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Marieke Lucas Rijneveld: Kalbskummer. Phantomstute

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Kristian Kühn

Marieke Lucas Rijneveld: Kalbskummer. Phantomstute. Gedichte. Niederländisch, deutsch. Übersetzt von Ruth Löbner. Berlin (Suhrkamp Verlag) 2022. 223 Seiten. 25,00 Euro.

Wenn ich der Anfang und das Ende bin


Vielleicht ist es die Jugend, an die es mich hier erinnert, dieses liebe kleine Buttermilchkindchen (im Orig.: mijn lief klein karnemelkmensje), an diese kurze Zeit; die damals als physische Gegenwart nie ganz dicht war, vielmehr löcherig, mit Einbildungen aus feinstofflichen Welten, und man weiß nicht, ob es Magie ist, die ruft, oder die Stimme der Mutter, dieses lachende Gesicht beim Durchgang. Dies Gesicht ist bei Marieke Lucas Rijneveld der Vater.

Und die Sonne, Arschgeige aller Arschgeigen, jeden Tag steht sie wie Papas
wütendes Gesicht glühend heiß überm Dachzimmerfenster, Sonnencreme hat
viele Vorteile, aber keine, mit denen man Kriege gewinnt, erst wenn
der Feind zu flüstern anfängt, muss man sich Sorgen machen und die
Sonne flüstert: mein liebes kleines Buttermilchkindchen, wohin so blass des
Wegs, zieh dir doch nicht den Dachboden als Kapuze über den Kopf, wenn
ich der Anfang und das Ende bin, dann bist du alles dazwischen. ….
(Sonnenindex Sieben, S. 205)

Und es muss fort, weit weg in den Schatten, wie es bei UV 6 bis 7 die Weltgesund-heitsorganisation rät, und es soll sich die Augen schützen. Weggehen als Begriff kommt in dem Doppelband Kalbskummer und Phantomstute insgesamt zehnmal vor.

»Wenn ihr mich braucht, aber nicht wollt, dann muss ich bleiben, wenn ihr mich wollt
aber nicht braucht, muss ich gehen«, sagt eine Frau in einem Kinderfilm, die im Laufe
der Zeit immer hübscher wird, jeder Abschied trägt dieses Bild in sich, genau wie
jede Begegnung und dennoch denkst du, dir wird das nie passieren, in erster Linie
nicht das Liebhaben und später dann nicht das Verlieren, aber dort in dem weißen Zimmer
stellst du doch deinen Blick auf unendlich, eigentlich dachtest du immer, das ginge
nur draußen auf dem Bauernhof und sie sagt: wenn du traurig bist, darfst du weinen, aber
wenn du weinst, brauchst du nicht unbedingt traurig zu sein.
        (Das große unvermeidliche Weggehen, S, 103)

Aber da ist dieses Körpergedächtnis, das nicht schwindet, sondern bleibt, und wieder zieht es magisch. Denn Anfang und Ende sind bei Rijneveld ein Eisendraht, eine Voraussetzung zwischen zwei Menschen und deren Weggehen und nach Hause kommen. Ein bisschen erinnern mich diese beiden Gedichtbände, die Suhrkamp nun in einem anbietet, an den zu seiner Zeit von einem damals etwa gleichaltrigen „Fänger im Roggen“ geschrieben, nur dass beide stilistisch völlig anders sind, und der Humor Rijnevelds sehr zart ist und sich auf Gedanken bezieht, derweil Salinger ihn aus Szenen und Dramaturgie schöpft. Dennoch haben beide Textarten einen jugendlichen Sog, als seien sie aus einer anderen Zeit weit vorher.

Love is love not fade away.

Von Buddy Holly, den Everly Brothers, von Patti Smith, den Rolling Stones, Bruce Springsteen. Sie alle haben es gesungen – es ist sehr schön. Mit einem synkopischen Rhythmus, der ekstatisch macht, ein bisschen schläfernd. So lieb wie die Everly Brothers in ihrer Interpretation des Songs, so bedächtig, so kommodig wie die Sechziger ist Rijneveld. Nussholz. Irgendwie mit dem Häkeldeckchen der immer wieder beschriebenen Oma drauf. Wehmut kommt auf, Mutter an der Tür. It Smells Like Teen Spirit.

Und da sind wir beim zweiten Grundmotiv Rijnevelds, dem Nach-Hause-Kommen, 16 Mal im Buch erwähnt, zusätzlich gibt es Vergleiche von Häusern, Hochhäusern, Kerngehäusen.

                      …. Nachbarinnen sammeln mit Apfelausstechern Kerngehäuse, eine
Armee von Mittelpunkten, Menschen, die jemanden verlieren, drücken die Lücke
oft mit hilflosen Gegenständen aus, Kinder benutzen die Früchte als Fernrohre,
wen hältst du eigentlich zum Narren, wenn du aus Nähe die Ferne machst und
umgekehrt? Erst nach sechs verändert das Dorf sich, Frisöre schließen ihre Läden
(Hier wird jemand vermisst, S. 61)
          
Was nun ist dieses Kerngehäuse? Offenbar nicht der äußere Körper:

Dann lieber ein glänzender Körper, bei dem das Wohlbefinden eines Tages
keine Druckstelle mehr ist, sondern das Kerngehäuse.
(Nach Hause kommen, S. 11)
  
Offenbar hängt es mit einer Art Bestimmung zusammen, für die der Tod der Durchgang ist (hierüber handelt eine Vielzahl der Gedichte:)

Mit dem Verstreichen der Zeit verfällt der Mensch, Arme werden zu Apfelschalen
kringeln sich aufeinander zu und wollen nur noch umarmen, Schultern hängen
wie lebloses Vieh an einem Strick auf dem Heuboden, man könnte sagen:
für ein gelungenes Ganzes braucht man nicht zwingend ein Kerngehäuse, ein Kern
kann auch aus dem Außen bestehen, aber wer sorgt sich dann noch ums Fruchtfleisch?

Laut Opa ist es gut, dem Tod ab und zu in die Augen zu blicken, weil sie irgendwann nur
noch starren, die Welt in Gelatine verwandeln und häufiger weinen, weil man das Wasser
seines Daseins auf lange Sicht wieder abliefern muss, wie viel Prozent gehen allein schon
verloren durch eine Nacht zurückgehaltener Tränen? ….
(Die Toten, S. 13)
                 
Auf alle Fälle hängt bei Rijneveld, wie bei so vieler Dichtung, das Nach-Hause-Kommen mit dem Sterben zusammen, dem Vernichten des äußeren Hauses:

Die ganze Zeit vergeblich gesucht, die Schnecken auf dem Asphalt zwar gesehen
davon ausgegangen, sie seien ständig unterwegs, bis ich hörte, dass zu Hause keine
bestimmte Stelle ist, sondern ein Wohlbefinden, der Körper nicht länger Deckmantel
unter dem man verbirgt, was sich von außen nach innen kehrt und der wie ein
aufgeschnittener Apfel im Kühlschrank durch das Braun den Anschein erweckt, nicht
mehr gegessen werden zu wollen, sieh dir mal meine Beine an, …
(Nach Hause kommen, S. 11)
          
Das Kerngehäuse, von dem Rijneveld spricht, scheint mir die Raupe zu sein, die (wie einst bei Aristoteles*) als Protoseele fungiert, als ungeformter Keim, in dem die ganze Zukunft steckt:

Als das Entpuppen kurz bevorstand, machtest du mich darauf
aufmerksam, dass Raupen geschlechtsneutral sind und erst als
Schmetterling ein männliches oder weibliches Farbmuster zeigen
mit einer Bedenkzeit von höchstens zehn Monaten, du hieltst deine
Arme wie einen Kokon und in der Mitte ich, zwei Formen des
Aufbrechens, flüstertest du, legtest mir dabei dein Kinn auf den
Kopf und nach ein paar Minuten schien sich in meinem Schädel
eine Delle zu bilden, in der ein kleiner Ball zum Stillstand gebracht
werden konnte, er wurde zu einem Plastikgolfpin und es war an dir
mit einem Schlag meine Löcher aufzufüllen, egal wie schwierig
(Formen des Aufbrechens, S. 17)
                  
Man könnte schon deshalb von einem Coming of Age-Werk sprechen, jung, melancholisch, dem momento mori bereits zugeneigt. Einzelne Erwachsene mögen enttäuscht sein über die Gedichte, weil viel Spektakuläres mit dem Namen Rijneveld verbunden wird und eine Art Paradeflug hermaphroditischer Queerness. Das ist es nicht. Das Buch ist langsam, bedächtig, noch verpuppt. Und darin liegt auch die Stärke. Nicht im Überfliegen, sondern im Empfinden. Ja, es ist ein sehr prosaisches Empfinden, wie vom Bauernhof. Und doch auch eine Seelenreise der Verschmelzung. Aber Marieke Lucas Rijneveld kommt ja wohl auch von einem Bauernhof. Und schreibt für Jugendliche.

Es handelt sich auch nicht um ein ländliches Fest, um keine Landpartie; (etwa von Giorgione – fiesta campreste) mit Nackten, Musik und der Geburt eines göttlichen Wesens. Das Wort Fest kommt unendlich oft in den Texten vor, aber stets als ein Klammern, Festhalten oder Lösen. Es sind vielmehr Sorgen, Gedankenbilder, ein bisschen überfrachtet die Ladung, aber nicht peinlich oder herunterziehend. Melancholisch und besorgt, dass auch alle Teile des Lebens ihre Berechtigung behalten und nicht absterben und keinesfalls nur am Ende eine Schleimspur hinterlassen, wie die vom Bruder zerschlagene Schnecke auf dem Weg am Tag danach.

Wie gehst du schlafen, wenn du gerade ein Schaf überfahren hast, zitternd auf
dem Bettrand, die kalten Hände wie rohe Rinderrouladen auf den Augen, ihre
Hand, zur halben Apfelsine geformt, die schwer auf dein Knie drückt, bewegt sich
mechanisch hin und her, presst alles aus, was dir passiert ist, aber denk an das hohe
Sprechtempo, ohne Pausen bleibt alles Vakuum und Kummer hat keine Chance, sich
dazwischenzudrängen. Rede doch einfach über Wein, denkst du noch, wie Kinder
aufwachsen und der ganze Klatschmohn tollkühn aufspringt, aber ihr Kopf ist
schon ewig ein Teleprompter, du weißt genau, wie du sie beruhigen kannst: …
(Wenn es dir passiert, S. 9)                  

Und manche Metaphern sind zu körperlich – normalerweise sind sie ja eine Mischung aus einer Abstraktion und eines Körperlichen – hier aber einer Körperlichkeit mit zusätzlich überhöhter aufgesetzter Körperlichkeit. Dieses Buch ist ein großangelegter Gedankenkörper. Kommen wir überhaupt mit einem Körper nach Hause? Und falls ja, mit welchem? Dem Körper, der wie ein Kaugummi an den Sohlen klebt? Ist das Grab ein Zuhause? Es gibt bei Rijneveld auch diese antike Sterbe-Übung, immer wieder, vor dem Einschlafen, an ein überfahrenes Tier auf der Autobahn denken, dann ist es die Zeit des äußeren Einschlafens, des inneren Erwachens. Wir geben uns alle vorher noch die Hand, weil wir nicht wissen, ob wir morgen wiederkommen, streicheln unser Bewusstsein, dass es schön dämmert. Ganz zart, in Slow Motion. Kraftlos kann man nicht sagen, eher aphatisch. Es ist auch kein Dösen – es ist Hingabe, Einbettung in das Unausweichliche. Aber auch des inneren Aufwachens, des Hinstarrens, wie Coleridge es nannte. Starren kommt bei Rijneveld achtmal vor. Es ist auch keine Demut, denn für Demut bräuchte man etwas Größeres, auf das hin man sich aufrichten könnte. Es ist ein Schwinden, alle zusammen in die Abblende der körperlichen Wahrnehmung hinein.

Wenn Aufwachen nicht mehr zur Außenwelt wird, die Tage nur noch im
Innern entstehen, Augenlider wie Kinoleinwände, auf denen Trailer flackern:
(Nie mehr aufwachen, S. 42)


* In seinen zoologischen Schriften bringt Aristoteles das Wort Nymphe in Zusammenhang mit Schmetterlingen, die griechisch psychaí wie die Seelen heißen:
„Die Schmetterlinge (psychaí) entstehen aus Raupen ... Diese sind erst kleiner als ein Hirsekorn; wenn sie wachsen, werden sie kleine Würmer, und dann nach drei Tagen kleine Raupen. Dann wachsen sie weiter und verhalten sich ruhig, sie verwandeln ihre Gestalt und heißen nun Puppen ... Nach nur kurzer Zeit wird die Schale durchbrochen, und es fliegen Tiere mit Flügeln heraus, die wir psychaí (Schmetterlinge) nennen.“


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