Margrét Lóa Jónsdóttir: Drei Gedichte
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Margrét
Lóa Jónsdóttir
Drei Gedichte
(aus Draumasafnarar
/ Traumsammler, Mál og menning,
Reykjavík 2021)
Aus dem Isländischen übertragen von Jón Thor Gíslason und Wolfgang Schiffer
Wolkensammler
An sonnenreichen Tagen haben wir uns ins Gras gelegt und
Wolkenbilder gesammelt.
Letzte Nacht hast du mich im Traum besucht.
Ich erinnere mich an eine Seereise und eine Art Saal.
Wir hatten Luftballons aufgeblasen und
ein Fest für dich organisiert, aber die Gäste
ließen auf sich warten.
– Wir halten zusammen,
erinnere ich mich, im Traum zu dir
gesagt zu haben.
Doch wusste ich die ganze Zeit,
du warst tot.
Die Güte der Welt
Tanzende Sterne bedecken den Himmel.
Vorbei die Tage, als wir uns in der Kälte des Morgens
die Wanderschuhe gebunden und nicht die eigene Hand
vor Augen gesehen haben, bis die Strahlen der Sonne
sich einen Weg durch den Nebel brannten.
Hier spukt es. Und momentan
habe ich niemanden, den ich auf einen Kaffee einladen könnte
– niemanden, mit dem
ich sprechen könnte
über das Chaos in meinem Innern.
Schreiender Krähenflug
über einer Hühnerschar. Wildkatzen
trippeln über das Wellblechdach.
– Wankend ist die Güte der Welt.
Alles was lebt stirbt
Der Trauergesang des Dampfes der empor aus einer heißen
Quelle steigt
während die Sonne ihre glühende Zungenspitze in einen Graben presst
wir tanzen um uns selbst herum wie Wolkenbäusche im Wind
in Fleisch gekleidete Unvollkommenheit unter mehrfachen
Schichten Verbands
alles was lebt
stirbt
ein Lachen legt nahe dass ein Kindheitstraum
in Erfüllung geht
ein Weinen verrät eine unstillbare Sehnsucht nach Mitgefühl
die Stille umrahmt
die Bilder
unserer Siege und Niederlagen
unserer Fehler wie auch unserer guten Taten – die Stille
behandschuht wie ein Restaurator dem es gelang
ein unschätzbares Kunstwerk von Schimmel und Schmutz zu befreien
alles was lebt
stirbt
Zweisamkeit die an ein Glas voller Glückslose erinnert
Städte die wach sind rund um die Uhr – Raubtiere
die einander lieben (und manchmal will keiner
von uns heim)
eine Kirche geformt wie ein Seelöwe blickt nach Westen
eine Skulptur die gerade Land genommen hat empfängt Touristen
mit Freude und nachts singen die Winde Heldenlieder im
Statuenpark
bei Tagesanbruch treffen wir auf ein Gartentor wo das Laub
der Bäume herumtollt im Sonnenschein
wie ein glänzender Vorhang aus Perlen - eine Trennwand zwischen
Leben und Tod
Erinnerungen vererben
sich murmeln die Wände die
ineinander verschlungene Körper betrachten
Glockenklänge dringen durch Schlüssellöcher
brechen sich einen Weg durch Beton
Glasscheiben und Holz während die Dunkelheit der Nacht
unsere Augensterne liebkost und der Mond darüber wacht
wie das allsehende Auge Gottes
– alles was lebt
stirbt
Margrét Lóa Jónsdóttir, geboren 1967, studierte
Isländisch und Philosophie an der Universität von Island und Philosophie an der
Universität von San Sebastián in Spanien. 1985 veröffentlichte sie mit Glerúlfar
/ Glaswölfe ihren ersten Gedichtband, dem bis heute 10 weitere sowie ein
Roman und eine CD mit ihren Gedichten in Zusammenarbeit mit dem Musiker
Gímaldin folgten. Sie hat u.a. Kreatives Schreiben, Schauspiel, Kunst und
Buch-gestaltung unterrichtet sowie Gedichte übersetzt. Außerdem hat sie die
Kunstgalerie Marló und einen gleichnamigen Verlag betrieben.
2002 erhielt sie eine Auszeichnung des
Biblio-theksfonds für literarisches Schreiben, 2005 des Fjölis-Fonds des
Isländischen Schriftsteller-verbands. Sie lebt in Reykjavík.