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Martin Andersson: Gleichzeitigkeit von Geschmacklosigkeit und Sterilität

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Martin Andersson

Gleichzeitigkeit von Geschmacklosigkeit und Sterilität


Der Geschmack kann keine Theorie sein, ist nicht ableitbar. Der Geschmack geht von Traditionen und Autoritäten aus, denn beides kann man nachzuahmen versuchen, und beides zu brechen ist eine moderne Berufung, deren spiegelfechterisches Nachleben uns selbst heute noch die Nerven mit vager Elektrizität zucken lässt. (Bis man gewahrt, wie schwierig es ist, heute noch Traditionen und Autoritäten aufzutreiben). Außerdem ist der gute Geschmack in seinen sozial-ökonomischen Funktionen nur allzu durchschaubar: jede Gesellschaftsschicht schließt die gerade darunter-liegende aus; unpraktischer Ramsch, den man auch billiger haben könnte, ist auf die ein oder andere Art als geschmackvoll etikettiert, um verkauft zu werden, und eine moderne Volks-wirtschaft könnte ohne Wertschöpfung im Imaginären nicht bestehen; und alles in die Tarnkappe des Unzählbaren gehüllt unter der verlogenen Anmutung, man könne Geschmack nicht lernen, man habe ihn oder nicht. Aphorismen, Romane, Soziologie: an Analysen fehlt es nicht. Auch verteidigen muss man den guten Geschmack nicht, denn soweit es sich um ein soziales Phänomen handelt, entsteht er von selbst, und der Ungeschmack zugleich, ohne den er nicht sein könnte oder wollte. Dass der Welt die Eitelkeit ausgeht, ist ja nicht zu befürchten.

Es gibt natürlich kalkulierte Geschmacklosigkeiten, die als Jugendkultur, Subkultur oder Kunst (oder was es sein will) dem braven Bürger Fallen stellen und sich über nichts mehr freuen, als von ihm, zu dem sie nie gehören wollten, ausgeschlossen zu werden. Jeder kann wohl für sich eine Liste bedenklicher Haarschnitte anlegen oder sich wundern, wie die Vorlieben buntscheckiger Jahrzehnte – denen selbst die größte Sehnsucht, der Gegenwart zu entfliehen, nicht das geringste an Aura abgewinnen kann – dennoch heute von verirrten Seelen zitiert werden.
           Etwas Vergleichbares gilt für die künstlerischen Ironiefinten von reflektiertem Kitsch, von traurig-gewitztem Trash. Ich will nicht dagegen argumentieren. Die Drehung der Reflexions-schraube zum Maßstab des ästhetischen Wertes zu machen, wie es aus der Moderne hervor-gegangen ist, hat seine eigene Fragwürdigkeit. Ungefähr als Genrepastiche umschreibt man schon Heinrich Heines Verwertung der Romantik, und von dort über Godard bis Tarantino gibt es sogar eine gewisse naive Süße in der reflektiertesten Ironie, die eben parodiert, was sie wirklich liebt, während sie nur zu gescheit ist, um es geradeaus fortzuschreiben. Das mag zu werweißwelchen Dissonanzen oder Widerlichkeiten führen, sie sind einfachen Anschuldigungen immer schon voraus.

Es geht mir also nicht um das, was den Geschmack als solchen wissentlich ins Spiel bringt. Die gestellte Aufgabe ist vielmehr, eine mysteriöse Formel auszusinnen, welche eine eigentümliche und unheimliche und allgegenwärtige Wirksamkeit in unserer Epoche zu haben scheint: die Gleichzeitigkeit von Geschmacklosigkeit und Sterilität.
           Man würde sie nicht erwarten. Das Geschmacklose, man sollte meinen, kann nicht steril sein, wo es doch mit allerlei Körperflüssigkeiten verbunden ist, wie man sie normalerweise in kleinen Kammern verstecken soll. Höchstens Blut und Tränen haben einen Rang in der Kunst. Eher befindet sich der gute Geschmack auf dem Weg in die Sterilität: er entschlägt sich gern einfacher Befriedigungen, vermeidet den tierischen Lebenskern, den auch der Gebildete mit der Masse teilt, hat einen Hang zum Asketischen mit seiner Glätte und stummen Monochromie und wagt sich selbst kaum an den Humor.

Wer Wien als Bewohner oder Besucher kennt, hat es vielleicht schon bemerkt: Es ist eine Stadt, in der Ästhetik ein Synonym von Putzen geworden ist (und über die Müllabfuhr kann man sich auch wirklich nicht beschweren; ihrem stilistischen Gepräge wiederum lässt sich die wohlgesetzte, kontrapunktische Einheit nicht absprechen). Vor einem guten Jahrhundert hat Karl Kraus in seiner Glosse Gemeinderäte und Stadtverordnete noch die Allgegenwart von Schmutz und Kot beklagt und sich gefragt, wie man sie wohl vor dem Berliner Besuch verstecken will. Höchste Zeit, auch über das Gegenteil zu jammern.
           Peter Nobiles Theseustempel im Volksgarten ,erstrahlt in neuem Glanzʻ, wie es ohne Zweifel im Baedeker steht, und ohne Zweifel gibt ein Reiseführer die beste Auskunft über die primäre Seinsweise der Innenstadt, sodass zwar sicherlich jedes Dasein ein In-der-Welt-Sein ist, aber nicht hier im Ersten Bezirk, der nur in verstreut-dubiosen Ecken Kratzer aus Realität besitzt. Jedenfalls plagt uns die Neuglanzerstrahlung seit einigen Jahren mit dem Weiß einer Zahn-versiegelung, mit einem eigenartigen Firnis, der im wörtlichen Sinne glänzt und unseren Blick abperlen lässt. Das ist die charakteristische Glätte der Gleichzeitigkeit von Geschmacklosigkeit und Sterilität. Dieses Beispiel ist eines unter vielen, aber gehört deshalb zu den auffälligsten, weil die Restaurierung – denn es mag schon sein, dass man sich dem ursprünglichen Anstrich annähert – eine Gestalt des Bauwerks beseitigt hat, deren Ergrauen und Verwitterung ihm das Aussehen eines tatsächlich aus der Antike stehengebliebenen Tempels verliehen hatten. Dafür waren immerhin zwei Jahrhunderte notwendig gewesen. Diese Zeitdauer hatte ihre Spuren eingegraben in Kerben, Rissen, Schäden, in allem, was den Blick auffängt und trägt und hält und uns so als ganze in die aufgespeicherte Dauer einsenkt. In solchen Dingen ist für die Sterblichen „ein Bleiben“.
           Aber warum bleiben, wenn man in Bewegung sein kann. Warum in einem Haus sitzen, wenn man auf einer Straße eilen kann. Die Eigenständigkeit der einzelnen Fassaden gegenüber der Straße, die an ihnen entlangführt, zu beseitigen, ist die Moderne gerade angetreten (wie in Otto Wagners Neustiftgasse 40, wo ihm endlich die Anpassung des Wohnhauses an das Bürogebäude gelingt). Aus den tropisch wuchernden Fassadengeschwülsten der Gründerzeit oder den Traummelodien des Jugendstils Wüsten zu machen, benötigte eine Energie, die nur aus der Polemik stammen konnte. Ihr ursprünglicher Sinn kann nicht mehr empfunden werden, und doch ist die Verwüstung Standard und bestimmt Masse und Durchschnitt (und die Betrachtung einer Stadt findet nicht als Isolierung eines Kunstobjekts statt).
           Auch im einstigen Ornamentalismus wurden zahlreiche Gebäude sehr billig und nach-lässig errichtet, bei entsetzlichen Lebensbedingungen für viele. Die berühmten städtischen Wohnbauprojekte der Zwischenkriegszeit mögen einerseits deren Erbschaften sehen lassen, in gotisierenden Spitzbögen, in ornamentisierenden Fensterpartien oder im Fortleben des Skulp-turenschmucks. Andererseits sind sie dennoch offenkundig von einem eigenständigen, ästheti-schen Bedürfnis geprägt, das im sozialen Wohnbau der Nachkriegsjahrzehnte völlig abwesend ist. In vielen weiteren Immobilien ohnehin. Als hätte man irgendwann einfach aufgehört, sich Mühe zu geben. Zu den Nachteilen verwüsteter Fassaden gehört außerdem, dass sie schlecht altern. Aus so etwas wird keine Ruine. Sie sind nur schmutzig (das gilt insbesondere für ,Plastikfrontenʻ) und nicht verfallen, überwinden auch hier nicht ihre Sterilität, sondern sind gealtert, ohne je gelebt zu haben. Doch so gut wie alle Fassaden sind alt, der Neubauten sind immer nur wenige und nur für kurze Zeit erinnern sie zumindest so halbwegs an die leuchtenden Bilder in den Computeranimationen noch unrealisierter Projekte. Wo Gebäude einmal vom Russ geschwärzt sind, ist selbst die billigste Ornamentfassade einer epigonalen oder überhaupt unbewusst gewordenen Moderne überlegen.
           Ein wichtiges Element der ruchlosen Flächigkeit, an die wir uns haben gewöhnen müssen, ist die Auslöschung bestimmter geringfügiger und dezenter Ornamente, die mehr dazu dienten, das Haus im Raum festzuhalten, als es aufdringlich in die Straße hineinkragen zu lassen, insbesondere die Hervorhebung von Mauerecken. Und weitere Verluste liegen im heutigen Verputz, beruhend auf Material oder Auftragsweise: denn auch das Matte im traditionellen Verputz, ebenso dessen leichte Unebenheiten, lassen den Blick zur Ruhe kommen, können ihn in sich aufnehmen.

Die Gleichzeitigkeit von Geschmacklosigkeit und Sterilität schlägt sich auch in einem anderen perfiden Detail nieder: der Wahl von Schriftarten. Die Wiener Universität hat vor einigen Jahren eine Beschilderung erhalten, für welche die biedermeierliche Wendung „fein säuberlich“ keine passende Beschreibung darstellt. Sie ist Element eines corporate design, das mit allen seinen sorgsam verborgenen Kräften nach dem Attribut „einwandfrei“ strebt. Diese Schrift ist nicht dick und nicht dünn, nicht gedrängt und nicht lose, nicht stumpf und nicht elegant, ja dass sie überhaupt ist, gibt sie nur zu, weil sie es nicht vermeiden kann und soweit sie es nicht kann. Ihre einzige Eigenschaft (auch nur negativ formulierbar) ist es, Serifen zu entbehren, also jene kleinen Zacken, die Sie etwa von Times New Roman am Computer gewöhnt sind und mit denen die meisten eigentlichen Lesetexte versehen sind; sie binden die Buchstaben aneinander, zu Wörtern, und heften die Wörter wirksam an den Hintergrund. Für vereinzelte Wörter, wie auf Hinweistafeln, bieten sich die widerstandslos schnell absorbierten serifenlosen Schriften durchaus an, und wo sie schlank und klar sind, da nehmen sie auch mit Vorliebe die Konnotation sachlicher Moderne an. Nicht umsonst eignen sie sich für Bahnhöfe, einst Inbegriff einer Epoche und eines Erdteils der rastlosen Bewegung. Durch das Flugzeug mögen Züge schließlich den Beigeschmack des Gemütlichen bekommen haben, aber die Aufmachung des Betriebs versucht ein anderes Image auszuprägen, zu welchem sich solche „unsichtbaren“ Schriften gut fügen.
           Bei der Universitätsschrift entspricht auch der blaue Grund, offenbar neutral-beruhigend gedacht, einer Bahnhofsgewohnheit. Eine Universität kann aber nicht die Schriftart eines Bahnhofs wählen, beträgt der Aufenthalt von Studierenden und Lehrenden dort doch Jahre und nicht Minuten, und das Dasein ist keine Verkettung von Übergängen. Es kann sich gar nicht in Modernität (in der Übergängigkeit) erschöpfen.

Vor ein paar abschließenden Reflexionen will ich auch nicht versäumen, das Stück Kulturindustrie, das mir die Formel von der Gleichzeitigkeit von Geschmacklosigkeit und Sterilität eingegeben und aufgenötigt hat, noch ein wenig zu würdigen. Der Australier Baz Luhrmann, wie so manche vor ihm, hat Fitzgeralds Großen Gatsby verfilmt (2012) und ist dabei seiner Neigung zum bunten Prunk treu geblieben. Die Frage, warum dieser Film so viel schlechter ist als sein Romeo + Juliet (1996), könnte ein paar interessante Gedanken zur Erscheinung bringen. Während der eine Film ausschließlich in Shakespeares Versen spricht, nimmt der andere immerhin große Brocken von Erzählerrede und Dialog des Romans auf. Aber jene Verse sind, erstens, Verse, zweitens sehr viel älter und drittens besonders poetisch (vergleicht man sie zum Beispiel mit Schiller), und daher besonders geeignet, uns in jenes Märchenland zu entführen, in dem die Zauberpflanze der Kunst in die Höhe sprießt. Und wenn ein bedeutendes literarisches Werk verfilmt wird, dann kann der Film wohl nur mit einer eigenständigen und somit ebenbürtigen künstlerischen Idee überlebensfähig sein; doch Luhrmanns Gatsby wird bei jeder Abweichung vom Roman nur normaler – die Erzählung, die Charaktere, der Text. In der visuellen Dimension ist der Sog des Konventionellen am verheerendsten. Der herkömmliche Schnitt des Narrativen, der „unsichtbare“, dient dem Verständnis, gibt dem Gedanken einen angenehmen Atemrhythmus und ist in der Prosa dem Punkt am Satzende vergleichbar. Die Last einer langen Einstellung ist auch eine Voraussetzung ihrer Intensität. Doch an ihrer Stelle ernten wir die Gleichzeitigkeit von Geschmacklosigkeit und Sterilität. Es sind gerade die prasserischen und exzessiven Partyszenen, die diesen Eindruck verursachen. Sie sind in der bezeichneten Art zerschnitten, sind nach ihren Farben und Flächen nur formloses Geklingel und sind bei all dem eigentümlich asexuell. Bei Fitzgerald fehlen sie. Der Roman tut überhaupt recht wenig, um Gatsbys Reichtum geradehin zu zeigen, sodass der sprichwörtliche „fabelhafte Reichtum“ den Anstrich des Legendären behält (der Literatur fällt es, ein merkwürdiger Vorzug, leichter, nicht zu zeigen, als dem Film).
           Sicher war der Filmemacher früher kreativer, hat mehr originelle Bilder geschaffen, aber die Erschöpfung der Einfallsgabe ist mehr ein Resultat als eine Ursache. Außerdem sind eine Vielzahl von Statisten und ausgiebige Computeranimationen Dinge, die typischerweise viel Geld kosten und durch diesen Druck den Regisseur von mutigen Entscheidungen abhalten. Vor allem jedoch ist Luhrmann in der Zwischenzeit die Epoche weggebrochen, die Finanzparty der Globalisierung: dem Geld hat man seine Abstraktheit vorgeworfen, hier hat sie sich noch potenziert, zu ungreifbarer Glätte, und der Kultur das Paradigma gegeben.

Der gute Geschmack gestattet keine vollständige Glätte; irgendetwas muss uns immer ein wenig aufhalten. Das ist die Reibung des Lebens, die uns im Konkreten verankert (im Da). D.h. der gute Geschmack erlaubt seine eigene vollständige Durchführung gerade nicht. Er erlaubt überhaupt keine vollständigen Durchführungen, sondern braucht den „Stich ins Nachlässige“; eine vorder-gründige Perfektion nennt man leicht „bemüht“.
           Le Corbusier hat einmal die Meinung geäußert, dass die Perfektion in maschinellen Pro-dukten gerade ein Ideal des Klassizismus erfüllt. Er wäre vielleicht ganz zufrieden mit dem neuen Theseustempel. Aber der Reiz von Handwerk liegt nicht nur an den Ideen, die wir damit verbinden: händisch bearbeiteter Stein ist überzogen mit einer Haut von Detail selbst dort, wo möglichste Glätte das Ziel gewesen war, was fühlbar wird auch da, wo der Abstand zu groß ist, um es zu sehen. Bei Maschinenfabrikaten muss man warten, bis sich Gebrauchsspuren einstellen, damit sie endlich in unserer Welt ankommen.
           Der Blick kann aber nur dort Hindernisse im hier gemeinten Sinn antreffen, wo er sich mit Genuss und Leichtigkeit in Bewegung befindet. Darum liebt er ja glatte Flächen und richtig gekrümmte Kurven, liebt Spirale und Vertikale. Die Bewegung kann nicht stillstehen, auch wenn es keine Richtung gibt. Sie kann sich wiegen, hin und her, und so entsteht vermutlich jener ästhetische Wert, den man „Gleichgewicht“ nennt.
       Geschmack überhaupt gehört zu diesem „Blick“, d.h. setzt voraus, dass man etwas anschaut. Auch die Geschmacklosigkeit hat also etwas zu sehen gegeben, aber nicht über Fläche und Kurve, nicht zwischen Gestalten im Raum sind wir gereist. Es wäre schon ungenau zu sagen, dass wir durch das Nichts fallen. Wo der Blick nicht Fuß hat fassen können, waren wir überhaupt nicht da. Den Ankerpunkt für alles Gefallen oder Missfallen hat es überhaupt nicht gegeben. Auch jenes Sprießen neuer Verbindungen, das Fruchtbarkeit heißen könnte, kann nicht stattfinden: zu nichts kommt nichts.
           Was man sogar landläufig das „Antiseptische“ nennt, was auch der „Kommerz“ ist, was die Blockbuster sind, die möglichst jeder mögen soll, was eine Sprache ist, die nicht sprechen kann, weil sie nicht unterscheiden soll, was ein Leben ist, das nicht lebt, weil es nicht sterben kann, und eine Bewegung, die keinen Grund hat, um sich von ihm abzustoßen: das ist die Gleichzeitigkeit von Geschmacklosigkeit und Sterilität.


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