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Markus Hallinger: Fragmente von Überlegungen

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Markus Hallinger

Fragmente von Überlegungen




(Gerade bin ich der Meinung. Morgen habe ich eine andere.)

1993 schreibt Thomas Kling: „Der Dichter ohne große Aufmerksamkeit auf dem sogenannten „freien Markt“ im unaufhörlichen Informationsbeschuß – ein altes Thema. Hören Sie, was der fast vierzigjährige Petrarca in einem Brief an Francesco Nelli schreibt. Mailand 9.August 1352: … Ich will, daß mein Leser, wer es auch sei, nur an eines denkt: an mich, nicht an die Verheiratung seiner Töchter, nicht an die Nacht bei der Freundin, nicht an die Intrigen seiner Feinde, nicht an Bürgschaften…. und daß er, zumindest solange er mich liest, bei mir ist. Wenn er mit Geschäften überbürdet ist, soll er das Lesen aufschieben, sobald er sich aber anschickt zu lesen – da soll er die Last der Geschäfte und die Sorge um seine Privatangelegenheiten von sich werfen und seinen Sinn auf das richten, was er vor Augen hat…
    Das kommt bekannt vor: Der Leser, der mitten in den alltäglichen Geschäften steckt, hat keinen Kopf für Dichtung. Potenziert als Aufmerksamkeitsdefizit heute.

Ob ich den freien Kopf habe, der sich in Schwingung versetzen lässt? Ich kann den Texten folgen, ich kann sie bewundern, wie ich im Zoo exotische Tiere bewundere, mich verblüffen lassen, aber sie bewegen mich selten. Eine Bewegung, die mich mitnimmt im wörtlichen Sinn. Die Bewegung zu dem anderen Ort hin, der im Text aufgespannt wird. Da geht etwas vor, passiert, aber nicht nur in der Theorie und in der Sprache. Es passiert tatsächlich. Dazu braucht es Füße, die sich bewegen und mitgehen, Hände, die etwas fassen, den Kopf, der sich hebt und dreht. Augen und Ohren. Manchmal auch die Nase, öfters den Tastsinn. Ich verlasse meinen Standpunkt und bewege mich zu diesen anderen Ort hin.

Sprache verknüpft. Wörter, Begriffe sind die Knoten eines Teppichs. Von diesen Knoten aus, die ich mir auch wie Verkehrsknotenpunkte, große Kreuzungen, vorstelle, laufen eine unendliche Anzahl an Fäden, beziehungsweise Straßen. Ohne Knoten wüsste ich nicht, wo ich mich befinde. Ich ginge auf diesem endlosen Teppich verloren und würde in die Abgründe zwischen den Wahrnehmungs- und Denkbahnen stürzen. Die Knotenpunkte müssen mir bekannt sein, zumindest bekannt vorkommen, um mich orientieren zu können. Ich taste das Umfeld ab.
    Erstaunlich, dass mir, sobald ich mich auf den Teppich begebe, jeder Knotenpunkt als der Zentrale erscheint, von dem aus alle weiteren Knoten geknüpft scheinen. Egal wo ich bin, immer befinde ich mich in der Mitte. Aber alles um mich herum wechselt, changiert, und ich kann mich nicht darauf verlassen, wenn ich ein Wort wiederholt aufrufe, von den immer gleichen Wörtern umgeben zu sein. Ich wiederhole, befinde mich aber plötzlich ganz woanders.

In dieser Unsicherheit bewege ich mich.

Wie lässt sich aus diesem Gewirr aus Wahrnehmung und Sprache – etwas Wichtiges heraus lösen? Denn dieses Netz ist elastisch, es krümmt sich, ist dreidimensional im Raum aufgespannt und in ständiger Veränderung der Form. Es ist nicht zu durchstoßen, und einzelne Fäden sind kaum zu fassen. Es federt, gibt nach und meist hat man einen ganzen Knäul in der Hand. Es liegt die Vermutung nahe, dass sich mit unserer Wahrnehmung und dem Denken (Schreiben) über diese Wahrnehmung ein Paradigmenwechsel vollzieht, wenn nicht längst vollzogen hat.  –  Ähnlich der Physik zu Anfang des 20.Jahrhundert, weg von der mechanischen Welt und dem linearen Denken, bewegen wir uns in einer Mehrdimensionalität, die versucht Gleichzeitigkeiten aufzunehmen.

Die Gefahr dabei, dass das Ganze auch eine mediale Falle ist, die uns Unbegrenztheit vorgaukelt und fremde Wahrnehmung als unsere eigene, etwas womit Facebook, Twitter etc. arbeiten, um ihr Geschäft zu machen, ist nicht zu unterschätzen.

Es gibt keine Gründe, es gibt nur Vermutungen.

Keine Pädagogik. Sondern Vorführung. Vorführung des Materials und der Möglichkeiten, die die Sprache bietet. Dekonstruktion. Realitätsschnipsel. Zitate. Versteckte Anspielungen. Verdrehungen. Aufgelöste Grammatik und Orthographie. Höherer Blödsinn. Und immer dabei die Hoffnung, dass sich mit Sprache und Zeichen eine eigene Wirklichkeitssphäre bildet (und sich vom Autor ablöst), die allerdings durchlöchert sein muss, um einen Blick auf das Ich dahinter freizugeben. Der Autor als Beispiel. Ohne diesen doppelten Blick, den Blick dahinter, wäre so ein Text vielleicht nicht sinnfrei, aber unsinnig, weil uninteressant, oder, falls überhaupt, nur ein Vergnügen wie es auch das Lösen eines Kreuzworträtsels bietet.

Spannung lässt sich erzeugen. Sie entsteht in einem Loch, in einem Zwischenraum. – Ein Potentialgefälle zwischen Dingen, die sich nicht miteinander vereinbaren lassen, existiert. Dinge gegeneinanderstellen, die nichts miteinander zu tun haben, und hoffen, dass Funken schlagen, ergibt, ja, Unsinn, wenn nicht eine Instanz dazwischen ist, die diese Funken abbekommt oder auffängt. Das kann sentimental sein, und oft ist es Kitsch, wie das Damals und Heute, wo die Metaphern blühn und die alten Socken im Hinterhof der Kindheit an der Wäscheleine hängen.

Zurecht herrscht eine Scheu vor, die Zustände konkret auszusprechen.

Wer die Dinge benennt, hat schon gelogen. Und immer steht dabei der Idealismusvorwurf mit im Raum wie ein Klotz und blockiert jedes Gespräch. Gutmenschentum heißt das jetzt oft und bedeutet, dass man sich mit seiner Haltung außerhalb der Realität befindet. (Ausnahmen bestätigen die Regel.) Besonders die Lyrik sitzt in dieser Falle, die eine mehrfache ist. Sie verweigert sich oft der allgemein und leicht verständlichen Sprache und scheint sich vom Feld des großen gesellschaftlichen Diskurses gemacht zu haben.

Geheimsprache, ein Kode für Eingeweihte?

Literatur gelingt oder gelingt nicht. Konkret festmachen lässt sich beides kaum. Verdächtig wird es allerdings, wenn eine Erklärung der Vorgehensweise, der Schreibtechnik hinterhergeschoben wird. Alles lässt sich erklären.

Welcher Dichter würde sich als Nonkonformist bezeichnen?

Ach wäre ich doch ein Narr! Mein Verstand ginge auf keine grüne Kappe! Mit grünem Gesicht oder mit Wespennest auf dem Kopf – als Chok. Als Schlag ins Gesicht. Es gibt Performance jeder Art, aber mehr zur Unterhaltung, gegen die Langeweile, um dem Publikum etwas zu bieten. Um überhaupt jemanden hinter den Ofen hervor zu locken, muss, wird Literatur als Event inszeniert. Dass man damit eine ähnliche Sensationsgeilheit bedient, wie es zum Beispiel die Verleihung der goldenen Kamera tut, wird in Kauf genommen. Der Event schafft sich eine eigene Szene.

Eine komplexe Art von Literatur trifft auf vermeintlich dumpfe, desinteressierte Nicht-Leser.

Die Kritik, als einer der Instanzen der Literaturvermittlung, ist hilflos und willenlos, weil sie großteils ihren Gegenstand nicht versteht und nicht bewegt wird. Lyrik besitzt für das Feuilleton keine gesellschaftliche Relevanz, mit der ernsthaften Besprechung eines Lyrikbandes lockt man keine Leser. Zudem ist kein Heine in Sicht, kein Brecht, die den Deutschen den Kopf waschen könnten. Und der Literat als enfant terrible, was sich ja verkaufen ließe, diese Rolle gehört den Böhmermanns und Bohlens.  

Dichtung ist Anstrengung.

Vom höchsten Punkt einer Erhebung aus, blicke ich und werde beeindruckt. Die wilde Textlandschaft, die ich zuvor durchquert habe, öffnet sich und ich atme durch, glücklich erschöpft nach einer anstrengenden Begehung. Das Gefühl der Befreiung, die ein Erstaunen ist, ist umso größer, je mühevoller die Arbeit war. In der Anstrengung hat sich etwas verdichtet. Ich musste mich nicht nur auf mich, meine Gedanken, sondern auf den Weg, auf meine Muskeln, auf den Atem konzentrieren. Der Vorgang ist physisch. Ich werde ergriffen. Der Körper lief auf Hochtouren mit. In der Erschöpfung löst sich mein Denken.

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