Marica Bodrožić: Die Arbeit der Vögel
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Jan Kuhlbrodt
Marica Bodrožić: Die Arbeit der
Vögel. Seelenstenogramme. München (Luchterhand Literatur-verlag) 2022. 352
Seiten. 22,00 Euro.
Zu Marica Bodrožić „Die Arbeit
der Vögel“
Mag sein, dass der Essay die literarische
Form der Stunde ist, weil er von der Leserin, dem Leser, aber auch von der oder
dem Schreibenden ein Innehalten verlangt, einen Stopp überbordender Handlungen,
ein künstliches Eingreifen in den scheinbar natürlichen Gang der Dinge.
Natürlich kann man behaupten, dass der Eindruck von allem
Gelesenen durch die Situation, in der sich Lesende befinden, wenn nicht bestimmt,
so doch zumindest abgelenkt wird, denn wir lesen in der Welt und somit auch in
einer historischen Spezifik.
Es ist nicht nur die Sprache, die das Lesen und Schreiben
bestimmt. Lesen entführt nicht in eine andere Welt, auch wenn das besonders
romantisch gestimmte Naturen behaupten, vielmehr macht es in einer Art und
Weise wach, die, wenn man es zulässt, Zusammenhänge zwischen den Zeiten hervortreten
lässt.
Das scheinbar Vergangene bildet eine Folie, die, wenn man
sie über das Gegenwärtige legt, ein Verständnis ermöglicht, und so auch umgekehrt.
Also aus der Gegenwart heraus verstehen wir Geschichte. Zumindest geht mir das
so, und wie es scheint, bin ich damit nicht allein. In einem Text in der Essayreihe
des Verlagshauses Berlin habe ich versucht, darauf hinzuweisen. Pate stand und
steht hier der Gedanke, den Walter Benjamin 1940 in seinen geschichtsphilosophischen
Thesen formuliert:
„Vergangenes historisch artikulieren heißt nicht, es erkennen ›wie es denn eigentlich gewesen ist‹. Es heißt, sich einer Erinnerung bemächtigen, wie sie im Augenblick einer Gefahr aufblitzt.“ (Über den Begriff der Geschichte, VI)
Vergangenes aber bleibt auch Gegenwart, solange sein Versprechen nicht eingelöst ist und das Leid nicht gesühnt.
Viel intensiver, als es mir in meinem kurzen thesenhaften Text gelungen ist, bringt Marica Bodrožić dieses Verhältnis zum Leuchten. In ihrem bei Luchterhand erschienenem Buch „Die Arbeit der Vögel“ berichtet sie davon, wie sie, schwanger, den Weg nachgeht, den Walter Benjamin 1940 über die Pyrenäen ging, und der sein letzter Weg werden sollte, denn am 26. September 1940 nahm er sich im spanischen Portbou auf der Flucht vor den Nazis das Leben, weil er die Information erhalten hatte, dass ihm die spanischen Behörden die Durcheise nach Lissabon verwei-gern würden.
Bodrožić beschreibt also
den eigenen Gang, der Benjamins letztem folgt, und eröffnet in der Beschreibung
einen Reflexionsraum, der Ereignisse und Schicksale im Zusammenhang der
Diktaturen des zwanzigsten Jahrhunderts vergegenwärtigt.
Repressionserfahrungen, Verfolgung und Vertreibung, aber auch Solidarität,
Stärke und vielleicht so etwas wie Trost.
Dabei verweist sie auf Personen, wie zum Beispiel auf den russisch-orthodoxen
Mystiker und Naturforscher Pawel Florenski, dem ich einige meiner intensivsten
Leseerfahrungen verdanke. Florenski wurde 1882
geboren und 1937 in der Sowjetunion hingerichtet. Wie Benjamin also ist er ein
Opfer der politischen Verwerfungen des vergangenen Jahrhunderts. Florenski
schrieb:
„Im Vertrauen und im Glauben, dass in diesem Streben die Wahrheit sei, muss die Vernunft sich von ihrer Beschränkung in den Grenzen des Verstandes loslösen, sich von der Geschlossenheit der verstandesmäßigen Konstruktion lossagen und sich einer neuen Norm zuwenden – eine neue „Vernunft“ werden.“
Hier erweist er sich als ein
Geistesverwandter Benjamins, aber auch Bodrožićs.
Und wie weit wir noch von der angedachten neuen Vernunft entfernt sind, erweist
sich in den aktuellen Ereignissen, in dem von Russland entfesselten Krieg in
der Ukraine.