Marina Zwetajewa: Ich schicke meinen Schatten voraus
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Jan Kuhlbrodt
Zu
Marina Zwetajewa „Ich schicke meinen Schatten voraus.“
Manchmal
liest man Geschichten, die man schon kennt (kennen ist vielleicht ein falsches
Wort, ich hatte sie schon einmal gelesen, war schon einmal hindurchgegangen),
und es stellt sich die Erinnerung an die erste Lektüre ein, eine Lektüre, die
Jahrzehnte zurückliegt; und diese Erinnerung ist die an eine Verstörung, weil
die Geschichte so einfach ist, einen Ostertag beschreibt, an dem ein Ausflug
nicht zu Stande kommt. Zwei Mädchen sollen zu einem Besuch abgeholt werden, auf
den sie sich freuen. Aber der Tag gestaltet sich, weil der Abholer nicht kommt,
anders als erwartet, normaler gewissermaßen. Etwas wird beschrieben, das für
den jugendlichen Leser, der ich damals war, doch gar nicht von Belang war, oder
nicht mehr, und dennoch liest er, liest und liest. Liest von Marina und Asja,
denen Spitzenkrägen umgelegt waren für einen Osterspaziergang. Im letzten
Abschnitt dann die allen bekannte Großstadt als Bauklotzkonstruktion:
Eine Schachtel mit Klötzchen, aus denen man nicht nur einen Lift bauen konnte, sondern ein ganzes New York, wo sie ihre Hochzeit mit Edison feiern wird.
Eine Geschichte von Marina Zwetajewa, in der Übersetzung von Elke Erb. DER EFEUTURM. Eine Dichterin übertragen von einer Dichterin.
Damals las ich sie in einem Reclamheft und heute ergab sich die erneute Lektüre im gerade frisch erschienenen ersten Band der gesammelten Werke von Marina Zwetajewa. Und die erneute Lektüre des Textes ist nicht weniger faszinierend als die erste. Eine Geschichte im eher ländlichen Ambiente. Zwei „Russenkinder“ auf Erholungsurlaub. Und der Text ist durch-drungen von einer merkwürdigen Sentimentalität, die man vielleicht erst begreift, wenn man den Kontext seiner Entstehung berücksichtigt, denn geschrieben wurde er 1933 im französischen Exil.
Die
Prosa Zwetajewas ist autobiografisch. In ihr sind die verschiedenen Stationen
eines dramatischen Lebens eingeschrieben, das sich über die erste Hälfte des
zwanzigsten Jahrhunderts erstreckt. Aber, und das ist das Faszinierende, es
hinterlassen die dramatischen historischen Ereignisse in den Texten ein
eindringliches Echo, zuweilen wie ein kaum wahrnehmbarer Störton, die Zeit als
Tinnitus, dem es nicht gelingt, die Schönheit der Erzählungen, die von
verschiedenen Übersetzerinnen aus dem Russischen übertragen wurden, zu
zerstören.
Im
ersten Teil des vorliegenden Bandes findet sich mehrheitlich Tagebuchprosa.
Finden sich Reflexionen. Zuweilen fast Aphoristisches. Kaskadenhaft fast,
Betrachtungen zu Liebe und Freundschaft, eindringlich vor dem Hintergrund der
Oktoberrevolution und den folgenden Jahren des Kriegskommunismus und der großen
Hungersnot.
Faszinierend
und eindringlich unter anderem ein Abschnitt über mehrere Seiten, der mit „Über
die Dankbarkeit“ überschrieben ist und Einträge aus dem Tagebuch von 1919
enthält. Ein Mikroessay, darin dieser Aphorismus:
Ein Mensch gibt mir Brot. Was ist das Erste? Zurückschenken. Zurückschenken, um nicht dankbar sein zu müssen. Dankbarkeit: Ein Geschenk meiner selbst für eine gute Tat, das heißt: Liebe gegen Bezahlung.
Letztlich
ist die Prosa Zwetajewas ein eindringliches Dokument der Selbstbehauptung. Auch
wenn ihr Leben am 31. August 1941 in einer Selbsttötung endet.
Mein „Ich kann nicht“ ist am allerwenigsten Schwäche. Im Gegenteil: es ist meine Hauptstärke. Es gibt also etwas in mir, das trotz all meinem Wollen (meiner Gewalt-anstrengungen mir selbst gegenüber!) dennoch nicht will, trotz all meinem wollenden Willen, der gegen mich selbst gerichtet ist. Etwas, das nicht will, um all meiner selbst willen. Es gibt also (außer meinem Willen!) ein „in mir“, „mein“, „mich selbst“; – es gibt mich.
Marina Zwetajewa: Ich schicke meinen Schatten voraus. Prosa. Gesammelte Werke, Band 1. Hrsg. und übers. von Ilma Rakusa. Weitere Übersetzerinnen: Hilde Angarowa, Marie-Luise Bott, Elke Erb, Margret Schubert. Berlin (Suhrkamp) 2018. 729 Seiten. 42,00 Euro.