Marina Zwetajewa: Unsre Zeit ist die Kürze
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Jan Kuhlbrodt
Zwetajewas Schreibhefte
Im letzten Jahr zum Ende hin sind
im Suhrkamp Verlag unter dem Titel „Unsere Zeit ist die Kürze“ die bislang
unveröffentlichten Schreibhefte Marina Zwetajewas erschienen. Herausgegeben und
übersetzt wurden sie von Felix Philipp Ingold, und sie bilden den Auftakt zu
einer mehrbändigen Ausgabe von Schriften Zwetajewas, deren Werk neben Gedichten
und Poemen auch Prosa und Briefe und eben jene in den Schreibheften
versammelten Stücke umfasst – Notate, Reflexionen, Kurzprosa und Briefentwürfe.
Das Buch war für mich zu Jahresende noch einmal so etwas wie ein Paukenschlag.
Entstanden sind diese Schreibhefte,
weil Zwetajewa, die nach längerem Exil in die Sowjetunion zurückkehrte, ihre
Notizbücher durchging, und eine gekürzte kommentierte Fassung von ihnen
erstellte. Hintergrund war die Angst vor dem Verlust der Aufzeichnungen im Zuge
politischer Repression, denn sie kehrte in ein Land zurück, das von stalinistischem
Säuberungswahn befallen war, dem nicht zuletzt Schriftstellerinnen und
Schriftsteller zum Opfer fielen, und zwar nicht nur ihre Werke, sondern auch
sie selbst als physische Personen.
In dieser existentiellen Ausnahmesituation entschloss sich Marina Zwetajewa einerseits dazu, zahlreiche literarische Manuskripte bei Freunden in Frankreich und in der Schweiz zu deponieren, andererseits nahm sie sich vor, aus ihren privaten Schriften jene Texte in spezielle Schreibhefte zu übertragen, die eben dadurch – als austarierte Synthese – gleichsam testamentarische Verbindlichkeit gewinnen sollten. Das schreibt Ingold in der Nachbemerkung.
Entstanden ist ein Hybridtext, der
sich auf verschiedenste Art lesen lässt, und je nachdem, welche Haltung der
Leser bei der Lektüre einnimmt, kaleidoskopisch seine Gestalt ändert. Man kann
zum Beispiel versuchen, Zwetajewas Beziehungsgeflecht, ihre zum Teil obsessiven
und unerfüllten Lieben, ins Zentrum zu lesen, aber auch ihre Beziehung zu den
Kindern, zu Literaten usw. Politik und Zeitgeschehen spielen eher im
Hintergrund eine Rolle, sind aber präsent als stetig dräuende Gefahr.
Und natürlich liegt es nahe, die
Schreibhefte als authentische Äußerung einer realen Person zu lesen. Ich selbst
nahm den Text aber eher als eine Art Roman wahr, denn er ist das Produkt der
Auseinandersetzung der Autorin mit einem ihr vorliegenden Rohmaterial, von
Formwillen durchdrungen. Und:
Stilistische Unterschiede oder gar Brüche sind in den Heften kaum auszumachen, – alle Formulierungen sind vom Willen zur Kürze vorbestimmt, oftmals ersetzt schlagende Metaphorik klarere Begrifflichkeit, Auslassungen und Verschleifungen sind gang und gäbe. (Ingold)
Das Blöde an vielerlei Prosa ist,
dass Leerstellen, Brüche usw. mit Handlung zugeschüttet werden, weil die Risse
nicht erträglich scheinen, gekittet werden müssen, weil es ein Ganzes geben
soll.
Aber das Ganze ist eine Illusion,
eine mutwillige und müßige Überformung des Fragmentarischen, die letztlich nur
zu Langeweile führt. Genauso übrigens, wie die Authentizitätsanmutung zu
Langeweile führt, die verlangt, im Text den echten Menschen/Autor zu entdecken.
Zwei Seiten einer Medaille. Aber der echte Mensch ist eben nicht auf eine
Formel zu bringen. Wie eher seine Umstände. Umstände, die ihn zerreißen. Ganz
anders im vorliegenden Werk.
Ein wiederkehrender Satz in
Zwetajewas Schreibheft:
Vor allem (in der Armut) massenhaft überflüssiger Kram, den man nicht wegwerfen darf.
Oder Zwetajewas Beschreibung der
Reaktion auf eine Lesung Majakowskis in Paris:
Mit der russischen Emigration steh ich schlecht, denn – ich steh außerhalb, lebe nur in meinen Heften und meinen Pflichten, und wenn manchmal meine Stimme erklingt – so ist es immer Wahrheit, wie noch unlängst, als unser großer sowjetischer Dichter Majakowsky hier in Paris einen Vortrag hielt. Am anderen Tag schrieb ich ihm einen offenen Brief – das war ein Jubelruf – und am Tage darauf wurde ich aus der Zeitung, wo ich manchmal meine Verse drucken ließ (nein, wo man sie manchmal duldete) – entfernt wegen sowjetischer Sympathien.
Marina Zwetajewa schreibt das in
einem in deutscher Sprache abgefassten Briefentwurf vom Oktober 1930, der sich
ebenfalls in den Schreibheften findet.
Als eine Art Appendix sind dem Buch
am Ende noch Tagebuchaufzeichnungen beigegeben. Die letzte richtet sich an den sechzehnjährigen
Sohn Georgij Efron, genannt Murr, verfasst am Tag ihres Todes durch Suizid.
Wenige Jahre später fällt Efron in dem durch Deutsche angezettelten Zweiten
Weltkrieg.
Marina Zwetajewa: Unsre Zeit ist die Kürze. Unveröffentlichte Schreibhefte. Hrsg. und übersetzt von Felix Philipp Ingold. Berlin (Suhrkamp) 2017. 319 Seiten. 28,00 Euro.