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Marcus Roloff: Mare zum Beispiel

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Marcus Roloff
Mare zum Beispiel



Was kann Musik, das alles Andere nicht kann? Irgendetwas ist anders und besser, weil direkt und von nichts unterbrochen an diesem Metier. Musik, so merkwürdig verbindlich, kann ganze Jugenden retten oder wie eine mit Elternplunder vollgestellte Karotischdecke vom Tisch fegen. Alles verschwimmt, gerät ineinander, hält die Essenzen bereit und gleich rein ins Perzeptive, in das was aufnimmt, die Sinne, die Aufnahmetrompeten, dies aufgerissene Ohr, das nichts anderes kann als voll sein von dem, was da kommt. Und es kommt was, ununterbrochen Klang, Strom, Strömung, Einfahrt in Tunnel, ins Neue (Neu!, der einzig sinnvolle Bandname), ins Unbekannte und Nie-Dagewesene. Alles ist neu und unbekannt und absolut nie-dagewesen und -gehört – und das in jeder Sekunde, in alle Ewigkeit. Dass alles schon mal dagewesen sein soll, ist nichts als ein ärgerliches Missverständnis, man glaubt schon fast selbst dran, in alle Richtungen verlängertes, hohl und unwahrscheinlich klingendes Machtwort von Leuten, die allesamt mein Vater sein könnten.
Das Surren von Fliegen über der Biotonne: avantgardistische Tonspur. Das Rauschen des Bluts im Ohr: Anfang jeder Klangkunst. Erst größtmögliche Stille, der Raum, in dem die Dinge klingen und nachklingen können, gibt dem Ganzen jene Art von Verpuppungs-, Verwandlungsqualität, die uns so irisiert. Und die geht direkt gegen das Sterben, gegen die Null. Dass etwas ist, und nicht vielmehr nichts, ist der schönste Positivismus, den es gibt. Alles schlägt permanent aus, befindet sich durchgehend im Plus statt auf Null. Und genau genommen flackert's ja auch bei Stille im Plusbereich. Denn Stille, was immer das sei, gibt es ja gar nicht, nur Surren, Sirren, Blubbern, Rauschen, Brummen, Knistern (etc.) auf mehr oder weniger (un-)hörbarer Frequenz. Von den Tönen, die der Mond oder andere Brocken vom All her verursachen mögen, wissen wir wenig, von Delfinen und Walen etwas mehr, deren Gesang wie ein Rufen aus Räumen ist, von denen unklar bleibt, ob sie uns abgrundtief ängstigen oder trösten.
Mittlerweile wissen wir zum Beispiel auch, dass wir Christian Löfflers Musik haben. Seit seinem Debütalbum 2012 hat sich herumgesprochen, dass es hier nicht nur um hippe Electronica geht, sondern um etwas, das sich mit uns beschäftigt, unseren Seelenzuständen.  Selbstversenkung, scheint uns diese Musik zuzuwerfen, als Selbstschutz, als Bollwerk gegen eine Welt, in der Wahlen von Halbirren gewonnen werden, das Kapital wie eine amoklaufende Sichel durch die Gegend fliegt, um massenhaft Existenzen zu zerstören und das Mittelalter ungehindert aus allen Löchern kriecht und wieder vorwärtsmarschiert. Diese grauenhaft transparente, weil ganz unverhohlene Sehnsucht nach irgendeiner Existenzform, die es nicht gibt, nach etwas das das Gegenteil unsrer Unzulänglichkeit sein könnte, dieser unsrer kaum mehr als Scheiß produzierenden Unvollkommenheit. Wie verzweifelt muss unser Hirn sein, dass es andauernd besser sein will als es kann? Diese ungeheuerliche Vereinfachung andauernd, Denken nur noch in Headlines, unscharfe Begriffe überall, weil die einfachen Antworten auf die brennenden Fragen auf Dauer denn doch ganz okay sind, zumindest so okay, dass es nicht genug wehtut. Die Gegenwart als großer anonymer Platzhalter für ein noch viel weiter reichendes Unmutsgefühl. Daher der aufschießende Fantasyscheiß überall, die blödeste Mittelalterverklärung, Sonntagabend-Depressiv-TV, das gemütliche Abdriften in die selbstgewählte Ikea-Welt, in die endgültige Unmündigkeit. Wenn sie dann wenigstens die Klappe halten würden, aber nein, sie müssen missionieren gehen, loslabern und Dinge lostreten, deren Folgen noch vollkommen unabsehbar sind. Aber ich will selbst die Klappe halten und mich nur auf das Notwendigste konzentrieren.
In einer Welt wie dieser kann man womöglich nur noch (nach) innen reisen. Dort findet man alles, was man braucht, wenigstens theoretisch. Was braucht man denn? Diese Musik weiß es. Alles Fadenscheinige der eigenen Existenz, also das was sich einem unter der Hand in Sekundenbruchteilen so zuträumt, zerfällt sofort. Etwas fehlt, etwas stimmt nicht, das weiß man ja, das ist eh das Grundgefühl, mit dem man die Straße betritt. Eigentlich wird mit dieser Musik alles noch schwerer erträglich, weil sie einen Fingerzeig darauf bietet, dass alles ganz anders sein könnte. Und zwar so, wie es eben gerade nicht sein kann, schon gar nicht auf Dauer, schon gar nicht mit uns, dir oder mir.
Also leuchtet diese Musik als Utopie durch die Zwischenräume, die Äste der Bäume. Beziehungsweise andererseits als Kostümbild des Scheiterns, der mit wenig Hoffnung ausgestatteten glimmenden ständigen Unruhe. Nehmen wir einen Track wie „Neo“ vom neuen Album „Mare“ – hier zieht sich etwas zusammen wie eine Katze, die sich zum Schlafen eingerollt hat. Oder „Youth“, das ganz unverhohlen von den abertausenden vergangenen Sommern erzählt, in denen so etwas wie Kindheit stattfand und für immer vorbei ist, nur um sich dann in „Lid“ auf eine alte Bass-Sequenz zu verlassen und einen gehauchten, gemurmelten Gesang anzustimmen, der selber merkt, dass er sich nicht recht entscheiden kann zwischen Klage und Neuanfang und den gesamten Track lieber in Schönheit ausbrechen lässt, Schönheit, deren trauriger Glanz sich im Laufe des Albums immer mal wieder zurückzieht, wie in „Athlete“ und „Vind“, um irgendwo anders als im Track selbst zu überwintern. Hier unterbricht sich quasi das Wissen, dass alles Wissen nur Wissen vom Tod ist.


Christian Löffler: „Mare“. Hamburg (Ki Records ») 2016. 17 tracks. 3 x LP = 22,00 € / CD = 15.00 € / Digital 10,99 €.




Zu Christian Löffler - Mare (feat. Mohna) auf youtube


Zum track 'Haul' (feat. Mohna)  auf der Ki-Website

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