Marion Poschmann / Monika Rinck: "Unter Sternen" (Essaydoppelband)
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Michael Braun
In langsamen Blitzen
„Unter Sternen“: Essays
von Monika Rinck und Marion Poschmann
„Die Welt / die
ist ein Buch; ein jeder / eine Letter“: Wer die uralte Erkenntnis des
Barockdichters Friedrich von Logau ernst nimmt, der wird sich auch zur Einsicht
durchringen müssen, dass es kein „originelles“ Schreiben gibt, sondern dass
jeder literarische Text bereits im Stadium seines Entstehens eine Einschreibung
in ein bereits bestehendes Feld von Textvorlagen ist: Wer schreibt, schreibt
erst einmal ab, webt sich ein - via
Zitat, Referenz, Abspielung oder Permutation – in das Netz der Tradition.
Für das
Andockverfahren an die literarische Tradition stehen unzählige Möglichkeiten
zur Verfügung – Korrekturen, Pastichen, Kontrafakturen, Parodien, Imitationen
oder Überbietungs-techniken. Oder man versucht es mit schroffen Abweichungen,
wie es Ann Cotten in ihrem Band „Jikiketsugaki Tsurezuregusa“ (2017) angedeutet
hat: „Ich will nicht dichten, hört ihr, ich will unter / der Dichtung durch.
Ich will nur die Gunst / - und ich will
sie nur sehen und nicht quittieren – der Stunde.“
Die eigene
Position auf der Landkarte der poetischen Tradition markieren und die literarischen
„Einflüsse“ auf das eigene Werk offenlegen, so notiert nun Marion Poschmann in
einem aktuellen Essay, kann auch ein „undankbares Geschäft“ sein. Denn im schlimmsten Fall führt es zum bloßen
Namedropping, zur Aufwirbelung heißer Luft „hinter dem Airbus des Originals“.
Aber wie Poschmann dann ihre Referenzen an ihre literarischen Hausheiligen in
knappen Kommentaren vorführt, ist sehr erhellend.
Ihr Text ist ein
Beitrag für die Reihe „Unter Sternen“, in der das Stuttgarter Literaturhaus jeweils
zwei renommierte Lyriker*innen zusammenführt, um die lyrischen Resonanzen aus
der Literaturgeschichte im Werk der bedeutendsten Gegenwartsautoren
aufzuspüren. Als ein erstes Glanzstück der Reihe darf das Bändchen mit den zwei
Peter Huchel-Preisträgerinnen Marion Poschmann und Monika Rinck gelten, in
denen die Unterschiede in Temperament und Methodik zwischen den beiden
Autorinnen aufblitzen. Monika Rinck bevorzugt das Verfahren der
geistreich-assoziativen Vagabondage durch diverse Lektüresituationen, während
Marion Posch-mann die exemplarische mikroanalytische Tiefbohrung an einigen
wenigen Gedichten durch-exerziert.
Von Hans Arps
„Gesammelten Gedichten“ aus dem Bücherschrank ihres Vaters führte Monika Rincks
literarische Sozialisation zu zwei Grundlagenwerken in der Stadtbücherei in
Zweibrücken, wo die Dichterin aufwuchs: nämlich zu Enzensbergers legendärem
„Museum der modernen Poesie“ (1960) und – ein paar Jahre später – zu dem heute
kaum mehr greifbaren Poesie-Lehrbuch „Das Wasserzeichen der Poesie“ (1985). Und
erst in den späten 1990er Jahren, so erfahren wir in Rincks „Weiterschwimmen“,
begann sie ernsthaft mit dem Gedichteschreiben. Um den reichen Ertrag ihrer
beflügelnden Lieblingslektüren angemessen würdigen zu können, sollte man
parallel zur Lektüre ihrer „Weiterschwimmen“-Apologie auch noch ihren
glanzvollen Essay „Das Ungesagte meinen“ im Januarheft des „Merkur“ (Nr.
1/2019) lesen. Denn hier entwirft sie sehr leichthändig auf der Grundlage der
Sprachtheorie von Roman Jakobson ihre Poetik des lyrischen Schreibens und
entwickelt dabei einen komplexen Begriff der „Verlässlichkeit“: „Mich
interessiert eine poetische Qualität, die verlässlich ist, weil oder indem sie
mir hilft, mich zu verlassen. Die das Beisichsein um das Nichtgewusste,
Ungemeine, Ungemeinte erweitert.“
Marion Poschmann
hingegen führt uns in ihrem Essay zunächst auf das Terrain jener japanischen
Landschaften und der Zen-Ästhetik, das sie bereits in ihrem Roman „Die
Kieferninseln“ (2016) und dem Poetik-Buch „Mondbetrachtung in mondloser Nacht“
(2016) erkundet hat. In fabelhaften Betrachtungen zu Lawrence Ferlinghettis „A
Coney Island of the Mind“, zu Andreas Gryphius´ Sonett „Menschliche Elende“ und
zu altchinesischen Ritualtexten skizziert sie mit wenigen Strichen den
Erkenntnismodus der Dichtung und fasst die Leuchtkraft eines Gedichts in einer
schönen Mayröcker-Zeile zusammen: „Ich denke in langsamen Blitzen“.
Diese überaus
anregenden Abschweifungen zur poetischen Aneignung der Tradition sind im Verlag
Ulrich Keicher erschienen, einer in Warmbronn bei Stuttgart, dem Heimatort des
Dichters Christian Wagner (1835-1918) beheimateten Edition, die seit 1985 in
schöner bibliophiler Ausstattung und gleichbleibender Qualität kleinere Werke
großer Autoren präsentiert. Mit großer handwerklicher Sorgfalt gestaltet der
Verleger Urich Keicher gemeinsam mit dem herausragenden Typographen Rainer
Leippold die zwischen 32 und 48 Seiten umfassenden Bände, die mittlerweile zu
einer kleinen Bibliothek der Weltliteratur angewachsen sind.
Monika Rinck: Weiterschwimmen. Eine
Rekonstruktion nach sehr vielen Monaten, Jahren, Jahr-zehnten.
Marion Poschmann: Einflüsse, Stürme,
Tsunamis. Dichtung als Überschreibung von Land-schaft. Verlag Ulrich Keicher (Doppelband in der
Reihe „Unter Sternen“), Warmbronn 2018, 16 + 20 Seiten, 15 Euro.
Monika Rinck: Das Ungesagte meinen.
Poetische Verlässlichkeit.
In: Merkur, Heft 1/2019, S. 29-42.
Mommsenstr. 27, 10629 Berlin, 104 Seiten, 14 Euro.