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Mark Twain: Brüder, knipst ein!

Poetik / Philosophie > Glossen


Mark Twain

Brüder, knipst ein!

(Aus dem "Skizzenbuch", 1892)


Darf ich den gefälligen Leser bitten, einen Blick auf nachstehende Verse zu werfen und mir zu sagen, ob er etwas besonders Gefährliches darin entdecken kann?

»Schaffner, knips' ein das Fahrpapier,
Zahlt die Taxe der Passagier.
Acht-Cents-Fahrt ein blau Papier,
Sechs-Cents-Fahrt ein gelb Papier,
Drei-Cents-Fahrt ein rot Papier.
Zahlt die Taxe der Passagier,
Knips' ein, knips' ein das Fahrpapier!«

Chor der Schaffner:

»Zahlt die Taxe der Passagier,
Brüder knipst ein das Fahrpapier!«


Kürzlich stieß ich zufällig in einem Tageblatt auf dies Reimgebimmel und las es ein paarmal durch. Augenblicklich war ich davon wie besessen; es schwirrte mir beim Frühstück fort und fort durch den Kopf und als ich meine Serviette zusammenlegte, wäre ich nicht imstande gewesen zu sagen, ob ich etwas gegessen hatte oder nicht.

Ich trat nun an das Schreibpult, um mein Tagewerk zu beginnen, wie ich es mir schon am vergangenen Abend vorgesetzt hatte. In dem Roman, an welchem ich schrieb, war ich gerade bei einer erschütternden Tragödie angekommen. Ich griff nach der Feder, um den blutigen Auftritt zu schildern, aber ich dachte nichts als: »Schaffner, knips' ein das Fahrpapier.« Eine Stunde lang kämpfte ich aus allen Kräften dagegen an, allein umsonst.

»Acht-Cents-Fahrt ein blau Papier. Sechs-Cents-Fahrt ein gelb Papier u. s. w. u. s. w.« summte es mir im Kopf ohne Rast und Ruh. Von Arbeiten konnte keine Rede sein, das lag auf der Hand. Ich gab es auf und schlenderte in der Stadt umher, aber bald merkte ich, daß meine Füße nach dem Takt jenes Reimgeklingels marschierten. Auf die Länge ward mir das unerträglich; ich änderte meinen Schritt, allein das half nichts. Die Verse paßten sich sofort der neuen Gangart an und verfolgten mich nach wie vor.

Ich kehrte um und ertrug das Leiden zu Hause den Vormittag über, es quälte mich beim Mittagessen, welches ich mechanisch und ohne Genuß verzehrte, den ganzen Abend hindurch bimmelte es mir in den Ohren, ich ging voll Jammer zu Bett, und während ich mich ruhelos hin und her warf, wälzten sich mir immer wieder die Verse durch das Hirn, bis ich gegen Mitternacht wie wahnsinnig aufsprang und zu lesen versuchte. Aber die Buchstaben tanzten vor meinen Augen und alles was ich sah war: »Schaffner knips' ein das Fahrpapier.« Bei Sonnenaufgang hatte ich den Verstand verloren und meine Angehörigen horchten mit Staunen und Bekümmernis auf meinen Blödsinn. »Knips' ein, o, knips' ein das Fahrpapier,« faselte ich immer von neuem.

Zwei Tage später, am Sonnabend Morgen, erhob ich mich – eine jammervolle Ruine – schwankend vom Lager. Ich suchte den Pfarrer N., meinen werten Freund auf, um mit ihm, wie wir verabredet hatten, einen Spaziergang von zehn Meilen nach dem Talcott-Turm zu unternehmen. Er sah mich mit großen Augen an, lieh jedoch seiner Verwunderung keine Worte. Wir machten uns auf den Weg. Der Pfarrer sprach und sprach und sprach, wie es seine Gewohnheit ist. Ich erwiderte keine Silbe, ich hörte nichts.

»Mark, bist du krank?« fragte mein Freund endlich, als wir eine Meile gegangen waren. »Du siehst entsetzlich abgehärmt und angegriffen aus. Thu mir doch die Liebe und sprich einmal ein Wort.«

Mit trübseliger Miene versetzte ich eintönig: »Schaffner, knips' ein das Fahrpapier – Zahlt die Taxe der Passagier.«

Der Pfarrer starrte mich verwirrt an:

»Ich verstehe nicht recht, was das heißen soll, Mark. Mir scheint, was du da sagst, ist weder außergewöhnlich noch besonders betrübend – und doch – es lag vielleicht an deinem Ton – klangen die Worte so sterbenstraurig, wie mir im Leben noch nichts vorgekommen ist. Was hast du nur?«

Aber ich hörte längst nichts mehr. Ich war schon in weiter Ferne, bei der nicht endenwollenden, unabwendbaren »Acht-Cents-Fahrt ein blau Papier. – Sechs-Cents-Fahrt ein gelb Papier – Drei-Cents-Fahrt ein rot Papier – Zahlt die Taxe der Passagier – Knips' ein, knips' ein das Fahrpapier.« – Was während der übrigen neun Meilen geschehen ist, weiß ich nicht.

Plötzlich jedoch legte mir der Pfarrer die Hand auf die Schulter und schrie mich an:

»Wach auf, wach auf, ich beschwöre dich! Du schläfst ja mit offenen Augen. Dort liegt der Turm vor uns; ich habe mich taub, blind und stumm geredet und du giebst keine Antwort. Sieh dich doch um in der herrlichen Herbstlandschaft. Schau hin und weide deine Blicke daran. Du bist weit gereist und hast die gepriesensten Naturschönheiten mit eigenen Augen gesehen. Nun sage einmal deine Meinung – was hältst du von diesem Landschaftsbild?«

Ich seufzte tief und murmelte: »Sechs-Cents-Fahrt ein gelb Papier – Drei-Cents-Fahrt ein rot Papier – Zahlt die Taxe der Passagier – Knips' ein, knips' ein das Fahrpapier.« Der Pfarrer stand still und sah mich lange mit ernsten, teilnahmvollen Blicken an.

»Mark,« sagte er endlich, »ich kann aus der Sache nicht klug werden. Sind das nicht dieselben Worte wie vorhin? – Sie klingen ganz unverfänglich und doch bricht es mir fast das Herz, sie dich sagen zu hören. – Knips' ein, knips' ein das Fahrpapier – war es nicht so?«

Ich fing von vorn an und sagte Zeile für Zeile her, während mein Freund mit wachsendem Interesse zuhörte.

»Aber, das ist ja ein wahres Reimgebimmel,« rief er vergnügt, »es klingt einem in den Ohren wie Musik, alles paßt und klappt so hübsch. Ich glaube, das muß sich leicht behalten lassen. Bitte, sage es noch einmal, dann kann ich es sicher auswendig.«

Ich wiederholte die Reime und der Pfarrer sprach sie nach. Das erstemal machte er noch einen kleinen Fehler, den ich verbesserte, das zweite- und drittemal ging es aber ohne Anstoß. Mir war plötzlich eine Zentnerlast vom Herzen gefallen; das niederträchtige Geklingel plagte mich nicht länger, mein gemartertes Hirn kam endlich zur Ruhe und ein wonniges Gefühl des Friedens zog in meine Brust; ich hätte jauchzen und singen mögen. Wirklich stimmte ich auch eine halbe Stunde lang ein Lied nach dem andern an, während wir nach Hause marschierten. Meine Zunge, die wie gelähmt gewesen war, fand nun die Sprache wieder und der lange eingedämmte Redefluß sprudelte und strömte mir unaufhaltsam über die Lippen. Glückselig und jubilierend ließ ich ihm freien Lauf, bis er endlich versiegte. Beim Abschied schüttelte ich dem Freunde herzlich die Hand.

»Das war einmal ein schöner Spaziergang,« rief ich, »und wie herrlich haben wir uns unterhalten! Aber, da fällt mir ein – du hast ja seit zwei Stunden kein Sterbenswort mehr gesagt. So sprich doch etwas.«

Der Pfarrer sah mich mit glanzlosen Augen an und murmelte eintönig und, wie mir schien, ganz unbewußt:

»Knips' ein, knips' ein das Fahrpapier – Zahlt die Taxe der Passagier.«

Mich überlief es siedend heiß. »Der arme Mensch,« dachte ich bei mir, »der arme Mensch! Jetzt hat es ihn gepackt.«

Mehrere Tage vergingen, ohne daß ich mit meinem Freunde zusammentraf. Am Dienstag Abend kam er jedoch in mein Zimmer geschlichen, wo er matt und trostlos auf einen Stuhl niedersank. Er war bleich und abgezehrt, nur noch ein Schatten von seinem früheren Selbst.

»Mark,« sagte er, und hob den müden Blick zu mir empor, »das war eine Unglücksstunde, in der ich jene heillosen Reime lernte. Sie haben mich seitdem Tag und Nacht verfolgt, gleich bösen Geistern. Alle Qualen der Hölle habe ich erduldet, seit wir uns zuletzt sahen. Am Sonnabend wurde ich telegraphisch nach Boston berufen. Ein, lieber, alter Freund von mir war gestorben und ich sollte ihm die Leichenrede halten. Ich benutzte den Nachtzug; die Predigt dachte ich mir unterwegs im Kopfe zurechtzulegen. Aber ich kam nur bis zu den Eingangsworten; der Zug ging ab, die Räder begannen ihr Gerassel – klack, klack – klack, klack, klack – und sofort paßten sich die abscheulichen Reime dieser Begleitung an. Wohl eine Stunde saß ich da und sagte Silbe für Silbe zu dem klack, klack, klack, der Eisenbahn her, bis ich so abgearbeitet und todmüde war, als hätte ich den ganzen Tag Holz gehackt. Mein Kopf schmerzte zum zerspringen, ich glaubte, wahnsinnig werden zu müssen. Rasch eilte ich nach dem Schlafwagen und kleidete mich aus. Kaum aber hatte ich mich auf das Lager gestreckt, so fing die Geschichte von neuem an: ›Klack, klack, klack – Acht-Cents-Fahrt – klack, klack, klack – Ein blau Papier – klack, klack, klack – Sechs-Cents-Fahrt – klack, klack, klack – Ein gelb Papier und so weiter, und so weiter – Zahlt die Taxe der Passagier.‹ Schlafen? – Ja, Prosit! Ich war fast für das Tollhaus reif, als der Zug in Boston ankam. Frage mich nicht nach der Leichenfeier. Ich that mir übermenschlichen Zwang an, aber jeder einzige Satz war von innen und außen übersponnen und durchwoben mit: ›Brüder, knipst ein das Fahrpapier – Zahlt die Taxe der Passagier.‹ Das allerschrecklichste dabei war jedoch, daß ich meine Rede ganz in dem hüpfenden Rhythmus der entsetzlichen Reime hielt. Bald sah ich thatsächlich, daß verschiedene Zuhörer wie geistesabwesend im Takt dazu nickten. Ja, du magst mir's glauben oder nicht, Mark, noch bevor ich zu Ende war, wiegte die ganze Trauerversammlung, der Leichenbestatter und alle übrigen im feierlichen Verein mit dem Kopfe hin und her. Kaum hatte ich das letzte Wort gesprochen, so floh ich, wie vom Wahnsinn getrieben, in die Sakristei. Dort traf ich aber zum Unglück mit einer alten unverheirateten Tante des Verstorbenen zusammen, die zu spät gekommen war, um der kirchlichen Feier beizuwohnen.

»›Ach, er ist tot, er ist tot,‹ schluchzte sie tiefbetrübt, ›und ich habe ihn nicht noch einmal gesehen vor seinem Ende!‹

»›Ja,‹ sagte ich, ›er ist tot – er ist tot – er ist tot – o, wird denn diese Qual niemals aufhören!‹

»›Sie haben ihn also auch geliebt, wie ich?‹

»›Geliebt, – wen?‹

»›Den seligen Georg – meinen teuern Neffen.‹

»›Ach – den. Jawohl – jawohl – freilich, freilich. Knips' ein, knips' ein – ach, das Elend bringt mich noch um.‹

»›Dank, Ehrwürden, tausend Dank für die Trostesworte. Auch mir schlägt der Verlust eine tiefe Wunde. Sie waren wohl bei ihm in den letzten Augenblicken?‹

»›Letzte Augenblicke – bei wem?‹

»›Nun bei dem geliebten Verstorbenen.‹

»›Ja so – o ja – ich glaube wohl – ich weiß nicht. Gewiß – ich war da – ich war da!‹

»›Wie beneide ich Sie um dieses Glück. Was sprach er denn noch – o, teilen Sie mir seine Abschiedsworte mit!‹

»›Er sagte – er sagte – o mein Kopf, mein Kopf, mein Kopf! Nichts, gar nichts sagte er als: ›Knips' ein, knips' ein das Fahrpapier!‹ – Seien Sie barmherzig, Verehrteste; ich beschwöre Sie, dringen Sie nicht weiter in mich, überlassen Sie mich meinem Wahnsinn, meinem Jammer, meiner Verzweiflung. – ›Sechs-Cents-Fahrt, ein gelb Papier – Drei- Cents-Fahrt, ein rot Papier‹ – nein länger ertrage ich es nicht – ›Zahlt die Taxe der Passagier.‹«

Mein Freund schwieg erschöpft und sah mich wohl eine Minute lang mit stieren Blicken an.

»Mark,« stieß er endlich mühsam heraus, »bin ich denn ganz verloren? Du erwiderst kein Wort, du giebst mir keine Hoffnung! Ach, ich sehe es ein, mir kann niemand helfen; Worte vermögen mir keinen Trost mehr zu geben – mein Geschick ist unabwendbar. Eine innere Stimme sagt mir, daß meine Zunge verdammt ist, in alle Ewigkeit nach dem unsinnigen Reimgebimmel hin und her zu pendeln. Da – da kommt es schon wieder: Acht-Cents-Fahrt, ein blau Papier – Sechs-Cents-Fahrt ein gelb Papier – –«

Schwächer und schwächer klang seine Stimme, bis er endlich in einen wohlthätigen Starrkrampf verfiel, der ihn auf eine kurze Frist seinen Qualen entrückte.

Wie aber rettete ich ihn schließlich vor dem Irrenhause? Ich reiste mit ihm nach der ersten, besten Universität und ließ ihn seine Last und Pein auf die armen, nichtsahnenden Studenten abladen, welche die Reime mit gierigen Ohren einsogen. Fragt mich nicht, in welchem Zustand sie sich dort jetzt befinden. Die Folgen sind zu trostlos, als daß ich sie zu schildern vermöchte.

Was mich trieb, dies alles niederzuschreiben, war nur die edle Absicht, dich, lieber Leser, zu warnen. Solltest du je irgendwo auf jene unheilvollen Verse stoßen, so fliehe sie – fliehe sie wie die Pest! –



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