Marius Chivu: Stell dir vor
Montags=Text
Foto: Irina Gache
Marius Chivu
Vier Gedichte
aus Vântureasa de plastic, Humanitas Verlag,
aus dem Rumänischen
von Manuela Klenke
Stell dir vor:
Du verlässt die U-Bahn
der November ist erkaltet, das
Gefühl ist bei dir
du erhebst die Augen
suchst nach einem bestimmten
Fenster im Hochhaus
Schön ist der Abend an dem du
dich begibst
aufrecht instinktiv unbesiegbar
zu deiner Geliebten
die kochend auf dich wartet
Aber der Tod findet dich ohne
Deckung
das Mobiltelefon klingelt
unaufhörlich
und eine bekannte Stimme
gebrochen
sagt dir bis zum Morgen
bleibt nichts mehr übrig von
ihr
außer Bilder
deine ganze Familie hat sich um
sie versammelt
sie bringen in den Taschen
Kerzen
mit zeremoniell abgeschnittenem
Docht
Es hat angefangen zu
schneien
die Straße ist leer und kühl
wie mit Eis geteert
du hast dich an die Ampel
gelehnt
den Kopf in den Händen
du drehst dich und rennst
hunderte von Kilometern
zwischen dir und noch ihr
nur gut
falls es ein Albtraum ist
wirst du unterwegs erwachen
Gib auf sie Acht
man weiß nicht, wie lange sie
noch sein wird
Das Gesicht nur Augenringe
unter den unentschlossen geschlossenen Lidern
die Nase der Hals die Ohren
gepudert
mit getrocknetem Blut
Murren der zerfransten Zunge im
schiefen Mund
der Blick verloren leer und
zufällig
über uns,
fremde Gegenstände aus einer
anderen Welt
sie zuckt mit ihren bläulichen
Gelenken
in Gurten
die sie auf den Eisenbett
fixieren
damit sie sich selbst nicht
noch mehr Schaden zufügt
In einer Nacht Ende November
bekomme ich geschenkt
ein Bild von der Demütigung
zu sein
unbewusst
im Sterben
Langgestreckt auf dem Bett
ein regloser Knoten von winzigen
Schläuchen
die hinein hinaus und hinein
dringen
in den weichen säuerlichen
Körper
ein Gebräu von zerdrückten
Tabletten
bringen
Ich küsse ihre Lippen
(hoffe sie öffnet die Augen)
ihr Mund schmeckt nach
Mannitol Osmofundin Perfalgan
der Infusionscocktail tropft
durch den Einschnitt in ihrem
Hals
Stunden für Stunden für Tage
für Wochen
Nachts wache ich über sie
im Licht des Mobiltelefons
ich höre sie innerlich gluckern
gefüllt mit bittersüßen
Flüssigkeiten
eines Lebens aus dem
Beutel
ein in Formalinrinde
ausgestelltes Stück zum
Anfassen
Wie lange wird dieses Privileg
noch verlängert?
Hinter den fest geschlossenen
Augenlidern
schläft der Tod mit ihr
eingekuschelt in ihrem Körper
macht er es sich gemütlich in
ihrem weichen
gastfreundlich warmen
Fleisch
(Und noch jungem)
Wenn ich ihre Augen mit den
Fingern öffnete
blickte ich in zwei Löcher
in die ich hineinstürzte
vor lauter Angst
Zu Chivu: http://www.romanianliteraturenow.com/authors/marius-chivu/