unterwerfen.
„Arbeit”, das dritte Kapitel ist wieder ganz Handlung und Bewegung, mehr Performance als Text mit genauer Beschreibung der Choreographie. Und wenn die geforderte Anordnung und Besetzung nicht leicht von jedem Leser zuhause nachgestellt werden kann, so lohnt es doch, die hier auf Sprechblasen verteilten Textstücke im Kopf zwischen zwei oder mehr Räumen hin- und her zu tragen.
Doch bei aller Freude an den ersten drei Kapiteln des Bandes, „In Yetiherden”, das vierte, ist mir das liebste des Bandes (und will ich die anderen doch nicht missen, natürlich). Vielleicht, weil dieses Kapitel am ehesten einer konventionellen Gedichtsammlung entspricht — vielleicht aber auch, weil es genau das nicht tut.
18 Abschnitte bringen hier jeweils zwei nebeneinander gedruckte Gedichte.
12
die Hänge sind in Schuss
nie quert ein dunkler Fluss
die Erlebnisebene
man fährt Ski auf Kissen
woher kommt dieses Heulen
das Leben der Yetiherde
scheint karg und verlassen
abseits von Familienpisten
Auch hier öffnet Hefter Räume (zwischen verschneiten Berghängen und Matratzengruft), in die der Leser sich finden kann. Und auch die Yetis scheinen auf das Ungeheuer und seine Herkunft zurück zu verweisen. Aber es geschieht noch mehr, denn man kann sich aus den beiden Gedichten, indem man über die Lücke hinüberliest noch ein drittes herstellen — so lässt Hefter es uns in ihrem Nachwort (das ich vor der Lektüre der Texte zu lesen empfehle) wissen; aber vielleicht steckt noch ein viertes Gedicht in diesen beiden? Denn hier, wie häufig in den Gedichtpaaren des letzten Kapitels, ergibt sich fast automatisch die Möglichkeit, von den Assonanzen (Kissen / verlassen/ -pisten) geleitet noch ein kleines haikulanges Gedicht aus dem Ende des Abschnittes herauszulösen.
Und ob wir in den Yetiherden die liebenswerten Ungeheuer einsamer Bergregionen oder doch die „Deppen des derbsten Sports” in ihren bunten Daunenjacken erkennen wollen, werden wir auch bei jeder Lektüre neu entscheiden müssen.
Hefter traut ihren Lesern also einiges zu, und wer sich den Anforderungen stellt, die der Text an ihn stellt, wird „Ungeheuer” gewiss mit Gewinn lesen. Doch nicht nur wegen der Mitarbeit, die das Buch fordert, ist es ein Vergnügen, ich schwelge auch immer wieder in reiner Freude an Hefters unbekümmerter Art, Sprache scheinbar sich selbst zu überlassen und Sätze und Worte wie in improvisierten Bewegungen aus anderen Sätzen und Worten aufploppen zu lassen, wie hier im Lied des musizierenden Menschen, das man als Endlosloop im Kopf behalten möchte:
Der musizierende Mensch über das Stürzen
Lied
Pudding stürzen — angemessen.
Tyrannen stürzen — lieber gleich Nägel essen.
Schwungvoll über die Klippe sich
es wird deine Bezüge auf jeden Fall
Auf eigene oder fremde Papiere sich stützen,
Fenstern das beste Glas herauskitzeln,
damit Debatten würzen, jede
Begriffsarbeit abkürzen, verflucht.
Wer nach Stürzen sucht, wird Gott des Verhinkens,
wer Stürze im Abo bucht, bleibt lieber ganz hinten,
wer hinten bleibt in funzligen Spelunken,
spekuliert mit gepanschten Gewürzen, stürzt betrunken
kopfüber in Schulden. Habt Geduld damit,
mich zu stützen in meiner Panik gegen
die Stürzpest. Schnell, ihr Fürsten,
hemmt nicht diese Flüsse, die in sich
Martina Hefter: Ungeheuer. Stücke / Gedichte. Berlin (kookbooks) 2016. 80 Seiten. 19,90 Euro.