Marcus Neuert: fischmaeuler. schaumrelief
Rezensionen/Lesetipp > Rezensionen, Besprechungen
Patrick Wilden
Marcus Neuert: fischmaeuler. schaumrelief. anagrammatische miniaturen.
Norderstedt (BoD - edition offenes feld,
Band 61) 2021. 136 Seiten, 17,50 Euro. ISBN 978-3-7543-1773-0
„manisch gedichte“
Marcus Neuerts anagrammatische
Miniaturen
macht doch nicht immer das technische madig!ich habe nun eine gedichtmaschine gefunden,die haette selbst goethe neidisch gemacht.
Wer es schon einmal selbst versucht
hat, ist möglicherweise im Internet auf die Seite von Ulrich Sibiller gestoßen,
dem dieses Gedicht gewidmet ist. Jeder Buchstabe eines Wortes oder einer Folge
wird im Anagramm zum Material, Umlaute werden aufgelöst. In fischmaeuler. schaumrelief, erschienen
als 61. Band von Jürgen Brôcans edition
offenes feld, hat der Mindener Dichter Marcus Neuert nun einen ungewöhnlich
umfangreichen, verblüffend kreativen und oft in entferntesten Wortwelten
beheimateten Katalog seiner Buchstabenrochaden zusammengetragen, die seit 2013
sein lyrisches Schaffen prägen.
Anagramme gibt es seit der Antike,
Gerhard Grümmer listet sie in seinem Spielformen-Handbuch
von 1985 an erster Stelle, unter „Buchstabenspiele“. In die deutsche Sprache hielten
sie wie so vieles Sprachspielerische mit der Barockdichtung Einzug. Anders als
die modernen komplexen Anagrammkompositionen einer Unica Zürn oder, in neuester
Zeit, eines Titus Meyer bedient sich Neuert einer „Insulartechnik“, wie er es
nennt. „hab noch ueber den riss gestaunt
/ ist mir wohl was vor die stirn gesaust
/ so ein satt nussiger geschmack im
mund / wie wenn man granit suesst“.
Die Technik besteht darin, möglichst viele Permutationen „zu einer sinnvollen
Lautfolge“ (Grümmer) zusammenzusetzen, jedoch nicht zu einem geschlossenen
Anagramm-gedicht – auch dafür gibt es sehr gelungene Beispiele im Band –,
sondern die Lücken durch eine lyrisch verknappte ‚Story‘ aufzufüllen: „wohl ein
genussartist sagt der rettungsassi / und macht so einen stusseintrag ins krankenblatt / des
eingelieferten ergusstitans / von
wegen gestirnsstau“. Der Genuß auf
seiten der oder des Lesenden kann nun darin bestehen, den Ergebnissen dieses
irrwitzigen, nicht selten urkomischen Würfelspiels um das Ausgangswort – in diesem
Fall gestirnsstau, der Titel –
bewundernd zu folgen. Aus einem Wunsch nach Transparenz heraus verwendet der Autor
dafür Kursivierungen.
Um die strukturelle Absurdität des Anagrammatischen abzu-mildern, sind die mal in Versen, mal in Blocksatz gesetzten, durchgängig kleingeschriebenen und nur selten interpunktierten Texte des immerhin 136 Seiten starken Bandes zu sechs Kapiteln gruppiert. Hier werden semantische Schwerpunkte gesetzt. „kein schoener land“ etwa enthält Geistreiches über Gütersloh oder das „muensterland“ („namenstrudel“, „stunden-maler“), und wer „carola spuert nix“ bis in die vorletzte Zeile verfolgt, wird auf „castrop-rauxel“ stoßen. Aus einer drei Seiten langen Tirade wie „europaeisch sein“ spricht die pure Lust an der Mutation der Gedanken:
europaeisch sein hieße, dass ich schaue, spioniere, was anderswo anders geschieht, stets un peu ironiesachse et un peu français, nicht diese ganze nice ass euphorie, weil man die anderen eigentlich nur von hinten sehen will.

Wahrlich „ein poesierausch“, so der Untertitel dieses Textes. Neuert sieht sich
beim mit Ausdauer und großem Spaß betriebenen Verfertigen seiner Anagramm-Gedichte
durchaus nahe an der „Wurzel der Poesie“, die auch an „uralte Traditionen von
Zaubersprüchen“ heranreiche, wie er in seinem Vorwort schreibt. Wenn so einer
dann das Merkelsche „wir schaffen das“
zum Ausgangspunkt nimmt („ob davon der fasan
fesch wird?“) oder über „glatteisbereiche“
per-mutiert, kann das an die DNA der Gesellschaft rühren: „nur keine schlaegerei bitte, baten die moderaten
sich aus und verkauften rasch teilgebiete
der demokratur, laestige berichte
wurden unter den teppich gekehrt, bevor noch die asche beteiligter recht erkaltet war.“ Auch Pande-misches kommt hier
und da vor, ob als „krisengespraech“,
„bloeder infekt“ oder auf einer „aussenterrasse“,
„senkrechte folien zwischen mir und
dir“…
Gut zu wissen, daß diese lyrischen Gesprächsangebote
aus den innewohnenden Neuverschaltungen der Laute gewonnen werden. Insofern
überzeugen Neuerts Texte, für die er immerhin beim Lyrikpreis Meran 2020
ausgezeichnet wurde, vielleicht auch die Skeptiker. Als besonders krasses
Beispiel mag seine Antwort auf Jan Böhmermanns geschmacklose Erdoğan-Parodie
herhalten, die dem Schmäher des türkischen Präsidenten letztlich auf die Füße
fiel. Bei Neuert heißt es:
instanz der luege: dezent singulaerzulangendes tier der anzugseliten. in zensur geadeltden sarg zuteilen: da zu siegen lerntder ziegensultan.
Bei einem reinen Anagrammgedicht
wie diesem eine relative Mühelosigkeit und zugleich, der Sache geschuldet, die
gebotene Bissigkeit an den Tag zu legen, ist wahrlich aller Ehren wert. Es ist
eben ein zutiefst technisches Verfahren, dessen sich Marcus Neuert virtuos
bedient. Das eingangs zitierte „lob des anagrammgenerators“, der das klassische
Knobeln und Ausstreichen der einzelnen verwendeten Buchstaben weitgehend
obsolet gemacht hat, spricht dem Autor denn auch aus dem Herzen: „macht schneidige verse mir am laufenden
band“, die zugrunde gelegte „gedichtmaschine“,
„bild auf bild, magie auf magie
schichtend, / schreibt sie mir manisch
gedichte!“