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Martin Gambarotta: Pseudo

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Armin Steigenberger


Unverschämt lakonisch melodiös.

Schwer zu sagen, was anfangs genau den Reiz ausmachte, als ich zum ersten Mal in Martín Gambarottas Gedichte aus seinem jüngst in der brueterich press erschienen Band Pseudo hineinlas. Diese Gedichte waren von Anfang an definitiv etwas anderes und gar nicht unbedingt Lyrik, wie ich sie erwarte(te).

Musik hören
den ganzen Tag, den ganzen Tag
will ich und nachts arbeiten
ich will eine leichte Arbeit
mich um Pflanzen kümmern
in einem Gewächshaus (auf
der anderen Seite der Gleise)
wo man sich in einem Haus
aus Glas auf einen Stuhl setzen kann
um das Brummen
der Würde
aus dem Kopf zu bekommen.


Da war etwas sehr Ungewöhnliches – ein, sagen wir, lapidareres, viel lapidareres Sprechen, als ich es von Dichtung gewohnt bin. Lapidar meint: Einfach hingesetzt – achselzuckend, unbekümmert – aber eben nicht indifferent, gleichgültig, sondern sehr bestimmt, klar, präzise und damit alles andere als beiläufig. In obigem Text steckt schon im Ansatz eine kleine Poetik; wenigstens könnte man es so lesen, als versuche hier jemand el zumbido / de la dignidad, also das Brummen der Würde (mit der z. B. ein Dichter versucht, sein weißes Blatt zu füllen?) aus dem Kopf zu bekommen.


Unverschämt: Die Texte entziehen sich beim ersten Leseeindruck vielem, was (hierzulande) angeblich Dichtung ausmacht. Und sind doch schon 17 Jahre alt. Ein anfänglicher Leseeindruck war, dass es sich hier um Postmoderne at its best handelt, wie sich ein ganzes Arsenal von Personen und Namen, Motive, Zitate begegnen, wiedertreffen, umeinander kreisen und kreuzen.


Lakonisch: Es scheint mühelos und entspannt notiert und der Autor selbst überrascht von seinem Text. Und dennoch erzeugt ein Konzert aus scheinbar mehreren Stimmen, darunter bruchstückweise Findlinge z. B. aus dem Kontext argentinischer Songtexte, Zeitungsmeldungen, Werbesprache u. ä. eine anregende Vielstimmigkeit. Auf diese Weise entsteht eine vielfältige Melange aus oft nicht mehr zu entwirrendem Allerlei. Jedes Gedicht ist eine Art Blackbox, verschließt und entzieht sich der näheren Deutung, weil sich nicht sagen lässt, was drin ist oder woraus es besteht. Dabei wirkt es weder hermetisch noch in seinen Bestandteilen wie eine bewusst herbeigeführte Diskursmischung, sondern fügt sich durch die gestraffte Lakonie zu einer (scheinbaren) Einheit.


Gleichzeitig sind es bei aller Knappheit keine Reduktions-gedichte, bei denen es die Tugend eines einschlägig arbeitenden Reduktionisten wäre, mechanistisch immer mehr vom Text wegzuschleifen, um ihn aufs Wesentliche (?) zu reduzieren – bis alle Ecken und Kanten ebenfalls beseitigt sind, die den Text vielleicht interessant gemacht hätten. Gambarotta ist da viel spielerischer und auch hinterhältiger. Die Lakonie erklärt sich zunächst nicht. Es tut sich, je weiter man liest, auf einmal Geheimnis nach Geheimnis auf. Das Ganze hat im Rückblick Hintertürchen und ist auch gewissermaßen vertrackt, d. h. es entwickelt Themen, schreibt sich um Dinge herum, es werden Motive immer wieder aufgenommen, und es gibt refrainartige Sentenzen, die leicht abgewandelt wieder auftauchen: Themen, die man nach einer Weile wiedererkennt. So gesehen ist es mimetisch „ohne Ende“.

Vermutlich ist das Wenigste daran „wahr“ in dem Sinn, dass es selbst erlebt oder autobiographisch wäre; nicht zum Spaß heißt das Buch sowie dessen „Hauptfigur“ (sofern sich das über eine Dichtung sagen lässt und sie sich in den Texten zeigt) Pseudo, was wiederum übersetzt aus dem Griechischen – Ich lüge – bedeutet. Der Gedichtband ist voller Absurditäten und Widersprüche. Das Gesagte lässt sich an keiner Stelle komplett aufschlüsseln.

Pseudo steht mit dem Zombielachs in der Küche
und nimmt eine Droge, um sein Zielen zu verbessern.
Und hängt ein Laken als Gardine vors Fenster.
Und sieht sich die Ermordung von Luis Donaldo Colosio an.
Und stillt seinen Durst nach einem unanständigen Sport
mit dem englischen Fähnchen seiner Reeboks.


Und wiederum gleichzeitig ist es eine Dichtung, die Nägel mit Köpfen macht, also sich thematisch festlegt, die sogar da reizvoll konkret wird, wo es um die argentinische Geschichte und um die mit ihr verbundene Politik geht. Sie hat etwas Praktisches, Zupackendes, das mir sehr sympathisch ist; sie bleibt nirgends flüchtiges, ephemeres Spiel. Oft hat sie ein starkes lyrisches Ich oder ein gleichermaßen starkes Subjekt, das die agierende Person sehr scharf charakterisiert. Auch wenn ich das Gerede (und Geschwärme) von der „markanten Stimme“ kritisch sehe, empfinde ich zumindest Gambarottas eigenwillige Texte als markant.

Weil du fremde
Galle probiert hast
verdienst du
das Ergebnis
von

Dogma geteilt durch Milch.


Das Schöne und gleichzeitig Verblüffende an Gambarottas Gedichten ist, dass viele der Texte nicht mehr rückführbar sind auf ihre Quellen. Man fragt ständig, wie eine solch einheitliche, „harmonisch“ gefügte Textkomposition, die in Wirklichkeit ein aus erratischen Splittern und Sprengseln zusammengepuzzeltes „bizarres“ Machwerk ist – aber allein von seiner Sprachmelodie her schon aus einem Guss ist – wohl entstanden sein mag? Die Gedichte wirken an keiner Stelle poetisiert, sprich künstlich aufgeladen mit erprobt poesieaffinen Inhaltismen
¹ oder, anders ausgedrückt, poetisch konnotiertem Wortschliff, sondern sie genügen sich in ihrer oft (scheinbar!) unbearbeiteten Alltagssprachlichkeit. Spannend wird es da, wo offensichtlich zum poetischen Sprechakt fertige Passagen aus Werbeslogans und sachlicher Berichterstattung in den Text eingewirkt werden, sodass demgegenüber ein rundes Ganzes entsteht. Gambarotta arbeitet auch mit dem absurden Sprachmaterial automatischer Übersetzungen.

Melodiös. Oder eigentlich auch mühelos. Unter den Gedichten steht in kleinerer Schrift das Original in argentinischem Spanisch. Es hat bei allem Alltagssprachlichen dennoch überraschend viel Melodie und Rhythmus, im Spanischen noch mehr, da das Spanische ebenso wie viele romanische Sprachen weichere Fügungen hat. Ich habe mir einige der Originale immer wieder laut vorgelesen und fand es erstaunlich, was sie dabei für eine Energie entwickeln. Ein kleiner Eindruck von einer seiner Lesungen aus dem Original Seudo hier (es beginnt bei 0‘05“ mit dem Text No te pido que
²).

Wenn man das ganze Buch gelesen hat, spürt man auch eine gewisse Melodramatik, die aus den mitschwingenden politischen und familiären Themen rührt. Hier trifft Familientragik auf politische Machtverhältnisse.

Etwas pathetisch ausgedrückt könnte man sagen: Es sind schlanke, starke Gedichte, mit poetischer Geste hingeworfen und dabei nicht nebensächlich säuselnd. Sie sind weder laut noch leise, weder jung noch alt. Sie sind einfach da. Und ich hatte immer wieder das Gefühl, dass der Autor teilweise selbst erstaunt war, was da plötzlich Gedicht geworden ist. Aber: die Texte sind dennoch sperrig und machen es ihren Lesern nicht immer ganz leicht. Sie scheinen anfangs leichter als sie sind.

Dabei kann man Gambarotta auch als Ritter der Pointen sehen, als Punchliner. Pointen bestehen bei Gambarotta z. B. auch in metrischen Setzungen. Er reimt ab und zu gerne, (…) lo que digo lo leo / lo que bebo lo meo (…), übersetzt mit was ich sage, lese ich / was ich trinke, pisse ich. Oft kommt der „Knaller“ dann tatsächlich im letzten Wort oder in der letzten Zeile. Damit wird es manchmal geradezu erwartbar. Die Wendung als solche ist andererseits am wenigsten erwartbar, sofern sich noch ein völlig neuer Sinn ergibt, – ein Verfahren, das manche deutsche Schreibschule als inkommensurabel ablehnt.

Die seltsamen Insekten, die der Sommer mit sich bringt
der Tigre-Tee, der Elefantenmond, die Tour de France
die Reptilienredaktion, der semitische Name, 18
Entlassungstelegramme, singende Knochen:
All das begegnet dir, weil du barfuß gehst.


Ich habe lange keinen Gedichtband mehr freiwillig (!) mit einem so hohen Maß an Vergnügen
³  gelesen wie den 2017 übersetzten Band Pseudo.

Vom Verursacher der plattgedrückten Minifrösche
erreicht uns eine andere interessante Theorie:
der Fischer hat keine Flausen im Kopf
der Mechaniker ist ein ernsthafter Mann
aber der Bassist ist ein Familienmensch.


Wenn ich oben schreibe, dass die Texte leichter scheinen als sie sind, hat das damit zu tun, dass man erst allmählich erkennt, dass es eben doch nicht lauter Solitäre sind, die sich ganz zufällig arrangieren und noch zufälliger ganz hübsch zusammenpassen, sondern es ist tatsächlich eine Gesamtkomposition. Das wurde mir erst relativ spät vollends bewusst.

Ab und zu scheint es, als machten die Texte sich im Stillen über vieles lustig; als amüsierten sie sich diebisch über all die bemühten Deuter und Gedichteversteher, die möglicherweise endlich den versteckten Sinn hinter all dem erfahren möchten. Das ist kein lauter Spott, keine beißende Ironie, sondern eher eine gutgelaunte, verschmitzte Komik. Ich ärgere mich, dass ich Gambarottas Lesung in Berlin verpasst habe.


Er sah, aber das, was er sah
war neben dem
was er sehen
wollte.


Immer wieder geht es um Blickverschiebung, darum, noch einmal neu und anders hinzusehen auf die Dinge. Ein implizites Déjà-vu dieser Gedichte. Die Beziehung der Dinge zu ihren Wörtern wird diffizil und muss immer wieder neu definiert werden.

Zuallererst
ein Elektriker ist kein Elektriker
sondern ein Mann, der als Elektriker arbeitet

(...)


In einem anderen Gedicht unterstreicht das lyrische Ich, dass es glaubt, was es sieht: (…) von dieser Barkasse die Karkasse / eines Hausboots / seh den fauligen Himmel – in dem man die modrigen Pilze aus dem Chandosbrief nachklingen hören könnte.

Es ist dieser unverschämt lakonisch melodiöse Sound.

Suena el trueno bueno.


Bei diesen Texten hatte ich fast immer den Eindruck, es gehe da um etwas, was nicht von Anfang an ein Gedicht hat werden sollen, sondern als bildeten und formierten sich fast ungewollt Worte, die da waren und einem Eindruck nachspürten – im Versuch, etwas, womit man sich noch nie genauer befasst hat, in den Blick zu nehmen. Der dann auch missglücken kann. Manches davon wirkt, als hätte es viele Stadien der Desillusion, ja der alltäglichen Frustration durchlaufen und jemand hätte am Ende dann die einzig gültige Form, so absurd und tragikomisch sie wirkt, behalten. Und an dieser Stelle hat der Autor spontan beschlossen, das festzuhalten, auch wenn dieser Gegenstand in seiner letztgültigen Ausdrucksform mitunter krude und sperrig war. Dennoch sind die Texte in dieser Haltung auch sehr impressiv. Es gibt einen Abschnitt, wo es um Blitz und Donner geht, es sind exakt zehn Gedichte, mittendrin der Text


Klapp, klapp, klapp
klappern die funkelnden
Knochen der Zukunft.


Auch wenn manche Leser anno 2000 sicher der Meinung waren, dass dies hier alles Mögliche sei, nur keine Poesie, hatte ich durchweg den Eindruck: Das ist echt; endlich einer, der sich mit den Dingen beschäftigt, um die es geht. Und damit meine ich: es ist am wenigsten hauchdünne artifizielle Papierlyrik. Es wirkt gleichermaßen „aus dem Leben“, jedoch eben ohne eine oft bemühte Notwendigkeit. Es steht kein Wort zu viel da. Es sind schlanke, „un“geschwätzige Gedichte. Und sie halten trotzdem den Finger genau drauf.

Wo drauf genau? Schon im allerersten Text des Bandes wird in der Beschreibung der Bananen stellvertretend die Jugendlichkeit und gleichzeitig die Freiheit besungen, abzuhauen
, das bedeutet hier: etwas hinter sich zu lassen, ohne wirklich eine Perspektive zu haben. Es geht nicht um die Bananen, sondern um das, was damit stellvertretend gesagt wird und vor allem wie es gesagt wird. Es gibt zwei Autoren, bei denen es mir ähnlich ging, beides seltsamerweise Prosaautoren aus der Mitte der 1990er Jahre: Douglas Coupland mit Generation X und Shampoo Planet. Und noch mehr David Foster Wallace, dessen Infinite Jest etwa zeitgleich erschienen ist. Sie verfolgen ähnlich subjektive Listen.

Dieser kleine Planet
mit seinen gutmütigen Polypen
seinen Sonys, der Koreaflagge
seinen Postkarten vom Orinoko, dem Mangel an Platten
seinen Gerichten auf Fischbasis.


Die es schaffen, in ganz wenige Worte vignettenhaft eine ganze (Gefühls-)Welt einzuwirken, eine Form der Projektion, wo der Brumaire Revolution bedeutet und der soldador (in dem der Soldat anklingt) den eigenen bestohlenen, im Stich gelassenen Vater und die montonera
vielleicht jener Teil des lyrischen Subjekts ist, der aufbegehrt – und Pseudo vielleicht nur ein Selbstschutz, mit dem man sich durch ein paar gute Lügengeschichten rettet? Und das Personal der Gedichte nur die Facetten einer multiplen Persönlichkeit?

Irgendwann wird man hellhörig und beginnt zu überlegen, was dieser titelgebende Pseudo eigentlich für ein Typ ist. Inwieweit und wozu er mit seinem Antagonisten Arnaut, den er fragt und anruft, imaginäre Dialoge führt. Doch Pseudo wird ebenfalls angerufen. Er
hat seine Eltern abserviert, sogar bestohlen, er sympathisiert mit den Revolutionären, mit der Arbeiterklasse, die voller Mehl ist. Dieser Strang kommt relativ beiläufig in die Gedichte, so wie einige Stränge, die wiederkehren, relativ beiläufig eingezogen werden. Immer wieder wird argentinische Geschichte angerissen. Politische Einsprengsel tauchen auf. Familien werden zerrissen, es geht um ein Sichwidersetzen der Diktatur. So spielt die montonera bald eine Schlüsselrolle. Diese montonera umweht ein Hauch von Revolution, auch da, wo es z.B. um den 18. Brumaire geht. Im kleinen Glossar am Ende wird erklärt, sie sei ein weibliches Mitglied der Movimiento Peronista.

Immer wieder wird ebendiese Pseudofamiliengeschichte von weiteren Aspekten
beleuchtet, soldadora (Schweißerin, Schweißgerät) kommt mehrfach vor und immer wieder klingt darin auch der tragische Plot an, der im Schlüsseltext auf S. 48 aufgelöst wird, die montonera taucht wieder auf, fast als wäre das Ganze eine kleine Orestie; eine Art unbekümmerte Selbstanklage eines Atriden?

(…)
Dann klaute ich meinem Vater das Geld,
dem besten Eisenwarenhändler der Welt,
verpfändete den Rosenkranz meiner Mutter
hatte das Masturbieren satt
und kaufte mir eine Yamaha Gitarre in matt
und mit dem Geld fürs Kruzifix
ein Busticket und war weg wie nix
verwarf den Rat meines Großvaters, der General war
und färbte mir das Haar


Meine Beziehung zu meiner Familie war dahin
Ich wurde eine Siebziger-Jahre-Anarchistin
eine montonera – klandestin.


Erst am Ende dieses Textes klärt sich auf, dass er aus Sicht der montonera geschrieben ist, einem weiblichen lyrischen Ich. Dieses schlüpft schon vorher in anderen Texten in eine weibliche Rolle. Es gibt viele Geheimnisse, viele gedroppte Namen, es lässt sich dabei nicht völlig klären, wer Arnaut ist, welche Rolle Celine spielt, Juan Radar oder der Pachuco
, mit dem wir uns zugedröhnt haben, und warum San Martín, der Politiker Luis Donaldo Colosio u.v.a. erwähnt werden. Inmitten von chinesischen Fantasienamen fällt der Name des Dichters Bei Dao der eine Edition / seiner Lügen liest, anderswo wird Mao erwähnt und der 5. Buddha. Es gibt Texte, die über mehrere Seiten hin miteinander korrespondieren wie Fortsetzungsgedichte. Man kann die Texte im Buch als ein Ganzes sehen und somit auch als ein Langgedicht rezipieren. In gewisser Weise könnte man es sogar als Prosa lesen. Es gibt Figuren und Motive, die immer wieder auftauchen, es gibt sogar kleine Plots. Je weiter man in der Lektüre vordringt, desto mehr verändern sich die Gedichte. Im letzten Drittel beginnen sie für eine Weile „flächiger“ zu werden und mehr Text „aufzuhäufen“. Sie werden prosaischer und gleichzeitig eloquenter, werden zu Fließtext ohne bewusste Zeilen(brüche). Alle vorherigen Gedichte form(at)ierten sich zumindest rein optisch in Verse. Diese Gedichte habe ich als die sperrigsten empfunden, darunter richtige „Bretter“:

Die, die in dem Auto fuhren, kann man auf verschiedene Weise
sehen. Aber defintiv waren sie ein Haufen Idioten, angeführt von
einem Gelehrten mit einem Heineken-T-Shirt, der den Wahnsin-
nigen gab. Er hatte einem Küken die Akrobatik des Protokolls
beigebracht, er und seine 18 Jünger fütterten das Küken mit einem
gefährlichen Wortschatz, um ein paar Eis-Schlecker-Dandys zu
entthronen, die nicht wissen, zu welcher Klasse sie gehören.


Es gibt in manchen Gedichten auch einen Machismo-Anteil. Die Texte treffen dann Wertungen, „teilen aus“, das könnte man jetzt der „südländischen Seele“ zuschreiben, mit ähnlicher Verve, wie immer behauptet wird, die südländische Dichtung sei per se pathetischer, um das Klischee vollends zu bedienen.

Der Tee im Kessel
der Wein im Glas
Arnaut in seinem Zimmer
den Schwanz in seiner Hand


Was an dieser Stelle gesagt werden muss, dass die Texte schon über 17 Jahre in der Welt sind und somit eigentlich schon auch als „historische“ Texte rezipiert werden können. Alles, was an Motiven auftaucht, bedient sich selbstredend einer hohen Selbstironie, man könnte auch von kolportierter Rollenlyrik sprechen. Nicht zu vergessen: Es sind Pseudogedichte, Lügengedichte, das lyrische Ich ist multipel.

An dem einsilbigen Nachmittag: allein
die Flamme, die dein Lötkolben speit

En la tarde monosilabica: es una /
la llama que escupe tu soldadora


Für die Übersetzung Timo Bergers kann ich mich sehr erwärmen und finde sie sehr gelungen, gerade dort wo sie die Lakonie gekonnt umsetzt. Allein die obige Stelle finde ich suboptimal, zumal nur ein Schweißgerät Flammen speit und kein Lötkolben.

Fläschchen.


Hier haben wir ein Gedicht, das aus einem einzigen Wort besteht, bei dem es schade ist, dass die Übersetzung den Plural nicht deutlich hervorhebt. Man hat zwar das Original Botellitas gleich anbei. Aber Fläschchen klingt, zumindest in der Einzahl, eher nach Baby und Milupa. Ein häufiges, durchgängiges Motiv der Gedichte ist indes ein Umkreisen des Alkoholproblems. Es geht vielfach um Flaschen, Wein und Drogen, um ein Sich-Zudröhnen. Es geht um Geld für Getränke. / ein Trip für sechs Peso, es gibt eine Frucht mit Biergeschmack und dass eine Frau Wasser aus einem Glas trinkt / in dem vorher Wein war. Das Ragout soll die Nudeln färben wie Bordeaux, anderswo trinkt man Wein aus einer Melone. Es geht um Flaschen, die angeschaut werden und zurückblicken. Der, der zwischen / Alkoholpflanzen und angebranntem Brot lebt.

Alles in allem erscheint Pseudo als ein riesiges Mosaik, in dem man immer neue Dinge erblickt und das bei seiner irrwitzigen Vielfältigkeit dennoch sehr geschlossen wirkt. Ein Gedichtband, in dem die Dinge neu in den Blick rücken, die Gegenstände einen anblicken und die Gedichte eigentlich ihre Leser lesen.

Wenn du das Brot neben
die Bananen in den Korb legst
bekommt das Brot
einen Bananen-
geschmack
aber wenn du mich fragst
wie es so spät
werden konnte
muss ich passen: ich weiß es nicht.


Martín Gambarotta wurde 1968 in Buenos Aires (Argentinien) geboren, wo er heute lebt. Pseudo ist seine erste eigenständige Veröffentlichung in deutscher Sprache. Der Band erschien im Original als Langgedicht Seudo im April 2000 bei Ediciones Vox, Editorial Vox Bahía Blanca. Mit der Übersetzung Timo Bergers legt die engagierte brueterich press einen weiteren Gedichtband fremdsprachiger Lyrik vor.

Im folgenden Interview spricht Gambarotta mit Cervantes TV über seine Beziehung zur Poesie und seine literarischen Einflüsse.

___________

¹ In Wirklichkeit oft eher worthülsenhaftes, “ausgelutschtes” Repertoire.
²
Im Band S. 15.
³
(Oder Anteilnahme? Leidenschaft!? Auf alle Fälle mehr als bloßes Interesse.)

Ebenso ein Motiv der Texte: Ich zog von Zuhause aus / verließ meine Mutter, die Betschwester / verließ meinen Vater, den Eisenwarenhändler / ich machte die Biege mit ihrer ganzen Kohle.
Eine Stadtguerillera, s. a. https://de.wikipedia.org/wiki/Montoneros. Montonera ist auch die Bezeichnung für eine “bewaffnete Privatarmeen mächtiger Großgrundbesitzer “ (Wikipedia)

(Sofern Pseudo in die Rolle des lyrischen Ichs schlüpft)

(…) Mein Großvater, der General, machte ein Vermögen damit / Möbel von Verschwundenen zu verhökern /und schimpft heute über die Siebziger.
Diese Spur wird früh gelegt: Das Foto einer montonera mit den Haaren im Gesicht. / Sie sah aus wie Elektra in Trance (…) Wo war ich bloß? Ob es stimmt, dass Elektra / ihren Vater ermordete? Was für Fragen sind es bloß?

 https://de.wikipedia.org/wiki/Pachuco


(Originalausgabe s. https://voxediciones.wordpress.com/2010/03/16/martin-gambarotta)

Martin Gambarotta: Pseudo. Gedichte. Spanisch / deutsch. Übersetzt von Timo Berger. Berlin (BRUETERICH PRESS) 2017. 172 Seiten. 20,00 Euro.

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