Markus R. Weber: vor augen
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Michael Braun
In der Vorhölle der Sprache
Markus R. Webers enzyklopädisches Gedicht-Projekt „vor augen“
Leidenschaftliche Augenmenschen neigen manchmal zum freiwilligen Martyrium. Der junge Isaac Newton zum Beispiel, ein Pionier in der Erforschung des Lichts und optischer Instrumente, nutzte in einem Selbstversuch eine lange Nadel, um sie unter Schmerzen in die Augenhöhle einzuführen, um herauszufinden, ob sich unter bestimmten Bedingungen die Farbwahrnehmung verändern lässt. Der Seefahrer, Kartograph und „Mondbeobachter“ James Cook nahm Mitte des 18. Jahrhunderts gewaltige Strapazen auf sich, um auf einer Insel im Südpazifik ein Observatorium zu errichten, das es ermöglichen sollte, die Abstände aller Planeten in unserem Sonnensystem zu berechnen. Solche Urszenen der Wissenschaftsgeschichte und der Wahrnehmungskunde umkreist ein einzigartiges enzyklopädisches Gedichtprojekt des Schriftstellers Markus R. Weber, das über viele Jahre keinen Verleger fand, bevor jetzt endlich die für alles Widerständige aufgeschlossene Brueterich Press von Ulf Stolterfoht den poetischen Rang dieses Unternehmens erkannte und die 236 Seiten dieses lyrischen Epos veröffentlichte. In acht großen Kapiteln
stellt Weber in „vor augen“ einige epochale Welt- und Naturforscher vor, die
ihr Leben der Vermessung der Welt und der Erforschung unserer Wahrnehmung
gewidmet haben: den schwedischen Arzt und Klassifikations-Fanatiker Carl von
Linné, die Universalgelehrten Isaac Newton und Leonardo Da Vinci, die großen
Forschungsreisenden James Cook und Alexander von Humboldt, die Gebrüder Wright
und ihre Phantasmen des Fliegens, den Evolutionstheoretiker Charles Darwin und
den Physiker und Philosophen Werner Heisenberg. Ein vergleichbares Projekt hatte Hans Magnus Enzensberger bereits 1978 auf den Weg gebracht: sein „Mausoleum“ mit insgesamt siebenunddreißig „Balladen aus der Geschichte des Fortschritts“. Während aber Enzensberger eine kühle Außenperspektive einnimmt und seine Helden mit subtil collagierten Zitaten in ihrer wissenschaftlichen Hybris und ihrem privaten Scheitern vorführt, taucht Weber tief ein in die Denkwelten, Träume und Phantasmagorien seiner Protagonisten und kombiniert sie mit eigenen, assoziativ angelagerten Wörter-Phantasien und Bildwucherungen. So entstehen elliptisch gebaute, oft zerstückte und fragmentierte Verse, die nicht etwa bieder-linear die Biografie der Fortschrittspioniere nachzeichnen, sondern ein Kraftfeld aus geistigen Energien aufbauen, in denen das schreibende Ich mit seinen Protagonisten verschmilzt. Der genialische Maler, Architekt und Anatom Leonardo Da Vinci tritt auf als ein Traumwanderer, der in den Sog von Nachtgesichten gerät. Ein von den Phantasmen des Imaginären verfolgtes Ich setzt sich hier auf die Spuren eines rätselhaften Mannes (eines Doppelgängers?) und stößt dabei in die unergründlichen Labyrinthe von Höhlen, Sümpfen und Wasserimperien vor. Eine Traumphantasie der Entgrenzungen und vegetabilischen Wucherungen, die von Bildern des Begehrens konturiert wird. Leonardo Da Vinci erscheint als ein in den „strudel von aufmerksamkeit“ gezogener Akteur, ohne dass ihn eine Instanz der Vernunft oder eines kontrollierenden Über-Ich zur Ordnung ruft.
mit wachsendem dabeiseinso folgte ichihm über lehmboden und sand und steineauf denen er geräuschloshinging dem ich in einentraum folgte aus dem ich nichtwieder (stärkere strudel)vorbei an den sümpfenbis zu einer-höhle – in die ich –näherte ich – mich – der – höhle „mitangst und verlangen“dies kann nicht passierendemder seine augen aufeinen sterngerichtethataufwasser, das aus einem schleusentor schießt, u. dabeiin wirbeln verschlingungen v. haaren, blumen u. farnenlilien aus fleischschließmuskel, diesich öffnen und schließen wie wasserstrudel
Das Kapitel zu
Da Vinci („Horror Vacui / LEONARDO / Splendor Vacui“) zitiert nicht nur den
metaphysischen Schrecken, sondern auch ein amerikanisches Comic-Magazin
(„American Splendor“).
Eröffnet wird das
lyrische Epos mit einer faszinierenden biografischen Einkreisung des
Naturforschers Carl von Linné, der mit seinem enzyklopädischen Ehrgeiz auch den
Schriftsteller Weber stimuliert hat. (Dieses erste Kapitel des Bandes ist
bereits 2001 als kleine Schrift im Verlag Ulrich Keicher erschienen.) Linnés
großes Projekt war die akribische Vermessung und lückenlose Klassifizierung des
„großen Alphabets der Natur“. Jede Erscheinung der lebenden Welt wollte er am
Ende des 18. Jahrhunderts erfassen und mit einem lateinischen Namen versehen.
Die Hybris dieser „Grammatik des Messbaren“ hatte auch schon Enzensberger in
seinem „Mausoleum“ zum Widerspruch gereizt: „Im Schaum der Erscheinungen steht
diese Sprache still.“ Bei Markus R. Weber wird der
Pfarrerssohn Linné, der sich schon als Zehnjähriger darin verlor, Pflanzen zu
sammeln, zu pressen und nach lateinischen Namen zu ordnen, geradezu als
Idealtypus des Dichters vorgestellt: „Der die Welt nicht/ versteht, beginnt sie
zu lesen.“ Und im Linné-Kapitel findet sich auch die primäre Erkenntnisformel
für die Suchbewegung aller Figuren – und die des Autors: „WER IN DIE REICHE DER
NATUR HINEINKOMMEN WILL, MUSS / DURCH DIE VORHÖLLE DER SPRACHE…“ Die große
Kunst des Schriftstellers Weber besteht darin, dass er seine Leser in diese
Vorhölle, in diesen Limbus zwischen wissenschaftlicher und metaphysischer
Wissbegier einerseits und poetischer Logik andererseits hineinzuschleudern
versteht. In den Kapiteln zu „Leonardo“ und zu „Newton Ein/Aus“ entwirft Weber
dabei opak funkelnde Erkenntnisreisen, bei blitzschnellen Wechseln zwischen metaphysischer
und poetischer Perspektive, zwischen den wissenschaftlichen Fragestellungen
seiner Helden und eigenen bildstarken Imaginationen. „Ich will alles wissen,
was von einem gewissen punkt aus möglich ist“: Dieses in das Newton-Kapitel integrierte
Zitat darf wörtlich genommen werden: Jede Seite dieses enzyklopädisch
ambitionierten Gedichtbuchs vibriert vor Erkenntnishunger.
Markus R. Weber: vor augen. Berlin (Brueterich
Press) 2017. 236 Seiten, 20,00 Euro.