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Martin Piekar: Zu Alexander Graeffs "Runen"

Montags=Text > Prosa


Martin Piekar


Zu den "Runen" von Alexander Graeff



Mucosolvan ist anders.

Runen sind Geheimnisträger. Zwischen Information und Interpretation pendeln sie. So auch die Prosaminiaturen des Autors Alexander Graeff.

„Diese Runen verstehen sich selbstverständlich nicht im Sinne neugermanischer Volkstümelei“, steht auf dem Klappentext, und dem kann nach der Lektüre zugestimmt werden. Die Miniaturen sind keine Auslegware, aber sie sind auslegbare Texte. Es gibt kein Sicherheitsprotokoll für die Interpretation dieser Prosa, und das braucht sie auch nicht. Der Autor versucht nicht, vermeintliche (oder auch vermeidliche) Kalendersprüche ins Surreale zu überführen. Hier wird die Realität von einem Subjekt beobachtet und kommentiert.

Was ist schlimmer? Dass dir dein Frühstücksei auf den Boden fällt oder dein iPhone?

Graeffs Texte entwickeln einen Sog, jede Miniatur scheint schnell gelesen und verschlungen, lässt einen hungrig zurück nach der nächsten.

Im Eingangsbereich einer Einkaufspassage überfällt mich Sehnsucht

Es bleibt die Sicherheit, sie gelesen zu haben, aber zugleich schnappt die Unsicherheit zu, worüber man gerade gelesen hat. Runen sind Texte, die nicht ohne den Leser denkbar sind. Häufig gibt es Überlagerungen verschiedener Ebenen in einer einzigen Miniatur.

Parallel dazu die Illustrationen von Andrea Schmidt, die diesem Prinzip ebenso folgen. Viele ihrer Zeichnungen zeigen verschiedene Ebenen, die sich überlagern, und der Blick des Betrachters setzt den Fokus.

Sich als Leser zurückziehen zu können?

Entsagung ist eine unwirkliche Heimatphantasie


Ich ist der kleinste gemeinsame Nenner dieser Texte. Nicht nur das lyrische Ich innerhalb des Textes, sondern auch ich als Leser, der Geheimnisse offenlegt. Geheimnisse des Textes und der eigenen Lebenswelt. Was sind die Geheimnisse, die wir vor uns selbst haben?

Der Mond ist umgezogen. […] Dann beginnt der Tag, und der Mond muss sich an China erst gewöhnen

Vielleicht muss sich China auch erstmal an den Mond gewöhnen. Aber wer ist der Mond? Ich kann diese Frage nicht beantworten, aber das ICH spielt die entscheidende Rolle beim Lesen dieser Texte: Ich ist in dauerhaftem Transit. Nicht zuletzt spielen Graeffs Texte an verschiedenen Orten und haben eine Art Reisemotiv. Ob Hong Kong, Schanghai, Lissabon, Nepal, Heidelberg oder Frankfurt.

Nepal

Papa ist sehr glücklich heute. Ein Mann im Anzug ist gestorben – an einem Ort der Romantik. Ich sehe ein Eichhörnchen, es ist: promoviert und tätowiert. Jetzt reicht es mir den Honig, während Nepal eigenartige Bilder sendet. Das ist der Name dieses eigenwilligen Gewürzes.
            Warum ist auf einmal alles aus Schokolade?


Dabei fielen mir Parallelen zwischen den chinesischen Schriftzeichen und den Runen ein. Gemeinhin ist mir nur bekannt, dass hieratische Schriftzeichen durch ihre Interpretation eine Bedeutung bekommen, ganz ähnlich wie Runen also.

In China trieb ein dünner Fisch an der Oberfläche des Westsees. Sein Kurzzeichen heißt Suche.


Alexander Graeff: Runen. Prosaminiaturensammlung. [SIC]–Literaturverlag, Aachen, Berlin 2015, 101 Seiten, Broschur, 12,00 Euro.

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