Markus Hallinger: Ortszeit (1)
Montags=Text
Markus Hallinger
Ortszeit (1)
2. August 2019, 6 Uhr früh, leichter
Nieselregen bedeckt den Garten. Es ist kühl.
Am Hof gegenüber werden die Stalltüren geöffnet, in der Milchkammer brennt
Licht, im Radio laufen erste Tagesnachrichten. Ein Hubschrauber kreist, die
Schwingungen der Rotorblätter überlagern das Zwitschern der Vögel, im Gesträuch
hüpft eine Amsel. Ich wechsle von einem Stuhl auf den anderen.
Boris Johnson setzt seinen ersten
Tweet am Tag auf Twitter ab. Das Containerschiff Mary Jane läuft nach 1
stündiger Wartezeit in den Hafen von Calais ein, die Mannschaft ist
übernächtigt; währenddessen packt Johnsons Chauffeur Kaffee und Kekse auf den
Rücksitzt des Wagens, in eine Kühlbox Sandwiches, in der Milchkammer beginnt es
zu Brummen, die Mary Jane stoppt die Motoren. Die Container sind gefüllt mit
Fleisch, die Kühlaggregate laufen auf Hochtouren, Trump fühlt sich in Bestform
und postet: what a great day, Drohnen kreisen über der Straße von Hormus, ein
nächtlicher Anschlag erschüttert Kabul, das Mare Nostrum liegt unbewegt und
flach in der Sonne, in den Tourismushochburgen werden die Liegestühle
ausgeklappt, Lappland brennt und in Tokio verspätet sich die U-Bahn wegen einer
Schlägerei, das Bild eines verhungerten Orang-Utans in Borneo wird auf Facebook
gepostet, Gauland schreibt: er werde in Sachsen für Deutschland kämpfen, Julia Klöckner
nimmt ihren Urlaub wieder auf und verschwendet keine Gedanken an Lyrik und
Webmuster.
Wo auf der Empfindlichkeitsskala
bewegen wir uns? Die Sicht ist abgedunkelt, die Vorhänge zugezogen oder mit
Folie bedeckt. Wenn man an den Ecken zieht, werden Schwundmaße, Jahrringverbrauch,
Sekundenliter sichtbar. Wie schnell doch die Zeit vergeht und auf einen Kern
zusammenschrumpft. Unsere Übereinkünfte, haben wir gelernt, sind verrückbar,
und wir schieben die Dinge hin und her. Wir stellen ständig um, so dass es
praktisch ist. Ordnung entsteht wie aufgeräumt wird. Ein stabiles Gefüge sieht
aber anders aus.
Eine Libelle tanzt auf den Wogen.
Blau, grün ist das Meer, vom Weltraum aus gesehen, zwischen Brandflecken und
nächtlicher Beleuchtung, es blendet, und Ohr und Auge nehmen nur mehr
Interferenzen wahr, die großen Städte liegen megahell gepunktet an den Küsten.
Es herrscht Ausnahmezustand täglich. Was vor die Füße fällt, ist ein
undurchsichtiger Haufen – ich identifiziere Istanbul, Kairo, Los Angeles, wie
Dioden an einem Mischpult -
Soundcheck, Bewegung in Analogien und
Anatolien, der Mittlere Westen als Song aus Dylans Repertoire, Waldhörner aus
Tirol, Kehlgesang in der Taiga, Fado in Lissabon, röhrende Hirsche, brüllende
Löwen, die Verzweiflung des Eisbären. Sieh da, da bläst er, unter Fahnen segeln
Taipeh, Hamburg, die Fidschi-Inseln – Salvini schläft gut, heißt es, und der
Papst sei mit sich im Reinen, Orban frühstückt 2 Eier und mein Nachbar kocht
gerade Kaffee und legt sich die Zeitung zurecht.
Siehe auch "Ortszeit (2)" »