Marie T. Martin: Der Winter dauerte 24 Jahre
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Die Verbindung zwischem allem und das brüchige „Ich“
zum Gesamtwerk von
Marie T. Martin
Eine subjektive
Würdigung von Andreas Richartz
Der Tod liest immer mit. Auch als ich mich dem Werk von
Marie T. Martin lesend und nachdenkend über das Gelesene annähre, mit einem
klaren Bewusstsein darüber, mich den endgültig letzten Zeilen einer Stimme
anzunähern, die nie wieder erklingen wird. Schnell wird diesem lesenden und
nachspürenden Bewusstsein klar: Die Besprechung eines Bandes „Werke und
Nachlass“ - so der Untertitel dieser Verlags-Hommage an eine viel zu früh
verstorbene Dichterin - kann keine Literaturkritik enthalten und will das auch
gar nicht. Noch stärker erscheint diese Klarheit, nachdem ich jeden einzelnen
Text aus dem jüngst herausgegebenen, 432 Seiten starken Gesamtwerk von Marie T.
Martin gelesen habe (manches zum wiederholten Mal). Texte einer Autorin, die
ich vor wenigen Jahren noch kennenzulernen hoffte, die aber viel zu früh mit 39
Jahren gestorben ist und deren Todestag (02.11.21) sich so gnadenlos wie alles
Zerschreiten der Zeit im frühen November 2024 bereits zum dritten Mal
wiederholte. Darum und weil hier die vollkommen unwahrscheinliche Situation
vorliegt, in der ein älterer Autor das gesamte Werk einer Jüngeren bewerten
können soll, mag und soll sich meine Besprechung nur mit großem Respekt zu
nähern versuchen, dem Werk einer Autorin, das als bereits vollendete
Hinterlassenschaft zu lesen sich grotesk anfühlt. Hinweise geben kann die
Besprechung eines solch schmalen Gesamtwerks dennoch. Auf das, was mehrheitlich
gelungen, auf das, was herausragend erscheint und vielleicht auch auf das, was
im biografischen Kontext die eigene Endlichkeit bereits ins Auge fasst.
Literarisch kennengelernt habe ich Marie T. Martin im Herbst 2014, als ich für das Kölner Kulturen Magazin null22eins ein Feature über Bettina Hesses 12bändige Edition „12 Farben“ schrieb. Als deren zweiter Band war Martins Kurzprosatext „Vier Wände“ plus die ange-schlossene Poetologie „Ein Zuhause erzählen“ 2011 erschienen. Die junge Autorin stand 2014 - wiewohl in der Szene bereits keine Unbekannte mehr - noch am Anfang ihrer Karriere, ein Gedichtband, ein paar Erzählungen, ein Hörspiel, so ging es los und Martin wurde gleich mit einigen Stipendien und Preisen wertgeschätzt.
Der Rest ist eine der Tragik ihrer Erkrankung geschuldete traurige Erzählung. Marie T. Martin starb im November 2021 nach einer langen schweren Krankheit. Sie hatte noch einen hoch gefeierten Lyrikband im Leipziger Poetenladen veröffentlicht, der noch einmal ein tief geschärftes Bewusstsein für die Endlichkeit aller Tage anklingen ließ und daraus seine gesteigerte Intensität bezog.
Nun hat eben jener Leipziger Verlag einen über 430 Seiten schweren Band mit den meisten der zeitlebens erschienenen Texte und einem knapp 90 Seiten starken Nachlass Kurzprosa herausgegeben, der dem Band seinen Titel leiht: Das Buch „Der Winter dauerte 24 Jahre“ beinhaltet nicht das gesamte Werk von Marie T. Martin (z.B. den o.g. kleinen Band aus den „12 Farben“ der Herausgeberin Hesse nicht, was aus rechtlichen Gründen so sein dürfte), doch enthält er die Essenz ihres Schreibens, Fühlens und Nachsinnens.
Mit dem frühen Erzählungsband „Luftpost“ (2011) beginnt das Buch, setzt über zu Martins erstem Lyrikband „Wisperzimmer“ (2012), gefolgt von „Woher nehmen Sie die Frechheit, meine Handtasche zu öffnen?“ (2015); Texte, denen Martin das Attribut „Kleine Prosa“ voranstellte. Dann folgt auch schon der letzte Band Lyrik (erst ihr zweiter), der mit dem Titel „Rückruf“ (2021) bereits die Vollendung eines poetischen Blicks auf unsere Existenz, ihr Werden und Vergehen in einem nahezu Rilkeschen Sinn enthielt, und der so begeistert aufgenommen wurde von der Kritik. Der schöne, mit elegisch-atmosphärischen Illustrationen in einem schweren Blauschwarz von Franziska Neubert versehene Band schließt mit einem den Titel wiederholenden Reigen von Kurzprosa-Zyklen, die teils miteinander verwoben an anderen Stellen erneut ihren Faden wieder aufnehmen (wie z.B. das dreiteilige „Talismann“ oder die „Briefe aus Immerwald“). Die dem Band seinen Titel leihende Erzählung „Der Winter dauerte 24 Jahre“ beendet diesen Reigen, ein persönlich gehaltenes Nachwort von Norbert Hummelt beschließt den Band.
Doch der Reihe nach: Schon nach den ersten drei Erzählungen aus Luftpost (2011) bemerke ich, dass Martin immer wieder Sätze erschafft, die ich vorbehaltlos rausschreiben, mitnehmen und anwenden möchte in entsprechenden Situationen. Sätze, die eine tiefere Auskunft geben als nur über das, worüber sie angeblich (im Kontext der Story, in denen sie vorkommen) sprechen:
„[…] Glückwunschkarten, die ich mir manchmal ansah, um zu verstehen, dass es mich wirklich gab.“ (Luftpost, S. 11),
„Ich lächle, ich glaube, es gibt den Kern nicht, nach dem wir suchen […] es gibt keinen wahren Grund […] es gibt nur viele Stimmen und keine eigene.“ (Nachmittag, S. 18 f.),
„Und ein Krug wird hauptsächlich aus dem leeren Raum gemacht und nicht aus Keramik.“ (ebd., S. 21).
Schon dieser erste Band macht deutlich: Die Erzählungen, die auch Short-Storys genannt werden dürften, erscheinen bisweilen wie lange Selbstgespräche, namenlose Figuren, denen lediglich ein Du zufällt, um eine monologische Dialektik in Gang zu halten, eine Vorgaukelung eines dialogischen Prinzips (Martin Buber spielte in Martins denkendem Schreiben eine zu beachtende Rolle), sie alle könnten auch nichts weiter als ein verlängertes Autorinnen-Ich sein, vielleicht sind sie es öfter, als einem klassisch geschulten Leser auf den ersten Blick klar werden kann.
In „Fünfter Stock“ rast eine verlorene subjektive Perspektive durch eine großstädtische Szenerie, ohne Halt, ohne Plan, und ohne Verbundenheit noch in wildem Sex mit zwei namenlosen Männern. In „Drei Teller“ begegnet ein Paar im Urlaub einem weiteren Gast, der zur erotischen Projektionsfläche von ihr wird und umgekehrt, die Frau und der Fremde fantasieren einander in eine ungelebte Nähe und schreiben nach diesem Aufeinandertreffen einander jahrelang Postkarten. Wie die junge Marie T. Martin hier die vor sich selbst gnadenlosen Introspektionen ihrer Figuren in einen erzählenden Hyperrealismus wendet, ist von solch sublimer Sehnsuchtskraft, von solcher Melancholie, dass ich zuweilen fassungslos verharre:
„War es nicht so, dass jeder Stein, jeder Vogel, jeder Mensch sagte: Ich bin vorläufig, und dass alles aufgezeichnet wurde in ihr, und dass da fremde Bilder waren und Gestalten, die sich eigenistet haben wie er, obwohl sie nichts von ihm wusste, und dass es einmal ein Kind gab, das vor Freude rannte, und dass es eine alte Frau geben würde, die die Augen schließt, und dass beide etwas sind, das sie „Ich“ nennt.“ (Drei Teller, S. 37 f.)
Zu Martins Neigung – oder soll ich es besser ihre Entscheidung nennen – die Allver-bundenheit der Dinge zu konstatieren, die
„ […] im Allerinnersten […] hauptsächlich: nichts.“
sind (Nachmittag, S. 21), gehört diese ihrem Schreiben allgegenwärtige Nähe von Wachheit und Traumwelten. Auf dieser Folie erscheint ihre Kunst mehr als nur ein Versuch einer Versöhnung von Bewusstseinssphären diesseits und jenseits eines rationalen Erklärungs-horizonts, es ist ein luzides Träumen mit dem Stift in der Hand, ein Abschiednehmen zu Lebzeiten, ein Schreiben, das nicht nur zwischen den Zeilen philosophisch zu nennen ist, denn es ist erfüllt davon, kein konsistentes Ich vorzufinden bei seinen Versuchen, eines aufzuspüren.
Der Gedichtband Rückruf bedeutete 2021 ihren endgültigen Durchbruch als Lyrikerin und ihren Abschied zugleich. Hier gingen Martins Sprachmagie und Kompositionskraft eine schillernde Melange ein, die den Arbeitsaufwand indes nicht verleugnen konnte und vermutlich auch gar nicht wollte; die Leipziger Literaturschule schien allgegenwärtig und war nirgends hintergangen. Zugänglich waren mir eben darum jedoch nicht alle Texte gleich auf den ersten Blick, manches verblieb mir in seiner sprachlich fein austarierten Konstruktion zunächst unzugänglich. Konsonantische Reihungen zur Herstellung von Klangähnlichkeiten, rhythmisch klug gesetzte Binnenreime und inhaltliche Brücken-Architekturen zwischen direkt aufeinanderfolgenden Gedichten nahm ich dieses Quäntchen zu sehr als Textarbeit wahr, als dass es mich unmittelbar hätte mitnehmen können. Assonanzen, Alliterationen, Binnenreime bezeugten die hochausgebildete Grundlage der Martinschen Herangehensweise, funktio-nierten während meiner ersten Lektüre jedoch nicht durchgängig im Sinne einer ästhetischen Steigerung des Rezeptionsgenusses. Texte, die eine einzige inhaltliche Conclusio von Beginn an verfolgten (Brief im April, S. 245; Wuchs, S. 280) hingegen erreichten mich unmittelbar. Aber all das bedeutete rein subjektive Wahrnehmung. Und änderte sich durch die Mehrfachlektüre ihrer Lyrik. Nicht leugnen lässt sich indes, und das betrifft alle Textarten, dass Marie T. Martin eine Autorin großer Könnerschaft in einem nahezu klassischen Sinn war, deren geringes Œuvre von z.T. atemberaubender Tiefe und Bezugsfülle uns darauf aufmerksam macht, mit welch hoher Wahrscheinlichkeit noch viele wunderbare Texte dieser Dichterin einer geneigten Leserschaft hinterlassen worden wären.
Auch in ihrem Nachlass „Der Winter dauerte 24 Jahre“ stößt man wiederholt auf Texte, in denen die „Realität“ durch den besonderen Sprachzauber Marie T. Martins umgedeutet, ja neu erfunden wird. Das geht auf einer sprachlichen Ebene weit über den viel zitierten magischen Realismus hinaus und betritt eigentlich konsequent surrealistische Bildgefilde von hallu-zinativer Kraft.
Tiefe Einsichten über das Unbewusste unserer Beziehungskonflikte in manchen ihrer Prosa-Miniaturen (Landkarten, aus: Vermischtes aus Allerwelt, S. 389) zeigen darüber hinaus ihre ganze Klugheit, die bereits in ihren ersten Erzählungen anklang. Fantasien von Verwandlungen und Auflösungen lassen eine natürliche Entrücktheit aufscheinen, die eine Ahnung davon gibt, wie es der Dichterin Marie T. in dieser letzten produktiven Zeit ihres Lebens ergangen sein mag (Untersuchung, S.387; Verwandlung, S. 390; Stundenplan, S. 391; allesamt aus: Vermischtes aus Allerwelt). Nimmt man ihre letzten Texte zur Ausgangsbasis für etwaige Überlegungen zu ihrer Gemütsverfassung, so scheint die Idee einer inneren Rekapitulation und Depression jedenfalls untauglich. Dafür spielt zuviel galliger Humor hinein in ihre Texte, seltsam „unpassende“ Vermischungen von Funktionswelten und inneren Welten und ihre spielerische Sabotierung bei der Preisgabe der engen Pfade von Verhaltensregeln begeben sich hier (Neue Seminare bei P & P, S. 367; Automatische Antworten, S. 383) und ich will nicht recht glauben, dass dieses satirische Moment manch einer ihrer Konzeptionen nur eine Art literarischer Notwehr angesichts des nahenden Todes einer zur Zuschauerschaft des eigenen Sterbens verdammten Autorin gewesen sein soll (Praxis für Transformation, S. 359). Nein, Marie T. Martin wollte an ihren Ideen arbeiten bis zuletzt und sie tat dies, solange sie konnte.
Was den Tod und seine Unvermeidlichkeit betrifft: Aus dem Rahmen fällt „Schwarz tragen“, ein 25-teiliger Text, der sich über 13 intensive Seiten erstreckt und wie eine Meditation auf das Unfassbare, wie eine Reaktion auf den Selbstmord einer geliebten Freundin oder gar eine Fantasie auf den eigenen erscheinen mag (und zweifelsohne wird er eines davon sein). Aus der Welt fallen! Psychisch, durch somatoforme Krankheiten bedingt, oder durch die Wahl des Selbsttodes:
„Der Tag der Toten ist jederzeit“ (Schwarz tragen, S. 403).
Die Unwahrscheinlichkeit echter Begegnung, die Fremdheit im Eigenen, die Auflösung innerer Welten vor ihrer eigentlichen Konstituierung (ja, genau dieses Paradox ist gemeint): Das sind die großen Themen, die immer wieder durchscheinen bei dieser stillen, zwischen ihre eigenen Zeilen denkenden und zuweilen köstlich humorvollen Dichterin, die dabei jedoch nicht ins Epische driftet. Das bezeugt schon die Wahl der kurzen Form, die nie ins endlose mäandert und dem Roman so fern ist, wie es ein Text nur sein kann. Aus der Welt fallen also auch, und insbesondere als poetisches Prinzip. Denn - es wurde immer wieder über Martins Literatur gesagt - mit Realismus hat dieses Schreiben wenig bis nichts zu tun.
In ihrem 17seitigen poetologischen Text „Ein Zuhause erzählen“ aus dem Jahr 2011 (der leider nicht in dem tollen Band des poetenladen enthalten ist) schrieb Martin von der Offenheit der Texte, sie erwähnte den großen (nahezu vergessenen) Wolfdietrich Schnurre, dessen zitierte „Unverschlossenheit nach Vorwärts und Rückwärts“ seine Kurzerzählungen kennzeichneten und ihre hohe Intensität ausmachten. Auch Martin scheint das Davor und das Danach ihrer Texte ein Stück weit mitzudenken, sich von beiden zeitlichen Realitätsebenen mittragen zu lassen:
„Unsere Existenz ist komplett unverständlich. Woher wir kommen und wohin wir verschwinden, ob wir eine Seele haben und was das ist, ob wir nur ein Witz der Evolution sind, und uns gehen lassen können oder uns irgendwie weiter entwickeln sollen von Leben zu Leben, bis wir davon erlöst sind, kann uns niemand sagen, auch das Amt Für Alle Unbeantworteten Fragen nicht, denn es hat immer geschlossen.“ (in: Vier Wände, Ein Zuhause erzählen, S. 54, Köln 2011).
Wer sich über den nun zum Abschluss eines ganzen literarischen Lebens erschienenen, wunderbaren Band hinaus mit Marie T. Martin befassen mag, wird auch fündig bei der Kölner Komponistin Christine C. Messner, die jahrelang mit der Autorin zusammenarbeitete. Um das Jahr 2012 begegneten sich diese „Seelenverwandten“ (Messner) zum ersten Mal. Ihre Zusammenarbeit begann mit den sogenannten "Poesie-Konzerten": Maries Gedichte, von ihr selbst gelesen, begleitet von Christina C. Messner mit der Violine - Wort und Klang waren denkbar eng verzahnt. Bis 2017 haben beide immer wieder zusammen diese Lesekonzerte gegeben. Wunderbare Vertonungen einiger Gedichte sind darüber hinaus entstanden, bis zuletzt waren weitere Zusammenarbeiten angedacht, die indes nicht mehr realisiert werden konnten. Vertont hatte Messner seinerzeit auch Gedichte aus ihrem Band "Wisperzimmer", leider gibt es davon keine Aufnahmen. Auch einige andere Pläne dieser äußerst fruchtbaren Kollaboration konnten nicht mehr verwirklicht werden: „Wir waren gerade dabei, Ver-tonungen einiger Gedichte aus Rückruf zu planen, bis ihre Krankheit dann so schwer wurde, dass sie leider unsere Arbeitstermine immer wieder absagen musste. Es gab zudem Pläne eines Projekts über Leonora Carrington. Ebenso war es ein großer Wunsch von ihr, dass wir einmal ein performatives Projekt zu ihrem Wisperzimmer realisieren, die Bespielung mehrerer Zimmer eines Hauses“, so Messner. Für ein Konzert in Düsseldorf 2023 hat Messner dennoch drei Gedichte aus Martins Lyrikband Rückruf zur Komposition "wie nirgendwo" zusammengefasst und zur andachtsvollen Uraufführung gebracht: Postkarte, (S. 240); Jetzt (S. 258); und Farn (S. 277).
Marie T. Martin fehlt. Zunächst all denen, die sie gekannt und die sie geliebt haben. Sie fehlt daüber hinaus der deutschsprachigen literarischen Welt, die ohne sie, die eine der großen jungen Stimmen der deutschen Literatur war, ohne all das, was diese Stimme noch hätte verlautbaren können, eine ärmere Welt sein wird.
https://www.youtube.com/watch?v=VVkyXV3WX2s
https://www.youtube.com/watch?v=JhQLNaf5Qgs
Marie T. Martin: Der Winter dauerte 24 Jahre. Werke und Nachlass. Herausgegeben von Hanna Lemke und Andreas Heidtmann. Illustrationen: Franziska Neubert. Nachwort: Norbert Hummelt. Leipzig (poetenladen Verlag) 2024. 432 Seiten. 32,80 Euro.
© by Andreas Richartz / 12_24