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Maricela Guerrero: Wie die festliche Zusammenkunft

Gedichte > Gedichte der Woche

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Foto: Lyrik Kabinett München
Maricela Guerrero
übersetzt von Johanna Schwering

Wie die festliche Zusammenkunft
von Wissenschaft, Kunst, Poesie und
Humboldt einige Hindernisse der
gesellschaftlichen Glückseligkeit aufhebt

In den großen, mit Argandschen Lampen vortrefflich
erleuchteten Sälen sind alle Abende ein paar hundert junge
Leute versammelt, von denen einige nach Abgüssen oder
lebendigen Modellen zeichnen, und die anderen Risse von
Meublen, Candelabern und andere Bronzzierrathen copieren.
Hier vermischen sich […] Stand, Farben und Menschenraçen
völlig, und man sieht den Indianer oder Metis neben dem
Weissen, und den Sohn eines armen Handwerksmanns mit
den Kindern der großen Herren des Landes wetteifern. Es ist
wahrhaft tröstlich, zu sehen, wie die Cultur der Wissenschaften
und Künste unter allen Zonen eine gewisse Gleichheit der
Menschen einführt, indem sie sie, wenigstens für einige Zeit,
die kleinen Leidenschaften vergessen macht, deren Wirkungen
die gesellschaftliche Glückseligkeit verhindern.

Alexander von Humboldt: Versuch über den politischen Zustand
des Königreichs Neu-Spanien, Kapitel VII

Für Javier Bello


Sich auf den Rücken fallen lassen und das unendliche Gewölbe
betrachten was für ein Kosmos was für eine Nacht was für ein Nichts:
Mexiko-Stadt war ein vergessenes Stück Gemüse auf dem Boden einer
Schale voller Chemikalien und Überschuss: nie versiegende Suppe
aus Saurem Regen: ein Stück von etwas, das sich selbst aufweicht in
seinem eigenen Sumpf; dann Lesungen mitten im Umweltuntergang,
vereint in einem Tempel im festlichen Rahmen von Poesie und Düften:
Diskussionen über die lateinamerikanische Nacht, die versinkt, wenn
nicht in ihren eigenen Abwassern, dann unter Gewehrsalven und
Panzern, unter Militärs und Ausnahmezuständen:
dann Humboldt, der großzügig die Vitrinen voller Samen
öffnet, die Manuskripte, Klassifikationen, Statistiken, Tabellen,
Numeralien: Patentrezepte gegen Ungleichheiten, scharfer Sinn
für Ungerechtigkeit und Erstaunen angesichts der Ursachen
der in unverschämten Proportionen auf bunte Kasten verteilten
Armut: wer hätte damals gedacht, dass dieser Mezcal aus
wildwachsender Agave, der so viele Nächte aufgespart wurde,
mehr als 79.303 ungefährer- und geschätzterweise, seit
der Geograf amerikanische Erde betrat, uns aus seiner Hand
erwarten würde; und was dann: Samen, Almanache, Statistiken,
wir gucken immer noch in Rückenlage und es wird nicht hell,
übervolles Füllhorn und Anspielungen auf den Río Bío Bío,
Kordilleren und hochprozentig destillierte Agave; siebentausend
Kilometer über Land und Landstraßen von Mexiko-Stadt nach
Santiago für kosmische Notizen über Vögel von feierlich-
ausschweifendem Gefieder, die unter dem Mantel eines
ökonomischen Modells verschwinden, Listen von Menschen,
die heute Nacht oder ein andermal verschwinden: Maßlosigkeit
der Agaven-Industrie, der Textilindustrie, der Landwirtschaft
und der Gewinnungsindustrie: Träume und dieser schmutzige
Regen, der nicht schwinden will von Grönland bis Patagonien,
und ein paar Unverschämtheiten unter den so selten
genutzten Argandschen Lampen; und wer hätte das gedacht,
Humboldt, dieser aufgesparte Mezcal und Verse und Nächte:
Menschen von der Spitze und von der Basis einer bunten
Gesellschaftspyramide und Klassen in dieser Situation tröstet
er uns bringt uns die Seele in den Körper damit wir verharren
können unter den Lichtern einer kosmischen und präzisen
Petroleumlampe damit wir unsere Annahmen zusammentragen
können und arrangieren um Stücke, Almanache, Skizzen,
Schubladen und eine ungewöhnliche Freude; denn dann
Erleuchtung, Nacht, die leuchtet vor etwas wie Freude in der
es möglich scheint, dass sogar in diesem Zustand der Erosion:
diese Zusammenkünfte, bei denen sich Ungleichheiten
sanft auflösen und die nicht schwinden dürfen, eine Art der
gesellschaftlichen Glückseligkeit fördern können, und während
es dämmert, schauen wir in den Himmel und finden bei
Wörtern und Freundschaft Unterschlupf.


In: Das Humboldt Forum Berlin. 33 Gedichte aus aller Welt zur Eröffnung im Jahr 2021. Mit Beiträgen von Harald Albrecht, Klaus Anders, Lina Atfah, Daniel Bayerstorfer, Maddalena Bergamin, Timo Berger, Timo Brandt, Jürgen Brôcan, Max Czollek, Hasune El-Choly, Iain Galbraith, Nicoletta Grillo, Maricela Guerrero, Anna Hetzer, Jorge J. Locane, Steffen Marciniak, Luis García Montero, Denise Pereira, Dídio Pestana, Luís Quintais, Clea Roberts, Tobias Roth, Jordan Lee Schnee, Volker Sielaff, Sjón, Michael Speier, Armin Steigenberger, Jochen Thermann, Nachoem Wijnberg. München (Aphaia Verlag) 2021. 112 Seiten. 17,00 Euro.
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