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Maria Stepanova: Winterpoem 20/21

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Felix Philipp Ingold

«Wozu ich noch schreibe, versteht kein Mensch …»
Maria Stepanova – Lyrik, Poetik, Übersetzung


Drei Gedichtbücher hat die exilrussische, in Berlin lebende Autorin Maria Stepanova in den Jahren 2020 bis 2023 auf deutsch vorgelegt, alle in zweisprachiger Ausgabe und exzellenter graphischer Aufmachung, und alle wurden von der hiesigen Kritik mit Wohlwollen, teilweise mit Begeisterung aufgenommen; einer der Bände liegt bereits in zweiter Auflage vor – insgesamt ein staunenswerter, durch mancherlei Preise und Ehrungen beglaubigter Auftritt.
           Stepanova – sie ist vom Jahrgang 1972 – hat innert Kürze geschafft, was hierzuland im Lyrikfach auch langfristig kaum jemandem gelingt: Das Gedicht interessant und für die Lektüre attraktiv zu machen, auch über den Kreis derer hinaus, die selbst Gedichte schreiben. Obwohl Stepanovas Werktitel – «Der Körper kehrt wieder», «Mädchen ohne Kleider», «Winterpoem 20/21» – weder attraktiv noch interessant sind, bergen ihre Texte ein eigenartiges Faszinosum, das gleichermassen von ihrer Hermetik und ihrer Kolloquialität ausgeht: Schwerstverständliches, oft auch Unverständliches wird hier klangmalerisch vorgetragen, bald in tragischer, bald in ironischer oder auch sentimentaler Intonation, so dass man schon beim Anlesen unwillkürlich involviert und in der Folge – auch wenn das Verständnis ausbleibt – gleichsam mit- und hineingezogen wird.
           Das hat etwas durchaus Magisches, es wirkt insgesamt hochpoetisch und insofern befrei- end, als es hier offenkundig nicht vorrangig auf das Verständnis des Gelesenen ankommt, vielmehr auf dessen sinnliche Erfahrung und Erkenntnis – Melodik, Rhythmus, Metaphorik. Der Gedichttext mag auf der Aussageebene undurchsichtig bleiben, doch gerade diese relative Dunkelheit regt beim Lesen zur Assoziationsbildung an, und diese wiederum wird von der Autorin zusätzlich angereichert durch eine Vielzahl von mythologischen, literarischen, histo-rischen und wohl auch autobiographischen Anspielungen, die teilweise wohl erschliessbar sind, nicht aber obligatorisch verstanden werden müssen: Bekannterweise entwickeln unerschlossene Anspielungen (etwa durch Orts- oder Personennamen) eine eigene, rein sprachlautliche Qualität im Gedicht. Wie alle in solchem Verständnis «schwierige» Poesie liefert auch Maria Stepanova zahlreiche Beispiele dafür.
        Das heisst freilich nicht, dass hier Vers für Vers, Wort für Wort entschlüsselt werden müs- sen – über weite Strecken lesen sich die grossangelegten Zyklen verhältnismässig leicht (in der allzu expliziten, etwas überdehnten Übersetzung von Olga Radetzkaja leichter als im Original), doch muss nicht nur mitvollzogen werden, was die Autorin gemeint, sondern genauso, was sie gemacht hat, beziehungsweise wie die Texte sprachlich organisiert sind.


Festzustellen ist, dass Maria Stepanova alle verfügbaren Techniken und Tricks poetischer Rede souverän beherrscht, den End- und Binnenreim ebenso wie unterschiedlichste strophische, metri-sche und lautliche Strukturbildungen, und sie zögert an keiner Stelle, ihr Können mit Nachdruck vorzuführen. Doch nie tut sie’s einzig um der künstlerischen Form willen, immer hält sie diese in gespanntem Ausgleich mit dem, was sie zu sagen hat, und was sie zu sagen hat, das lässt sie nicht nur in Mitteilung aufgehn, sondern auch – man darf es ganz unironisch so formulieren – in Gesang, wechselweise mit Vorrang melodischer oder rhythmischer Qualitäten.
           «Schön» ist weder Stepanovas Gesang, noch ist «schön», was sie mitzuteilen hat. Poetische Regulative setzt sie ebenso oft gekonnt ein, wie sie sie bewusst konterkariert. Das führt zu zahlreichen metrischen, syntaktischen, stilistischen Bruchstellen, bisweilen zu sprachlichem Brutalismus und Primitivismus, bleibt jedoch stets erkennbar als gewolltes dichterisches Verfahren – die Strapazierung der Form erfolgt in Übereinstimmung mit den oftmals wiederkehrenden Motiven von Gewalthaftigkeit, Zerrüttung, Verfall, Verrat, Verlust.
           Dichterische – übrigens auch logische – Regelwidrigkeiten sind bei Maria Stepanova ebenso oft zu vermerken wie ingeniöse sprachliche Errungenschaften, beides geht nebeneinander her im Strom der poetischen Rede.
             Stepanovas Langgedichte sind verbale Passionen, in denen Klage und Anklage, aber auch Parodie und Sarkasmus die jeweilige Thematik dominieren. Die umgreifenden Themen-kreise sind die Leiden und Laster und Lüste des menschlichen Körpers, seine Nichtigkeit und Sterblichkeit, aber auch seine heroische Grösse («Der Körper kehrt wieder»); speziell auch der weibliche Körper, immer schon formatiert durch männliches Begehren, ethische und ästhetische Ideale, Selbstüberhöhung und Selbstverachtung wie auch durch modische Schönheits- und Fitnessideale, die bald einengen, bald befreien, als wären es mal verhüllende, mal enthüllende Modeklamotten («Mädchen ohne Kleider»); schliesslich die «Kälteperiode» der Covid-Pandemie («Winterpoem 20/21»), die geprägt war von Ausschluss, Rückzug, Isolation, Depression und Rebellion einerseits, von erhöhter Intensität des Erlebens, Lernens, Lesens andrerseits – die tiefe, bisweilen absurde Ambivalenz dieser Winterära bringt Stepanova durch eine Vielzahl von lyrischen Intonationen auf den Punkt, ständig schwankend zwischen Melancholie, Tiefsinn, Selbstgewissheit, Verlorenheit, Hoffnung, Aberwitz: Die wechselnden Gefühls- und Stillagen sind hier kunstvoll aufeinander abgestimmt, was nicht ausschliesst, dass auch kunstloses Palaver überhandnehmen kann.


Der kritische, der hermeneutische, vollends dann der übersetzerische Zugang zu den Texten wird extrem erschwert durch die komplexe Verquickung von Sinn und Form. Sicherlich wird man der Autorin am ehesten dann «gerecht», wenn man ihre sperrigen Sprachwerke möglichst unbefangen – am besten laut – liest, ohne deren Aussage hinterfragen und erhellen zu wollen. Es ist der unverwechselbare Sang, der vielstimmige Sound, der als solcher die Lektüre vorantreibt und damit das Hinhören schärft – Voraussetzung für eine sinnliche Leseerfahrung, die auf rationales Verstehen nicht mehr angewiesen ist.
           Maria Stepanovas Stil- und Stimmenvielfalt macht das Zitieren einzelner Stellen obsolet, weil kein Teilstück für das Textganze repräsentativ sein kann; ihre Bücher sind im Unterschied zu den meisten Lyrikbänden nicht zum Auswählen geeignet, sie sollten, um ihre volle Wirkung zu entfalten, möglichst in einem Zug durchgelesen werden. Was aber, versteht sich, kaum zu bewerkstelligen ist.
      Dennoch sei an dieser Stelle ein Extrakt aus dem «Winterpoem» eingerückt, um die Sprechweise der Autorin zumindest punktuell zu vergegenwärtigen in einem Absatz, wo sie das lyrische Ich monologisch zu Wort kommen lässt und kurz auch das eigene Schreiben thematisiert (dies in Anspielung auf den römischen Dichter Ovid und dessen Exil im alten Thrakien):

Wozu ich noch schreibe, versteht kein Mensch, auch ich nicht,
Man weiss ja, die Dichter sind alle nicht ganz bei Trost.
Zwischen meinem Brief und deiner Brieflektüre
Liegt eine Jahreszeit, immer dieselbe: Kälte
Und endloser Schnee, dazu das komplette Thrakien
Und meilenweit Wasser und Wasser.
Die Fische leben, wenn Winter ist, unterm Deckel -
So auch ich. Klappe den Mund zu im Dunkeln.
Behalt meine Sprache für mich, ich habe ja noch zwei
Auf Vorrat: Sarmatisch und Getisch, beide ganz neu,
Und keine reizt es mich anzuprobieren.

Die hier in der Übersetzung von Olga Radetzkaja angeführten Verse sind im Schnitt um die Hälfte länger als im russischen Original, nicht nur, weil das Russische generell knapper gefasst ist, sondern auch, weil die Übersetzerin – wie überall sonst im Text – zu Ausarbeitungen und Ergänzungen neigt, die der deutschen Leserin das Verständnis erleichtern mag, ihr jedoch oftmals die Gedrängtheit, Brüchigkeit und Schnippigkeit des Originaltexts vorenthält. Dass in der deut-schen Fassung ausserdem Stepanovas zahlreiche Wort- und Buchstabenspiele sowie ihre ausgeprägte Vorliebe für Assonanzen, durchwegs verloren gehen und nur ausnahmsweise (an jeweils anderer Stelle) kompensiert werden können, ist unvermeidlich. Wer also kein Russisch liest, wird mit der eingedeutschten Stepanova nicht die herausragende Autorin kennenlernen, die sie ist.


Die Übersetzung im Detail zu analysieren, ist hier nicht der Ort; sie zu revidieren oder neu anzufertigen, bleibt eine Option. Doch grundsätzlich wäre zu fragen, was Lyrikübersetzung denn überhaupt kann und was sie muss. Sie muss in der Zielsprache ein Gedicht erbringen, das den Status eines Originaltexts hat. Wer auf Übersetzungen angewiesen ist, will nicht übersetzte Gedichte, sondern vollwertige Gedichte in seiner eigenen Sprache lesen. Wo solch seltene Qualität erreicht wird – bei Rilke, bei Zech, teilweise bei Celan – , spielt philologische Genauigkeit keine entscheidende Rolle mehr, und selbst offenkundige Fehlleistungen ändern daran nichts.
           Übersetzte Lyrik wird neuerdings vorzugsweise in zweisprachiger Edition vorgelegt. Man mag dies als Hilfestellung an die Leserschaft begrüssen, doch stellt sich die schlichte Frage, worin und für wen der Nutzen denn überhaupt gegeben ist? Wer die Originalsprache nicht kennt und allein auf die Übersetzung angewiesen ist, kann auf den Urtext problemlos verzichten. Wer indes das Original lesen und verstehen kann, bräuchte eigentlich keine Übersetzung. Das gilt gerade auch für die drei zweisprachigen Lyrikbände von Maria Stepanova: Offenkundig hält der Verlag die deutschen Nachdichtungen nicht für tragfähig genug, um sie ohne Stützung durch den Originaltext stehen und bestehen zu lassen. – Von Interesse ist editorische Zweisprachigkeit einzig für die kleine Minderheit zweisprachiger Leser, die dadurch Einsicht gewinnen in die Technik und Poetik des jeweiligen Übersetzers. Und dieses Interesse ist im vorliegenden Fall durchaus gegeben.


Maria Stepanova: Winterpoem 20/21. Übersetzt von Olga Radetzkaja. Berlin (Suhrkamp) 2023. 119 Seiten. 22,00 Euro.
Maria Stepanova: Mädchen ohne Kleider. Übersetzt von Olga Radetzkaja. Berlin (Suhrkamp) 2022. 69 Seiten. 23,00 Euro.
Maria Stepanova: Der Körper kehrt wieder. Übersetzt von Olga Radetzkaja. Berlin (Suhrkamp) 2020. 138 Seiten. 22,00 Euro.
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