Marcel Proust: Trauer und Träume in allen Regenbogenfarben
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Marcel Proust
Trauer und Träume in allen Regenbogenfarben
~ 1895
übersetzt von Ernst Weiß
I
Tuilerien
»Die Lebensführung des Dichters sollte so einfach sein, daß die allergewöhnlichsten Dinge ihn bewegen können; seine Freudigkeit müßte wie eine Frucht einem bloßen Sonnenstrahl entwachsen, die bloße Luft müßte die Kraft haben, ihn zu begeistern, Wasser müßte genügen, um ihn trunken zu machen.«Emerson
Heute morgen
hat sich die Sonne in den Tuilerien nach und nach auf allen Steinstufen zur
Ruhe gelegt, gleich einem blonden Jüngling, dessen leichten Schlaf schon das
Vorübergleiten eines Schatten weckt. Junge Sprossen grünen am alten
Palastgemäuer. Ein zauberhaft beschwingter Wind mischt den Duft der
Vergangenheit mit dem frischen Geruch des blühenden Flieders. Die Statuen, die
sonst wie Irrsinnige auf unseren Plätzen Schaudern hervorrufen, träumen hier
unter Hagebuchen, gleich Weisen, die das strahlende Grün wie ein Dach über
ihren weißen Glanz gebreitet haben. Auf dem Grunde der Wasserbecken brüstet
sich Himmelsblau und strahlt wie Menschenblick. Von der Terrasse am Wasser
bemerkt man, wenn man von der anderen Seite des Quai d'Orsay kommt, auf dem
jenseitigen Ufer einen vorübergehenden Husaren, der aussieht, als schritte er
hervor aus einem andern Jahrhundert.
Die Winden
quellen toll über die Vasen, die Geranien erheben sich wie Kronen. Das
Heliotrop glüht in der Sonne und verbreitet seinen Duft. Vor dem Louvre sind
die Zitterrosen hoch aufgeschossen, leicht wie Mäste, edel und zierlich wie
Säulen, errötend wie junge Mädchen. Die Wasserspiele richten ihre Strahlen
gegen den Himmel, irisierend in der Sonne und seufzend wie
aus Liebe. Am Ende der Terrasse sieht man einen Reiter aus Stein, ohne sich von
seinem Platze zu rühren, in tollem Galopp dahinsetzen; die Lippen hat er lustig
an eine Trompete gepreßt, er verkörpert die ganze junge Glut des Frühlings.
Aber nun hat
sich der Himmel verdunkelt, und es wird regnen. In den Wasserbecken ist jede
Spur von glänzendem Azur verschwunden. Nun gleichen sie blicklosen Augen oder
Vasen voll von Tränen. Das törichte Wasserspiel wird von dem Winde gepeitscht,
und doch erhebt es schneller und höher gegen den Himmel seine jetzt etwas
komisch anmutende Hymne. Die schutzlose Schönheit des Flieders ist sehr
traurig. Und da unten sieht man den nichtsahnenden Reiter, wie er bei
verhängten Zügeln mit seinen Marmorbeinen sein Pferd zu einem rasenden und doch
unbeweglichen Galopp durch eine unbewegliche und wütende Geste anspornt – und
dabei bläst er ohne Ende seine Trompete gegen den schwarzgewordenen Himmel.
II
Versailles
»Ich kenne einen Wasserarm, der die wütendsten Schwätzer zum Schweigen bringt, sobald sie sich ihm genähert haben; und hier bin ich immer glücklich, sei es, daß ich fröhlich herkomme, sei es, daß ich traurig bin.«Brief Balzacs an Herrn de Lamothe-Aigron
Der
erschöpfte Herbst, den jetzt nicht einmal ein seltener Sonnentag wiedererwärmt,
verliert nach und nach seine letzten Farben. Ausgelöscht ist die intensivste
Glut seines Laubwerks, das so in Flammen stand, daß man nachmittags und morgens
die glorreiche Illusion eines Sonnenuntergangs haben konnte. Als die letzten
leuchten noch die Dahlien, die indischen Nelken, die malvenfarbenen, violetten,
gelben, weißen und rosenfarbenen Chrysanthemen hier auf dem dunklen, trostlosen
Untergrund des Herbstes. Geht man um sechs Uhr abends durch die Tuilerien, so sind sie wie in gleiche Uniform unter dem
düsteren Himmel in eintöniges Grau gekleidet und erscheinen nackt, die
schwarzen Bäume zeichnen Zweig für Zweig ihre machtvolle und doch zarte
Verzweiflung am Himmel ab – plötzlich merkt man aber im reichsten Glanz eine
Unmenge von diesen Herbstblumen mitten im halben Dunkel, und unsere Augen, die
sich schon an die aschenfarbenen Horizonte gewöhnt haben, werden mit einemmal
von diesen wollüstigen Farbenflammen übermannt. Weicher sind die Stunden des
Morgens. Noch glänzt manchmal die Sohne, noch kann ich sehen, wenn ich die
Terrasse am Wassergestade niedersteige, wie mein Schatten vor mir über die
Stufen an der großen steinernen Treppe hinabgleitet. Ich will hier nicht, was
andere schon viel besser vor mir getan haben, den großen Namen Versailles
aussprechen, mit seinem Altersrost und seiner Süße, den Namen der fürstlichen
Gruft des alten Laubwerkes, der weiten Gewässer und der Marmorsteine – den
wahrhaft aristokratischen und demoralisierenden Ort, wo uns nicht einmal die
beunruhigende Anklage entgegenklingt, das Leben von so vielen arbeitenden
Menschen habe nicht so sehr dazu gedient, die Freuden einer alten Zeit zu
steigern und zu vertiefen, als vielmehr dazu, die Melancholie unserer Zeit noch
melancholischer zu machen. Ich will dich nicht nach soviel anderen noch einmal
nennen, Versailles, und doch, wie oft habe ich mich zu dem roten Kelch deiner
Wasserbecken aus rosigem Marmor niedergebeugt, um mich bis zur letzten
bittersüßen Wonne am Zauber dieser letzten Herbsttage zu berauschen.
Die Erde ist
mit verwelkten und verwesten Blättern übersät, und so scheint sie von ferne ein
gelb und violettes, ausgeblaßtes Mosaik. Während ich am Weiler vorbeikomme,
stelle ich den Kragen meines Paletots gegen den Wind auf – plötzlich höre ich
Tauben gurren. Überall der Duft nach Buchsbaum in seiner berauschenden Würze
wie am Palmsonntag. War ich es, der einmal einen kleinen Frühlingsstrauß in
diesen Gärten gepflückt hat, die nun der Herbst verstümmelt hat?
Auf der
Wasserfläche scheuchte der Wind die Blumenblätter einer frierenden Rose
zusammen. In diesem großen Blätterfall von Trianon war es
allein die leichte Kuppel eines kleinen weißen Geranienbeetes, die sich über
das vereiste Wasser erhob. Kaum wiegten sich die Blumen im Winde. Wohl weiß ich
jetzt, nachdem ich den Wind aus der Ebene und den Salzduft der Hohlwege in der
Normandie eingeatmet habe und nachdem ich das Meer durch die Zweige von
blühenden Rhododendren habe leuchten sehen – jetzt weiß ich, wie sehr die
Nachbarschaft der Gewässer den Zauber der Pflanzenwelt erhöht. Aber die
Reinheit dieses süßen weißen Geraniums ist keuscher als die Reinheit einer
Jungfrau, denn unbeschreiblich anmutig ist ihre Zurückhaltung, wenn sich das
Geranium über die gekräuselten Gewässer niederbeugt, zwischen diesen
Ufersteinen, die hoch mit totem Laub bedeckt sind. O silberhaariges Alter der
noch grünenden Bäume, o ihr verzweifelten Zweige, Teiche und Wasserläufe, die
eine ehrfurchtsvolle Hand hier und dort hingesetzt hat, als Urnen, dargeboten
der Schwermut der Bäume!
III
Spaziergang
Trotz des
leuchtend klaren Himmels und der schon warmen Sonne blies der Wind noch so
kalt, und die Bäume waren noch so kahl wie im Winter. Um ein Feuer anzuzünden,
schnitt ich einen dieser Äste ab; ich hatte ihn abgestorben geglaubt, doch der
Saft spritzte hervor, benetzte meine Arme bis zum Ellenbogen und verriet unter
der erfrorenen Rinde des Baumes ein stürmisch lebendiges Herz. Der nackte Boden
des Winters füllte sich zwischen den Stämmen mit Anemonen, Kuckucksblumen und
Veilchen, und die Bäche, die gestern noch dunkel und leer rauschten, leuchteten
im Widerschein eines zarten blauen und lebendigen Himmels, der sich bis in die
Tiefe darin brüstete. Es war nicht der blasse, ermüdete Himmel der schönen
Oktoberabende, der, in den Tiefen des Wassers ausgebreitet, dort vor Liebe und
Melancholie zu vergehen schien, nein, es war ein starker und
glutvoller Himmel. Graue, blaue und rosafarbene Wolken glitten über seinen
zärtlichen, lachenden Azur, nicht die Schatten der gedankenvollen Wolken,
sondern die leuchtenden, schlüpfrigen Flossen eines Barsches, eines Aals oder
eines Stintes. Im Rausch der Freude eilten sie zwischen dem Himmel und den
Gräsern, bewegten sich in ihren Wiesen und ihren Gebüschen, die der strahlende
Genius des Frühjahrs ebenso wie unsere Oberwelt verzaubert hatte. Und die
Wasser glitten über den Köpfen der Fische dahin, zwischen ihren Kiemen, unter
ihrem Leib, schneller strömten die Wasser und rauschten ihren Gesang, und
lustig jagten sie vor sich die Sonnenstrahlen her.
Nicht minder
erfreulich anzusehen war der Hühnerhof, aus dem wir Eier holen sollten. Gleich
einem inspirierten und fruchtbaren Dichter, der es nicht verschmäht, Schönheit
über die geringsten Orte auszuschütten, selbst über solche, die bisher offenbar
nicht dem Reich der Kunst angehört haben, so erwärmte die wohltuende Kraft der
Sonne den Düngerhaufen, den unordentlich gepflasterten Hof und den Birnbaum,
der wie eine alte Magd gekrümmt war.
Doch wer ist
diese königlich gekleidete Gestalt, die sich uns nähert? Zwischen diesen
ländlichen Dingen schreitet sie auf den Zehenspitzen, wie um sich nicht zu
beschmutzen. Es ist der Vogel der Juno, er leuchtet nicht in dem Prunk toter
Edelsteine, nein, es sind die wahrhaftigen Augen des Argus: es ist der Pfau,
dessen sagenhafte Pracht uns hier in Erstaunen setzt. Er sieht aus wie die
Herrin des Hauses vor einem großen Fest, bevor die ersten Gäste kommen; in
ihrem Kleid mit schillernder Schleppe, einen azurblauen Halsschmuck um den
königlichen Hals, Aigretten auf dem Haupte, so schreitet sie in funkelndem
Glanz durch das bewundernde Volk der Gemeinen, die vor ihrem Tore versammelt
sind, sie ist gewillt, noch einen letzten Befehl zu geben oder den Prinzen von
fürstlichem Geblüte zu erwarten, den sie an der Schwelle empfangen muß.
Doch nein,
hier verbringt nur der Pfau sein Leben, er ist ein wahrer Vogel aus dem
Paradies im Hühnerhof, zwischen Truthühnern, Enten und anderem Federvieh. Wie
die gefangene Andromeda, die zwischen Sklavinnen Leinen
webte, so muß er leben, aber er hat nicht, wie sie, die Pracht der königlichen
Wahrzeichen und der ererbten Schmuckstücke aufgegeben. Ein Apoll, den man immer
erkennt, auch dann, wenn er in seinem Strahlendiadem die Herde des Admet
weidet.
IV
Die Familie hört Musik
»Denn die Musik ist etwas Süßes, sie bringt Gleichklang in die Seele, und wie ein göttlicher Chor erweckt sie tausend Töne, die im Herzen ihren Gesang anstimmen.«
Für eine
Familie, die wirklich lebt und in der jedes Mitglied denkt, liebt und handelt,
ist der Besitz eines Gartens eine gute Sache. Ist des Tages Müh' und Arbeit
vorbei, so kommen die Mitglieder der Familie an den Abenden des Frühlings, des
Sommers und des Herbstes zusammen; mag der Garten noch so klein sein, mögen
sich die Hecken noch so nahe gegenüberstehen, so hoch sind sie nicht, als daß
man nicht ein großes Stück Himmel sehen könnte, wohin jedermann die Augen
erheben kann, um zu träumen, ohne zu sprechen. Das Kind träumt von
Zukunftsplänen, von der Wohnung, die es mit dem geliebten Kameraden beziehen
will, um sie nie zu verlassen, es träumt von allen unbekannten Pfaden der Erde
und des Meeres. Der Jüngling träumt von dem geheimnisvollen Zauber der Frau,
die er liebt, die Mutter träumt von der Zukunft ihres Kindes, und die Frau, die
sonst schwer ihren Frieden finden kann, entdeckt auf dem Grunde dieser lichten
Stunde unter der kalten Außenseite ihres Mannes eine schmerzliche Wehmut, die
sie tief zu Mitleid rührt. Der Vater verfolgt mit den Augen die Rauchwolke, die
über ein Dach emporsteigt, und er hängt seine Gedanken an die freundlichen
Szenen der Vergangenheit, die zauberhaft das Licht des Abends bis in die Ferne
durchleuchtet. Er denkt an seinen kommenden Tod und an das
Leben seiner Kinder nach seinem Tode; und so erhebt sich die Seele der ganzen
Familie gläubig gegen Sonnenuntergang, während der große Lindenbaum, die
Kastanie oder die Tanne über sie die Benediktion ihres erwählten Duftes
ausgießt oder die Weihe ihres ehrwürdigen Schattens.
Aber für
eine Familie, die wirklich lebt, wo jeder denkt, liebt und handelt, für eine
beseelte Familie gibt es nichts Süßeres, als wenn sich diese Seele abends in
einer Stimme inkarniert, das heißt, wenn sie widerklingt in der klaren und
unversiegbaren Stimme eines jungen Mädchens oder eines Jünglings, der die Gabe
der Musik oder des Gesangs empfangen hat. Käme ein Fremder an der Gartenpforte
vorbei, hinter der die Familie schweigt, so könnte er fürchten, durch seine
Annäherung alle ihre gläubigen Träume zu stören. Aber könnte der Fremde, ohne
den Gesang zu hören, die Versammlung von Verwandten und Freunden nur
wahrnehmen, wie sie ganz Ohr ist – müßte er da nicht den Eindruck haben, er
wohne einer unsichtbaren Messe bei? Und das heißt so viel, daß trotz der
Verschiedenheit der Haltung in der echten Ähnlichkeit des Ausdrucks sich die
untrügliche Einheit dieser Seelen ausspricht – die im Augenblick verwirklicht
ist durch die Zuneigung, verwirklicht zu ein und demselben idealen Drama, kraft
der Ausgießung in der Kommunion ein und desselben Traumes. Wenn in einem
Augenblick der Wind die Pflanzen niederbeugt und weithin die Äste bewegt, da
läßt ein Hauch die Köpfe sich beugen oder sich plötzlich wieder erheben. Es ist
nicht anders, als ob ein unsichtbarer Bote ihnen allen einen aufregenden
Bericht brächte – sie alle scheinen mit Angst zu lauschen und mit tiefer
Anteilnahme oder gar mit Schauder ein und dieselbe neue Nachricht anzuhören,
die indessen in jedem ein anderes Echo erweckt. Die beklemmende Erregung der
Musik ist auf ihrem Gipfel, ihre Anführung wird gebrochen durch einen tiefen
Fall, ein neuer Anlauf folgt, verzweifelt wie nie zuvor. Die Musik geht ohne
Grenzen im Licht auf, ihre Geheimnisse verlieren sich im Dunkeln, für einen
sind es die weiten, ausgebreiteten Schaustücke des Lebens und des Todes, für
das Kind sind es herzbeklemmende Verheißungen von Meeren
und von fremden Ländern, für den leidenschaftlich Liebenden ist dieses
Geheimnis grenzenlos, es ist das Hell-Dunkel der Leidenschaft. Der Denker sieht
sein ganzes sittliches Leben sich abrollen. Verliert die Melodie den Schwung
und sinkt herab, so ist es sein Fallen und seine Schwäche; aber sein ganzes
Herz bäumt sich auf und nimmt einen Anlauf, wenn die Melodie ihren Aufschwung
wiedergewinnt. Das mächtige Grollen der Harmonien erschüttert die
geheimnisvollen, reichen Tiefen seiner Erinnerung bis zum Grunde. Der Mann des
tätigen Lebens atmet keuchend in dem Gewirr der Akkorde, in dem Galopp der
schnellen Tonfolgen; majestätisch triumphiert er in dem Adagio. Selbst die
ungetreue Frau fühlt, wie ihr Fehltritt verziehen wird, er ist zu nichts
geworden, denn auch er hatte seinen himmlischen Ursprung in dem nie gesättigten
Herzen, dem die täglichen Freuden nie Genüge getan haben; wohl hatte es sich
verirrt und seinen Weg verloren, aber doch nur auf der Suche nach dem Geheimnis
– und von diesem Geheimnis strömt jetzt diese Musik über, voll wie die Stimme
der Glocken krönt sie das sehnlichste Verlangen.
Wenn auch
sonst der Musiker vorgibt, er genieße in der Musik nur das Vergnügen der
technischen Vollendung, so zeigt auch er jetzt alle Zeichen einer echten
Erregung, denn sie ist nur verschleiert durch sein musikalisches
Schönheitsempfinden, und dieses Schönheitsempfinden hatte sich seinem eigenen
Blick bisher verborgen. Und zuletzt ich selbst, ich höre in der Musik die
weiteste, die umfassendste Schönheit des Lebens und des Todes, des Meeres und
des Himmels, und von jetzt an fühle ich in deinem Zauber noch mehr Eigenes, nie
und nirgends Wiederkehrendes. O du meine teure Vielgeliebte!
V
Die Paradoxe
von heute sind die Vorurteile von morgen. Denn auch die breitesten und
widerlichsten Vorurteile von heute hatten einmal ihren Geburtstag, an dem die
Mode ihnen ihre gebrechliche Anmut geliehen hat. Viele
Frauen von heute wollen sich frei machen von allen Vorurteilen, aber was sie
darunter verstehen, sind Grundsätze. Hier ist ihnen das Vorurteil zu einer
schweren Last geworden, mögen sie sich auch damit schmücken wie mit einer eigenen,
etwas fremdartigen Blume. Sie können nicht glauben, daß etwas nach einem
tieferen Plan gebaut sei, daher messen sie alle Dinge mit gleichem Maße. Sie
genießen ein Buch oder das Leben selbst wie einen schönen Tag oder wie eine
Orange. Sie sagen: »Kunst« bei einer Schneiderin und Philosophie bei der »Vie
Parisienne«. Sie würden es unter ihrer Würde finden, wenn sie sich ohne
Klassifizierung, ohne Urteil einfach damit begnügen sollten, zu sagen: Das ist
gut, jenes schlecht. Früher war's so, daß, wenn eine Frau sich gut aufführte,
sie so lebte zur Beruhigung ihrer Moral, das heißt, sie tat es zur Beruhigung
ihres Denkens auf Kosten ihrer instinktiven Natur. Heute geschieht es zur
Beruhigung der instinktiven Natur auf Kosten der Moral – das heißt soviel, auf Kosten
ihrer nur in der Theorie bestehenden Unmoral (siehe die Dramen von Halévy und
Mailhac). Alle Bande der Moral und der gesellschaftlichen Gesetze sind bis aufs
äußerste gelockert, die Frauen schwanken verzweifelt zwischen dieser
theoretischen Unmoral und einer instinktiven Güte. Was sie suchen, ist nur die
Wollust, aber die findet man nur, wenn man nicht sucht, wenn man sich ganz dem
ursprünglich Quellenden hingibt. Dieser Skeptizismus, dieser Dilettantismus
würde in einem Buche ebenso störend wirken wie eine Mode außer Mode. Aber die
Frauen sind alles andere eher als Zukunftsprediger von Mode und Geist, vielmehr
sind sie verspätete Nachzügler und Nachbeter. Heute gefällt ihnen noch der
Dilletantismus, und er paßt ihnen. Wenn er auch ihr Urteil trübt, wenn er ihr
Benehmen entnervt, man kann doch nicht leugnen, daß er ihnen eine etwas
angeschmutzte, aber noch liebenswerte Anmut verleiht. So lassen sie uns bis zur
Wonne fühlen, was an Leichtigkeit und Süße eine überraffinierte Zivilisation
noch bieten kann. Da gibt es einen ewigen Aufbruch nach Cythere, wo die Feste
weniger mit aufgerührten Sinnen als in der Phantasie gefeiert werden. Das Herz,
der Geist, Augen, Nase, Ohren, alles bringt einen Hauch von
Wollust in ihre Attitüden. Wer diese Zeit gut schildern will, muß sie –
wenigstens ist das mein Gefühl – ohne rechte Anspannung, ohne Rückgrat
zeichnen. Diesem Leben entströmt der sanfte Duft aufgelöster Frisuren ...
Der Ehrgeiz
berauscht mehr als der Ruhm. Die Sehnsucht läßt alle Dinge blühen, der Besitz
zieht alle Dinge in den Staub. Besser, sein Leben träumen als es leben. Mag
immerhin auch noch im Leben so viel Traum enthalten sein, nur weniger
geheimnisvoll und zugleich auch weniger klar, mag sich auch im Leben ein
undurchsichtiger, schwerer Traum abspiegeln, ähnlich dem zerstreuten Traume in
dem dumpfen Bewußtsein wiederkäuender Tiere. Schöner sind die Stücke von
Shakespeare vom Arbeitszimmer aus gesehen, als auf dem Theater dargestellt. Die
Dichter, welche Frauengestalten unvergänglicher Liebe geschaffen haben, haben
oft nur mittelmäßige Dienerinnen in Gasthöfen gekannt, und im Gegensatz dazu
haben die umworbensten Wollüstlinge nicht einmal die Fähigkeit, das Leben zu
begreifen, das sie selbst führen oder das vielmehr sie führt. – Ich habe einen
kleinen zehnjährigen Jungen gekannt, der hatte eine zarte Gesundheit und eine
frühreife Einbildungskraft, und dieser Knabe hatte einem etwas älteren Mädchen
eine reine Geistesliebe geweiht. Stundenlang verweilte er am Fenster, um es
vorübergehen zu sehen, weinte, wenn er es nicht sah, weinte noch mehr, wenn er
es gesehen hatte. Sehr kurze Zeit und sehr selten verweilte er an der Seite des
Mädchens. Er schlief nicht mehr, aß nicht mehr. Eines Tages warf er sich aus
dem Fenster. Man dachte im Anfang, die Verzweiflung darüber, sich seiner
Freundin nicht nähern zu können, habe ihn in den Tod getrieben. Man erfuhr
aber, daß er (gerade umgekehrt) sehr lange mit ihr gesprochen hatte, und sie
hatte sich außerordentlich liebenswürdig gegen ihn gezeigt. So nahm man denn
an, daß er auf die grauen Tage verzichten wollte, die ihm noch zu leben blieben
nach dieser Zeit einer Trunkenheit, die er möglicherweise nicht mehr erneuern
konnte. Zahlreiche Geständnisse, die er seinerzeit einem seiner Freunde gemacht
hatte, ergaben den Einblick, daß er jedesmal eine
Enttäuschung empfunden hatte, sooft er die Königin seiner Träume sah – aber
kaum war sie fort, so gab seine fruchtbare Phantasie ihre ganze Macht dem
kleinen fernen Mädchen, und er sehnte sich nach ihm. Jedesmal versuchte er
seine Enttäuschung auf die ungünstigen Nebenumstände des jeweiligen
Zusammenseins zurückzuführen. Nach jener letzten Zusammenkunft, bei der er,
kraft seiner bereits gelehrig gewordenen Phantasie, seine Freundin auf den
höchsten Gipfel der Vollendung geführt hatte, deren sein inneres Wesen fähig
war, maß er verzweifelnd diese halbe Vollendung an der ganzen, worin er lebte
und an der er starb, und er stürzte sich aus dem Fenster.
Sodann ward
er zum Idioten, lebte noch lange: Von seinem Stürze rührte eine Wandlung her,
die ihn seine Seele vergessen ließ, sein Denken, seine Sprache, seine Freundin,
die er wiedersah, ohne sie zu erkennen. Sie aber heiratete ihn trotz aller
Bitten und Drohungen und starb ein paar Jahre nachher, ohne daß er sie noch
einmal wiedererkannt hatte. – Das Leben ist wie diese kleine Freundin. Wir
träumen es, und wir lieben es in seiner Traumgestalt. Man muß nicht versuchen,
es zu leben. Man stürzt sich wie der kleine Junge in den Stumpfsinn, nur nicht
mit einem Male, denn alles im Leben schwächt sich mit unmerkbaren Nuancen ab.
Sind zehn Jahre vergangen, dann erkennt man seine Träume nicht wieder, oder man
verleugnet sie, man lebt wie ein Rind für das Gras, das man im Augenblick
weidet. Und wer kann sagen, ob aus unserer Vereinigung mit dem Tode unsere
unbewußte Unsterblichkeit erwachsen kann?
VI
»Herr
Hauptmann«, sagte der Offiziersbursche ein paar Tage nachdem die kleine
Wirtschaft eingerichtet war, wo sein pensionierter Herr bis zu seinem Tode
leben sollte (seine Herzkrankheit versprach ihm keine lange Lebensdauer mehr),
»Herr Hauptmann, vielleicht würden Sie ein paar Bücher ein wenig zerstreuen, da Sie jetzt weder der Liebe nachgehen können noch
auch sich duellieren. Was soll ich Ihnen kaufen?«
»Kaufe
nichts! Keine Bücher. Sie können mir nichts sagen, was ebenso interessant wäre
wie das, was ich erlebt habe; viel Zeit habe ich nicht mehr vor mir, und ich
will, daß mich nur meine Erinnerungen zerstreuen. Gib mir den Schlüssel zur
großen Truhe, von ihrem Inhalt will ich alle Tage etwas lesen.«
Und er nahm
Briefe heraus, es entströmte ein weißliches, bisweilen auch farbiges Meer,
nichts als Briefe, sehr lange, aber auch einzeilige, auf eine Karte
geschriebene, manche mit verwelkten Blumen, mit Andenken versehen oder mit
kargen Anmerkungen von seiner eigenen Hand, um sich die Nebenumstände des Tages
zurückzurufen, an dem er sie empfangen hatte, ferner Photographien, die trotz
aller Vorsicht verblichen waren, gleich den Reliquien, welche gerade die
Gläubigen mit ihrer Frömmigkeit zerstört haben, denn diese küssen sie zu oft.
Und alle diese Dinge waren sehr alt, es waren Andenken von toten Frauen
darunter und von solchen, die er seit zehn Jahren nicht mehr gesehen hatte.
Und es gab
in all diesen Dingen winzige, aber scharf umrissene Zeichen von Sinnlichkeit
oder Zärtlichkeit, die sich auf ein Fast-Nichts in seinem Leben mit seinen
Nebenumständen bezogen, es war wie ein weitläufiges Fresko, das sein Leben
abschilderte, ohne es zu erzählen, bloß in seiner tiefglühenden Farbe, in
seiner sehr unbestimmten und gleichzeitig sehr eigenen Art – und vor allem mit
einer ergreifenden Gewalt. Da gab es Beschwörungen von Küssen auf den Mund –
auf einen frischen Mund, für den er jetzt ohne Zaudern sein Leben gegeben hätte
und der sich seitdem von ihm abgewandt hatte –, solche Erinnerungen ließen ihn
lange weinen. Wohl war er sehr schwach und abgenutzt, aber wenn er in einem
Zuge ein wenig von diesen immer noch lebendigen Erinnerungen trank, da war es
wie ein Glas Wein, stark und in derselben Sonne gereift, wie sie sein Leben
verzehrt hatte, dann empfand er einen guten lauen Hauch, wie ihn der Frühling
dem Genesenden gibt oder der geheizte Winterherd dem Schwachgewordenen. Er
fühlte, daß sein alter, abgebrauchter Körper einst in den
gleichen Lebensflammen geglüht hatte, und das gab ihm eine Nachernte des
Lebens, dieselben verzehrenden Flammen. Dann dachte er daran, daß, was sich nun
lang über ihn hinlagerte, einzig Schatten waren, ohne Maß, stets in Bewegung,
nicht zu fassen, ach, und bald eins mit der ewigen Nacht – da mußte er weinen.
Wohl wußte
er nun, daß das alles nur Schatten von Flammen waren, die fortgewandert waren,
um anderswo zu brennen, und die er nicht wiedersehen würde, und doch blieb er
dabei, diese Schatten anzubeten und sich ihnen hinzugeben – denn im Vergleich
mit dem absoluten Nichts der nahen Zukunft bedeuteten sie Dauer für ihn. Und es
gesellten sich alle diese Küsse und alle diese geküßten Haare und alle diese
Lippen und Tränen und diese Zärtlichkeiten, ausgeschenkt wie Wein, um zu
berauschen, das alles paarte sich mit diesen Verzweiflungen wie Musik oder wie
der Abend sich paart mit dem Glück, sich ausströmen zu fühlen bis an die
letzten Grenzen des Geheimnisses und der Geschicke. Diese angebetete Frau, die
ihn so festgehalten hatte, daß es für ihn damals nur eines gab, ihr mit seiner
ganzen Anbetung zu dienen, nun war sie ganz im Nebel verschwunden, ohne daß er
sie halten konnte, konnte er ja nicht einmal den ausgestreuten Duft der
wehenden Säume ihres Mantels halten – er verkrampfte sich, um ihn nochmals zu
leben, ihn wieder anzufachen und ihn vor sich wie einen Schmetterling an eine
Nadel zu heften. Und mit jedem Male wurde es schwerer. Nie konnte er den
Schmetterling festhalten – was er konnte, war, daß er ihm jedesmal mit den
Fingern etwas von dem Flügelschmelz fortnahm, oder vielmehr: er sah die
Schmetterlinge im Spiegel, vergeblich stieß er sich wund an dem Spiegel, um sie
zu berühren, aber er machte ihn nur trüb und sah sie nur noch undeutlich und
weniger bezaubernd. Und nichts konnte den getrübten Spiegel seines Herzens
erneuern, jetzt, da der reinigende Atemhauch der Jugend oder des Genies nicht
mehr darüber hinwegstrich – welches unbekannte Gesetz unserer Jahreszeiten,
welche geheimnisvolle Tag- und Nachtgleiche unseres Herbstes sprach sich darin
aus?
Jedesmal machte es ihm weniger Kummer, diese Küsse
verloren zu haben und diese endlosen Stunden und diese Düfte, die ihm einst
Entzücken gewesen. Daß er weniger litt, machte ihn leiden, und dann verschwand
selbst dieses Leiden. Und dann waren alle Leiden fort, die Freuden mußte er,
nicht vertreiben, denn sie waren lange schon, ohne ihr Haupt zu wenden, auf
geflügelten Sohlen entflohen, blühende Zweige in der Hand; sie waren von dieser
Behausung gegangen, die nicht mehr jung genug war für sie. Und dann starb er
wie alle Menschen.
VII
Reliquien
Ich habe
alles erworben, was man aus dem Besitz der Frau verkauft hat, deren Freund ich
hatte sein wollen und die mich keines Wortes gewürdigt hat. Ich habe das kleine
Kartenspiel, daß sie alle Abende unterhalten hat, ihre beiden Bronzeäffchen,
drei Romane, die auf dem Deckel ihr Wappen tragen, ihre Hündin. O ihr
Köstlichkeiten, teure Freuden ihres Lebens! Euch hat, ohne daß ihr es wie ich
genossen hättet, ja ohne daß ihr es ersehnt habt, ihre freie Zeit gehört, die
unverletzlichste, die ganz geheimgehaltene. Ihr habt euer Glück nicht gefühlt
und könnt es nicht erzählen.
Ihre Finger
haben die Karten an jedem Abend im Kreise ihrer nächsten Freunde berührt, die
Karten haben sie gesehen, wenn sie sich langweilte oder wenn sie lachte, sie
waren dabei am Beginn ihrer Liaison, sie hat sie hingelegt, um den Mann zu
umarmen, der dann nachher jeden Abend wiederkam, um mit ihr Karten zu spielen.
Das sind die
Romane, die sie in ihrem Bett geöffnet und geschlossen hat nach ihrer Laune,
nach dem Grade ihrer Müdigkeit, sie hat sie ausgewählt nach den Grillen des
Augenblicks, da ihre vertrauten Träume sich mit den Phantomen der Bücher
paarten, damit sie sich besser ihrer eigenen Traumwelt hingeben konnte – habt ihr nichts von ihr zurückbehalten, könnt ihr mir
nichts erzählen?
Ihr Romane,
sie hat doch mit ihrer Menschlichkeit das Leben eurer Helden und eures Dichters
mitgelebt. Ihr Karten, hat sie nicht nach ihrer Art mit euch die Ruhe und
bisweilen auch die Fieberstunden des lebendigen Beisammenseins nachempfunden,
habt ihr nichts behalten von ihrer Gedankenwelt, die ihr zerstreut habt oder
erfüllt, nichts von ihrem Herzen, das ihr geöffnet habt oder getröstet?
Karten und
Romane, so oft wart ihr in ihrer Hand, so lange bliebt ihr auf ihrem Tisch,
Dame, König und Bube, ihr unbeweglichen Genossen ihrer tollsten Feste,
Romanhelden und Heldinnen, die ihr geträumt habt neben ihrem Bett, unter den
gekreuzten Lichtern ihrer Lampe und ihrer Augen, euren langen schweigsamen und
doch gesangvollen Traum geträumt – es kann nicht sein, daß ihr den ganzen Duft
verflüchtigt habt, womit die Luft ihres Zimmers, das Gewebe ihrer Kleider, die
Berührung ihrer Hände oder Knie euch durchtränkt hat.
Ihr habt die
Falten und Knicke behalten, womit ihre freudige oder nervöse Hand euch
umgeblättert hat, vielleicht haltet ihr auch die Tränen, die ein Romankummer
oder ein Lebenskummer ihr abgepreßt hat, noch gefangen. Das Tageslicht, das
ihre Augen glänzen ließ oder ihnen wehetat, hat euch diese warme Farbe gegeben.
Zitternd berühre ich euch, voller Angst vor euren Ausstrahlungen, unruhig über
euer Schweigen. Ach, vielleicht war sie wie ihr, ihr zauberhaft zerbrechlichen
Dinge, vielleicht war sie ohne Empfinden, ja ohne bewußtes Wissen ihrer eigenen
Anmut. Ihre tiefste Schönheit war vielleicht in meiner Sehnsucht. Sie hat ihr
Leben gelebt, aber vielleicht bin ich es, der sie nur erträumt hat.
VIII
Mondscheinsonate
1
Es war nicht
so sehr der anstrengende Weg als vielmehr die Erinnerung an meinen Vater und
seine Forderungen, es war die Gleichgültigkeit Pias, der blinde Haß meiner
Feinde, was mich so sehr erschöpft hatte. Am Tage konnte mich die Gesellschaft
Assuntas zerstreuen, ihr Gesang, ihr mildes Wesen mir gegenüber, den sie so
wenig kannte, ihre Schönheit, weiß, braun und rosenfarben, ihr Parfüm, das alle
Böen des Windes siegreich überdauerte, die Feder an ihrem Hute und die Perlen
an ihrem Halse. Als ich mich aber gegen neun Uhr abends gänzlich niedergedrückt
fühlte, bat ich sie, mit dem Wagen zurückzukehren und mich dazulassen, damit
ich mich in der freien Luft etwas erholen könne. Wir waren fast nach Honfleur
gekommen; der Platz war gut gewählt, geschützt von einer Mauer, vor mir hatte
ich eine Allee gewaltiger Bäume, die den Wind abhielt, die Luft war mild; Pia
sagte ja und verließ mich. Ich legte mich auf den Rasen, das Gesicht gegen den
düsteren Himmel gewendet. Es wiegte mich das Raunen des Meeres, das ich hinter
mir vernahm, ohne es in der Finsternis richtig wahrnehmen zu können.
Bald träumte
ich, daß vor mir der Sonnenuntergang weithin das Meer und den Strand erleuchte.
Die Dämmerung fiel ein, und es schien mir, als sei es eine Dämmerung wie alle
andern und ein Sonnenuntergang wie alle andern. Aber jemand kam und brachte mir
einen Brief, ich wollte ihn lesen und konnte nichts unterscheiden. Jetzt erst
kam ich zu der Wahrnehmung, daß trotz dieses Eindrucks von besonders
strahlendem und weithin ausgestreutem Licht es doch sehr dunkel blieb. Dieser
Sonnenuntergang war außerordentlich bleich, strahlend wohl, aber nicht hell,
und auf diesem magisch erleuchteten Sande sammelten sich so viel Massen von
Dunkelheit an, daß eine mühevolle Anstrengung nötig wurde, wollte ich eine
Muschel entdecken. In dieser eigenen Traumdämmerung gab es
einen Sonnenuntergang von kranker und entfärbter Art, wie an einem arktischen
Gestade. Meine Sorgen waren alle verschwunden, die Entschließungen meines
Vaters, Pias Gefühle, die bösen Gesinnungen meiner Feinde beherrschten mich
wohl noch, aber sie erdrückten mich nicht mehr; wie eine Naturnotwendigkeit
waren sie mir gleichgültig geworden. Der Gegensatz zu diesem düsteren
Schimmerglanz, das Wunder dieser zauberhaften Ruhe mitten in meinem Unglück
machten mich nicht mißtrauisch, nicht furchtsam, sondern ich war eingehüllt,
gebadet, ertränkt in einer sich steigernden Empfindung von Süße, die in ihrer
Köstlichkeit so stark wurde, daß sie mich erweckte.
Ich öffnete
die Augen. Sehr bleich und sehr strahlend, so breitete sich mein Traum rings um
mich aus. Die Mauer, gegen die ich schlafend mich gelehnt hatte, stand im
vollstem Licht, der Schatten des Efeus zeichnete sich der Länge nach ebenso
kräftig ab wie um vier Uhr nachmittags. Das Blätterwerk einer holländischen
Pappel ward von einem kaum wahrnehmbaren Hauche zurückgebogen und glitzerte
hell. Man sah Wellen und weiße Segel auf dem Meere, der Himmel war klar, der
Mond aufgestiegen. Leichte Wolken schleierten auf kurze Augenblicke über ihn,
aber dann färbten sie sich mit blauen Tönen, deren Blässe tief war wie der
Scheinkörper der Quallen oder das Herz eines Opals. Überall flimmerte klares
Licht, doch konnte ich es nirgends fassen. Selbst auf dem Rasen, der bis zur
Spiegelung stark glänzte, blieb ein Rest Dunkelheit. Die Bäume, ein Graben
waren absolut schwarz.
Plötzlich
erhob sich wie eine Unruhe ein zartes, langgezogenes Geräusch, rasch schwoll es
an, es schien sich über das Gehölz dahinzuwälzen. Es war das Zittern der
Blätter, die der Windstoß streifte. Und ein Stoß nach dem andern zerschellte
wie eine Woge an dem weiten Schweigen der endlosen Nacht. Dann schwoll der Lärm
ab und verstummte ganz. In dem geraden, ebenen Wiesengelände vor mir zwischen
den beiden breiten Eichenalleen schien ein Strom von Helligkeit dahinzurollen,
an beiden Seiten von Schattenmauern zusammengehalten. Der Mondesglanz
rief das Wächterhaus ins Licht, das Blätterwerk, ein Segel; all das wurde aus
der auslöschenden Umarmung der Nacht gezogen, aber zum Leben wiedererweckt ward
es nicht. In dem schlummernden Schweigen erhellte der Mondschein nur das leere
Gehäuse ihrer Form, ohne daß man die Umrisse wahrnehmen konnte, die ihnen
während des Tages ihr untrügliches Wirklich-Sein gegeben hatten, wirklich bis
zur Bedrückung, bis zur letzten Gewißheit ihrer Gegenwart und der steten Dauer
ihrer banalen Nachbarschaft. Ein Haus ohne Tor, ein Blätterwerk ohne Stamm,
fast ohne Blätter, ein Segel ohne die Barke, all dies erschien nun nicht mehr
wie eine grausame, unabwendbare, unleugbare, monotone, gewohnheitsmäßige
Wirklichkeit, sondern als fremdartiger Traum, ohne inneren Zusammenhang und
strahlend mit seinen schlummernden Bäumen, die ihr Haupt in die Dunkelheit
versenkten. In der Tat, nie hatte der Wald so tief geschlafen, man fühlte: der Mond
hatte diesen Augenblick benutzt, um den Wald ohne Laut in den Himmel zu führen
– und über das Meer dieses große, sanfte, bleiche Fest. Meine Geliebte war
verschwunden. Ich hörte meinen Vater, wie er mich schalt, meine Feinde, wie sie
Verschwörungen schmiedeten, und nichts von alledem erschien mir wirklich. Die
einzige Wirklichkeit lag in diesem unwirklichen Lichte, und diese rief ich
lächelnd an. Ich verstand nicht, welche geheimnisvolle Ähnlichkeit hier meinen
Kummer, meine Sorgen mit den feierlichen Geheimnissen dort vereinigte, die in
den Wäldern gefeiert wurden, im Himmel und über dem Meere; aber ihre Deutung
fühlte ich, ihre Verzeihung war vollzogen, es war ohne Bedeutung, ob mein
Verstand das Geheimnis wußte oder nicht, wenn nur mein Herz es gut erriet. Mit
ihrem Namen rief ich die heilige Mutter der Nacht, meine Schwermut hatte im
Monde ihre unsterbliche Schwester wiedererkannt, der Mond strahlte über den
verwandelten Schmerzensfiguren der Nacht und in meinem Herzen, wo sich das
Gewölk zerstreut hatte und wo aufgegangen war in ihrem Strahlenglanze die
Melancholie.
2
Nun hörte
ich Schritte. Assunta kam zu mir, ihr lichtes Haupt erhob sich über einem
weiten, dunklen Mantel. Sie sprach sehr leise zu mir: »Ich hatte Angst, daß Sie
frieren. Mein Bruder ist zu Bett gegangen, ich bin zurückgekommen.« Ich näherte
mich ihr. Ich zitterte, sie nahm mich unter ihren Mantel, und um den Saum des
Mantels besser halten zu können, legte sie ihre Hand um meinen Hals. Wir
machten einige Schritte unter den Bäumen, dann in tiefer Dunkelheit. Irgend
etwas funkelte vor uns, ich hatte nicht Zeit auszuweichen und machte einen
Sprung zur Seite, aus Angst, daß wir gegen einen Stamm stoßen könnten, aber das
Hindernis verlor sich vor unseren Füßen, wir waren in den Mond getreten. Ich
näherte meinen Kopf dem ihren. Sie lächelte, ich begann zu weinen, da sah ich,
daß auch sie weinte. So verstanden wir nun, daß der Mond weinte und daß seine
Traurigkeit im Verein war mit der unseren. Die ergreifenden und sanften Rufe
seines Lichtes gingen uns zu Herzen. Wie wir weinte auch er, und wie wir's fast
immer tun, weinte er, ohne zu wissen warum, aber er fühlte es so tief, daß er
in seine stille, seine unwiderstehliche Verzweiflung die Wälder mit hereinzog,
die Felder, den Himmel, der von neuem sich im Meere spiegelte, und mein Herz,
das endlich klar sah in seinem Herzen.
IX
Tränen fließen aus vergangenen Liebesschmerzen
Die Rückkehr
der Roman-Dichter oder ihrer Helden zu ihren abgestorbenen, geschiedenen
Liebesgefühlen, so rührend sie für den Leser sein mag, ist unglücklicherweise
mehr Kunst als Natur. Hier ist ein Gegensatz zwischen der Unermeßlichkeit
unserer vergangenen Liebe und dem absoluten Nullpunkt unseres augenblicklichen
Empfindens, wovon uns tausend greifbare Einzelheiten bewußt überzeugen – ein
Name, der in der Unterhaltung genannt wird, ein Brief,
wiedergefunden in der Schreibtischlade, die Begegnung mit der Person oder,
besser noch, ihr Besitz nach dem großen Tag, um es so zu sagen –, dieser
Konflikt, sage ich, so herzergreifend, so von stillen Tränen verhalten er sich
uns in einem Werke der Kunst zeigen kann, wir stellen ihn ungerührt im Leben
fest; der mathematisch genaue Grund dafür ist, daß wir nun in einer Atmosphäre
von Gleichgültigkeit und Vergessen leben, daß die einst so Tiefgeliebte und das
Gefühl selbst jetzt nur unser ästhetisches Wohlgefallen erregen, und vor allem,
weil mit der Liebe auch die Unruhe verschwunden ist und die erhöhte Fähigkeit,
zu leiden. Die erdrückende Melancholie dieses Gegensatzes ist nichts als eine
Wahrheit der Moral. Sie würde psychologisch zur Wirklichkeit, wenn ein
Schriftsteller sie an den Beginn einer Leidenschaft setzen wollte statt an
deren Schluß.
Oft kommt es
vor, daß wir im Beginn einer Liebe uns von der Erfahrung und von unserem Scharfblick
warnen lassen (trotz des Widerspruchs des Herzens, das auf seinem Gefühl
besteht oder vielmehr auf der Illusion einer ewigen Dauer dieses Gefühls), und
weil wir wissen, daß eines Tages der lebendige Mittelpunkt unseres Daseins uns
ebenso gleichgültig sein wird, wie uns jetzt alle früheren sind, während SIE
... Wir werden einmal ihren Namen hören ohne wollüstigen Schmerz, ihre
Schriftzüge erblicken ohne Zittern, werden unsern Weg nicht ändern, um ihr zu
begegnen auf der Straße, wir werden sie treffen ohne Erregung und besitzen ohne
Überschwang. Weinen wird uns dies Vorauswissen machen, das allzusichere – trotz
des absurden, starken Vorgefühls, wir würden sie ewig lieben. Noch einmal will
uns die Liebe aufgehen, wie ein gottvoller Morgen, in grenzenlosem Geheimnis
und dennoch traurig, und diese Liebe wird vor unserm Schmerz etwas von ihrem
großen Horizont entfalten, von den fremden Weiten, von den tiefen Fernen, ein
wenig von seiner zauberhaften Hoffnungslosigkeit ...!
Süß ist es
für den Kummervollen, sich in die Wärme seines Bettes zu flüchten, hier mag er
sich, wenn er jede Anstrengung und allen Widerstand aufgegeben hat, ganz sich
selbst überlassen, wie ein Zweig dem Winde im Herbste. Aber es gibt ein besseres Bett, von göttlichen Düften umhaucht. Unsere süße,
unsere tiefe, unsere untrügliche Freundschaft ist es. Bin ich vor Kummer bis
ans Herz vereist, dann bette ich fröstelnd hier mein Herz. Selbst meine
Gedanken wickle ich in die Decke unserer warmen Zärtlichkeit, von der Außenwelt
will ich nichts mehr sehen, entwaffnet will ich mich nicht mehr wehren, aber
durch das Wunder unserer Zärtlichkeit bin ich neugestärkt, unbesiegbar fast,
ich weine in meinem Kummer vor Freude, eine Stätte des Friedens und einen guten
Schutz gefunden zu haben.
X
Flüchtige Wirksamkeit von Kummer
Laßt uns
dankbar sein gegen alle, die uns Glück geben, denn es sind Zaubergärtner, und
unter ihrer Hand blühen unsere Seelen auf. Dankbarer noch laßt uns sein gegen
bösartige oder auch nur gleichgültige Frauen, gegen grausame Freunde, die uns
Kummer bereitet haben. Sie haben unser Herz verwüstet, das noch jetzt mit
formlosen Trümmern bedeckt ist, sie haben die Stämme entwurzelt und die
feinsten Triebe zerstört wie ein wütender Wirbelwind, aber er hat doch einige
gute Samenkörner ausgestreut für eine künftig ungewisse Ernte.
Sie haben
all unser kleines Glück zertreten, worunter unser großer Jammer verborgen lag,
sie haben aus unserm Herzen einen nackten, melancholischen Gefängnishof
gemacht, aber sie haben uns endlich die Möglichkeit gegeben, es ruhig zu
betrachten und unser Urteil zu fällen. Einen ähnlichen Dienst erweisen uns die
ernsten Stücke. Deshalb muß man sie höher schätzen als die fröhlichen, denn
diese täuschen unsern Hunger bloß, statt ihn zu stillen: das Brot, dessen wir
bedürfen, ist bitter. Im Glück erscheinen uns die Schicksale von unsresgleichen
nicht in ihren echten Farben, sondern so, wie das Interesse sie maskiert oder
die Begierde sie verwandelt. Aber in der Vereinsamung, wie sie das Unglück mit
sich bringt im realen Leben – und in der schmerzvollen
Schönheit, wie auf der Bühne –, da sprechen die Geschicke der andern Menschen
und besonders unser eigenes Geschick zu unserer aufhorchenden Seele das nie
ganz ausgeschöpfte Wort: Wahrheit, Pflicht. Das ernste Werk eines echten
Künstlers spricht mit dem Tonfall zu uns, den nur der kennt, der durch Leiden
gegangen ist – und damit zwingt er jeden, der Leiden kennt, sich von allem
andern fortzuwenden und ihn allein anzuhören.
Ach, was das
echte Gefühl uns gebracht hat, dieser Mann der spielerischen Laune zaubert es
zurück, und mag die Trauer immerhin überlegen sein, sie ist nicht von längerer
Dauer als die Tugend. Heute morgen haben wir das Trauerspiel vergessen, das uns
noch gestern bis an die Wolken erhoben hat, bis zu einer Höhe, von der wir
unser Leben in seiner Totalität, in seiner Echtheit erkannten mit klarsehendem,
mit aufrichtigem Mitgefühl. Es mag ein Jahr dauern, und wir haben uns auch über
den Verrat einer Frau getröstet, über den Tod eines Freundes. Inmitten dieser
Traumtrümmer, inmitten dieses Haufens von geschändetem Glück hat der Wind sein
gutes Korn gesät unter einer Flut von Tränen, aber die werden viel zu schnell
trocknen, als daß das Korn keimen könnte.
XI
Lob der schlechten Musik
Werft auf
die schlechte Musik euren Fluch, aber nicht eure Verachtung! Je mehr man die
schlechte Musik spielt oder singt (und leidenschaftlicher als die gute), desto
mehr füllt sie sich allmählich an mit den Träumen, den Tränen der Menschen.
Deshalb soll sie euch verehrungswürdig sein. Ihr Platz ist sehr tief in der
Geschichte der Kunst, ungeheuer hoch aber in der Geschichte der Gefühle
innerhalb der menschlichen Gemeinschaft. Die Achtung (ich sage nicht, die
Liebe) für die üble Musik ist nicht allein sozusagen eine Form der geschmackvollen
Nächstenliebe oder ihr Skeptizismus, vielmehr ist es das
Wissen um die soziale Rolle der Musik. Wie viele Melodien, die in den Augen
eines Künstlers ganz wertlos sind, sind aufgenommen in den Kreis der vertrauten
Freunde von tausend jungen Verliebten oder romantisch Lebens-hungrigen. Da gibt
es »Goldringelein« und »Ach, bleib lange vom Schlummer gewiegt ...«, es sind
Notenhefte, die Abend für Abend zitternd von Händen umgewendet werden, die mit
Recht berühmt sind. Die schönsten Augen der Welt haben Tränen über ihnen
vergossen, einen traurig-wollüstigen Tribut, um den der reinste Meister der
Kunst sie beneiden könnte – es sind Vertraute von Geist und Gedankenflug, die
den Kummer veredeln, den Traum steigern; und als Dank für das ihnen anvertraute
brennende Geheimnis geben sie berauschende Illusionen von Schönheit zurück. Das
Volk, das Bürgertum, die Armee, der Adel haben immer dieselben Briefträger und
Trauerträger bei schwerem Unglück und hellstem Glück, und so haben sie auch
dieselben unsichtbaren Liebesboten, dieselben sehr geliebten Beichtväter. Es
sind die schlechten Musiker. Hier, dieser grauenhafte Refrain, den jedes gut
veranlagte und guterzogene Ohr beim ersten Hören von sich weist, er hat den
Schatz von tausend Seelen empfangen, er bewahrt das Geheimnis von unzähligen
Lebensläufen, denen er blühende Inspiration bedeutet hat und immer bereite
Tröstung – denn immer lag das Notenheft halbgeöffnet auf dem Klavierpulte –, es
bedeutete ihnen träumerische Anmut und das Ideal. Diese Arpeggien, diese Kadenz
haben in der Seele von vielen Verliebten oder Träumern mit paradiesischen
Harmonien widergeklungen oder gar mit der Stimme der vielgeliebten Frau. Ein
Heft schlechter Romanzen, abgenutzt von vielem Gebrauche, sollte uns rühren wie
eine Gruft oder wie eine Stadt. Was liegt daran, daß die Häuser keinen Stil
haben, daß die Gräber unter dummen Inschriften oder banalen Ornamenten
verschwinden? Auch von diesem Staubhaufen kann sich, kraft einer wohlwollenden,
achtungsvollen Einbildungskraft, die im Augenblick ihren ästhetischen
Widerwillen zurückstellt, eine Wolke von Seelen erheben, die zwischen den
Lippen noch den grünen Zweig des Traumes trägt, im
Vorgefühl der anderen Welten, im Nahgefühl zu Schmerz und Freude hier, in der
unseren.
XII
Begegnung am Ufer des Sees
Bevor ich
gestern zum Diner ins Bois ging, hatte ich einen Brief von ihr empfangen, der
eine außerordentlich förmliche Antwort auf meinen verzweifelten Brief vor acht
Tagen enthielt – sie sagte kalt, sie fürchte, mir vor ihrer Abreise nicht mehr
Adieu sagen zu können. Ich aber, nicht weniger frostig, antwortete ihr, daß
dies das beste sei und daß ich ihr einen schönen Sommer wünsche. Dann kleidete
ich mich an und fuhr quer durch das Bois in einem offenen Wagen. Ich war
unendlich traurig, aber ruhig. Entschlossen, zu vergessen, hatte ich meine
Entscheidung getroffen, und alles andere war Sache der Zeit.
Der Wagen
fuhr am See entlang. Da bemerkte ich in der Tiefe eines kleinen Weges, der den
See in fünfzig Meter Entfernung von der Allee umkreist, eine einzelne Dame, die
langsam ging. Ich erkannte sie vorerst nicht. Sie grüßte mich leichthin mit der
Hand, und jetzt erkannte ich sie trotz der Entfernung.
Sie war es.
Ich grüßte sie tief. Sie sah mich unaufhörlich an, als wünschte sie, ich solle
anhalten und sie mit mir nehmen. Ich tat nichts, aber ich fühlte sofort, wie
eine fast greifbare Erregung mich übermannte, um mich beinahe zu erdrücken.
»Hab' ich's nicht geahnt«, rief ich, »es muß unbekannte Gründe geben, denen
zuliebe sie immer die Kalte gespielt hat. Sie liebt mich, die teure Seele.« Ein
unendliches Glück, eine unbesiegliche Gewißheit erfaßten mich. Ich fühlte mich
einer Ohnmacht nahe und brach in Tränen aus. Der Wagen kam in die Gegend von
Armenonville, ich trocknete meine Augen, und vor ihnen erschien, um die letzten
Tränenspuren fortzuküssen, der süße Gruß ihrer Hand – auf meine Augen blieben
ihre Augen geheftet mit der sanften Frage, mit dem Wunsche, mit mir zu kommen.
Strahlend erschien ich zum Diner. Mein Glück ergoß
sich über alle in fröhlicher Liebens-würdigkeit, in herzlicher Dankbarkeit, dazu
kam noch die Empfindung, daß kein Mensch wisse, welche Hand, allen unbekannt,
mich gegrüßt und in mir das große Freudenfeuer angezündet hatte, deren
Strahlenglanz nun allen sichtbar war, und diese Empfindung gab meinem Glücke
auch noch den Zauber geheimer Zärtlichkeiten.
Man wartete
nur noch auf Frau von T., und sie kam in diesem Augenblick. Es war die banalste
Person, die ich je gekannt habe, sie war wohl gut gewachsen, trotzdem
außerordentlich widerlich. Aber jetzt war ich zu glücklich, ich mußte jedem
Menschen seine Häßlichkeit, seine Fehler verzeihen, und ich wandte mich zu ihr
mit einem etwas künstlichen Lächeln.
»Vor einer
Stunde waren Sie nicht so liebenswürdig gegen mich«, sagte sie.
»Vor einer
Stunde?« fragte ich erstaunt, »vor einer Stunde habe ich Sie doch gar nicht
gesehen!«
»Ist's
möglich? Haben Sie mich nicht wiedererkannt? Freilich, ich war weit genug. Ich
ging den See entlang, Sie kamen stolz im Wagen an mir vorbei, ich habe Sie mit
der Hand gegrüßt und hatte nicht wenig Lust, mit Ihnen zu fahren, um mich nicht
zu verspäten.«
»Ach, Sie
waren es?« rief ich einigemal aus, und verzweifelt fügte ich wiederholt hinzu:
»Ich bitte Sie um Verzeihung, ich bitte Sie sehr.«
»Was macht
er doch für ein unglückliches Gesicht! Mein Kompliment, Charlotte«, sagte die
Hausfrau. »Aber trösten Sie sich, denn Sie sind wenigstens jetzt bei ihr.«
Ich war
niedergeschmettert, mein ganzes Glück war dahin.
Nun gut. Das
Fürchterlichste ist, daß das alles nicht spurlos vorüberging. Das Liebe atmende
Bild der Frau, die mich nicht liebte, änderte, ungeachtet meiner Einsicht in
meinen Irrtum, auf lange Zeit hinaus meine Einstellung zu ihr. Ich versuchte
eine Wiederannäherung, ich vergaß weniger schnell. Oft suchte ich mich in
meinem Kummer mit der Phantasie zu trösten, ihre Hände seien es in jener Minute
gewesen – ich schloß die Augen, um sie wiederzusehen, die
kleinen Hände, die mich gegrüßt, die meine Augen getrocknet hatten und meine
Stirn so gut gekühlt –, ihre kleinen Hände in den Handschuhen, die sie mir am
Seeufer wie zarte Friedenszeichen entgegengestreckt hat, als Symbole der Liebe
und der Versöhnung, während ihre traurig fragenden Augen mich zu bitten
schienen, ich möchte sie mit mir nehmen.
So wie ein
blutiger Himmel den Vorübergehenden warnt, hier sei ein Brand, so gibt es
entflammte Blicke, die Leidenschaften verraten, statt bloß deren Widerschein zu
geben. Es sind Flammen im Spiegel. Aber dann gibt es auch neutrale, lustige
Menschen mit tiefen, düsteren Augen, hinter denen ein Kummer steht, ganz als
sei ein Filter ausgespannt zwischen Augen und Seele, und aller lebendige Gehalt
der Seele bliebe, sozusagen durchgesiebt aus dem Inneren, in den Augen.
Von jetzt an
wird aber ihre ausgetrocknete Seele bloß angeheizt werden von der Glut des
Egoismus (und diese sympathetische Hitze des Egoismus kann ebenso anziehend
wirken wie ein echter Leidenschaftsbrand abschreckend), und von da an wird die
Seele nichts mehr sein als das künstliche Gehäuse von Intrigen. Sind aber diese
Augen ohne Unterlaß von Liebe entflammt und von schmachtender Wollust betaut,
umglänzt, umwogt, unauslöschlich überflutet – dann werden sie das Universum
erschüttern durch ihre tragische Flammengewalt. Zwillingssphären von heute an,
ohne Fesseln der Seele, Liebessphären, brennende Satelliten einer auf ewig
erkalteten Welt – so werden sie bis zum Tode einen unendlich trügerischen
Schimmer ausstrahlen, falsche Propheten, meineidig auch darin, daß sie eine
Liebe versprechen, die das Herz nie halten wird.
XIII
Der Fremde
Dominik saß
beim erloschenen Feuer und erwartete seine Gäste. Er lud jeden Abend einen
großen Herrn zum Abendessen bei sich ein mit einigen
geistvollen Leuten, und da er aus gutem Hause war, reich und bezaubernd, ließ
man ihn selten allein. Noch waren die Leuchter nicht entzündet, und traurig
versickerte das Tageslicht im Raum. Plötzlich hörte er, fern und doch vertraut,
eine Stimme sprechen: »Dominik.« Es brauchte nichts als dieses Wort, gehaucht
von so nah und von so fern, und schon fühlte er Eisesfrost durch Furcht. Nie
hatte er diese Stimme gehört und erkannte sie doch sofort, sein Gewissen
erkannte sie wieder als die Stimme seines Opfers, eines edlen, getöteten
Opfers. Er suchte, er forschte nach einem vergangenen Unrecht, aber er
erinnerte sich nicht. Und doch machte ihm diese Betonung ein altes Verbrechen zum
Vorwurf, das er unbewußt begangen haben mußte, für das er aber die
Verantwortung trug, und so bestätigte sie in seinem Innern seine Trauer und
seine Angst. Er sah auf und erblickte, aufrecht, voller Würde und doch
vertraut, einen Fremden dastehen, der eine nicht zu bestimmende und dennoch
ergreifende Art an sich hatte. Dominik empfing mit einigen achtungsvollen
Worten seine traurige und ihrer selbst sichere Autorität.
»Dominik,
soll ich der einzige sein, den du nicht zu Abend einlädst? Du hast vieles bei mir
gutzumachen – aus alter Zeit. Und dann will ich dich lehren, auf die andern zu
verzichten, die dich in deinem Alter verlassen werden.«
»Ich lade
dich zum Abendessen ein«, antwortete Dominik mit einer gemachten
Ernsthaftigkeit, die er sonst an sich nicht kannte.
»Ich danke«,
sagte der Fremde.
Keine Krone
war eingegraben auf dem Wappenschilde seines Siegelrings, und der Geist hatte
auf seinen Worten nicht mit seinen spitzen Nadeln seine hoch leuchtende Spur
eingeritzt. Aber aus seinem brüderlichen Blick sprach Dankbarkeit.
»Willst du
mich aber bei dir behalten, mußt du den andern Adieu sagen.«
Dominik
hörte sie schon an die Tür pochen; die Leuchter waren noch nicht entzündet, es
herrschte tiefe Nacht.
»Ich kann
sie nicht fortschicken«, sagte Dominik, »ich kann nicht allein sein.«
»Ja, das wärest du – mit mir zusammen heißt allein
sein«, sagte traurig der Fremde. »Und doch solltest du mich bei dir behalten.
Du hast alte Schuld gegen mich und solltest sie gutmachen. Ich liebe dich mehr
als die anderen und werde dich lehren, wie man sie entbehren kann. Bist du
einmal alt, werden sie nicht kommen.«
»Ich kann
nicht«, sagte Dominik.
Und doch
fühlte er, daß er ein edles Glück opferte unter dem Druck einer zum Herrn
gewordenen banalen Gewohnheit, die nicht einmal reich genug war, seinen
Gehorsam dereinst mit billigen Vergnügungen belohnen zu können.
»Entscheide
dich schnell!« antwortete der Fremde, flehend und stolz zugleich.
Dominik ging
ans Tor, um den Gästen zu öffnen, und ohne den Mut zu finden, seinen Kopf zu wenden,
fragte er den Fremden: »Wer bist du denn?«
Und im
Verschwinden antwortete der Fremde: »Die Gewohnheit, der du mich heute opferst,
wird morgen noch stärker sein, denn du hast sie genährt mit dem Blute aus
meiner Wunde. Sie wird noch tyrannischer werden, denn du hast ihr wieder einmal
gehorcht, mit jedem Tage wird sie dich mehr von mir abwenden, sie wird dich
zwingen, mich noch mehr zu quälen. Bald wirst du mich getötet haben. Du wirst
mich nie wiedersehen. Und doch bist du mir tiefer verpflichtet als den anderen,
die dich, bald schon, verlassen werden. Ich bin in dir und doch auf ewig, auf
ewig weit geschieden, fast bin ich schon nicht mehr. Deine Seele bin ich, ich
bin du selbst.«
Die Gäste
waren eingetreten. Man begab sich in den Speisesaal, wo Dominik seine
Unterredung mit dem verschwundenen Gaste erzählen wollte, aber angesichts der
allgemeinen Langeweile, angesichts auch der großen Anstrengung, die es den
Hausherrn kostete, sich eines fast verblichenen Traumes gewärtig zu werden,
unterbrach Girolamo zur Zufriedenheit aller und Dominiks selbst die Rede und
zog folgenden Schluß:
»Man muß nie
allein bleiben; Einsamkeit ist die Mutter der Melancholie.«
Dann setzte man sich nieder zum Gelage. Dominik
plauderte frisch, aber ohne Freude; indessen fühlte er sich geschmeichelt durch
seine prachtvolle Tafelrunde.
XIV
Traum
»Deine
Tränen strömten über mich,
meine Lippen haben dein Weinen getrunken.«
Anatole
France
Ohne Mühe
kann ich mich meiner Meinung über Frau Dorothy B. entsinnen, wie sie am
Sonnabend (vor vier Tagen also) war. Zufällig hatte man gerade an diesem Tage
von ihr gesprochen, und meine aufrichtige Ansicht war die, daß ich sie ohne
höheren Reiz und Geist fände. Ich glaube, sie ist zweiundzwanzig oder
dreiundzwanzig Jahre alt. Übrigens kenne ich sie kaum, keine frische, kurz
zurückreichende Erinnerung konnte, wenn ich an sie dachte, meine Aufmerksamkeit
in besonderem Maße fesseln, ich sah einfach die Buchstaben ihres Namens vor mir
und weiter nichts.
Ich legte
mich nun an diesem Sonnabend zeitig zu Bett. Gegen zwei Uhr morgens wurde aber
der Wind so stark, daß ich aufstehen mußte, um einen schlecht befestigten
Fensterladen zu schließen, der mich aufgeweckt hatte. Ich warf nun einen
Rückblick auf den kurzen Schlummer, der hinter mir lag, und ich freute mich
darüber, daß der Schlummer voll Erholung, ohne Druck, ohne Träume gewesen war.
Kaum war ich wieder im Bett, als ich wieder einschlief. Aber im Verlaufe einer
schwer abschätzbaren Frist erwachte ich nach und nach, oder besser, ich
erwachte allmählich in dem Weltraum der Träume, anfangs ebenso verwirrt, wie
man's beim Erwachen in der Erdenwelt ist, aber nach und nach wurde alles
klarer. Ich lag am Strande von Trouville, und zu gleicher Zeit war es eine
Hängematte in einem unbekannten Garten. Mit sanfter Festigkeit richtete eine
Frau ihren Blick auf mich. Es war Frau Dorothy B. Ich war ebensowenig davon überrascht, als ich es am Morgen bin beim Anblick meines
Zimmers. Aber ich war auch nicht überrascht von dem überirdischen Zauber, den
meine Gefährtin auf mich ausstrahlte, und ebensowenig von den Entzückungen
zugleich körperlicher und seelischer Anbetung, die ich ihrer Gegenwart dankte.
Wir betrachteten uns wie ein Herz und eine Seele, ein wunderbares Glück, ein
wunderbarer Ruhm schlössen ihren Ring um uns, sie teilte alles mit mir, ich
dankte ihr von tiefstem Herzen. Dann aber sagte sie mir: »Es ist doch Wahnsinn
von dir, mir zu danken; hättest nicht auch du dasselbe für mich getan?«
Und dieses
Gefühl (übrigens unerschütterliche Gewißheit), auch ich hätte das gleiche für
sie getan, steigerte als das offenkundige Symbol einer unsagbar engen
Verbindung meine Freude bis zum Wahnsinn. Sie machte mit dem Finger ein
geheimnisvolles Zeichen und lächelte. Und als sei ich zu gleicher Zeit in mir
und in ihr, so war mir bewußt, daß es heißen sollte: »Alle deine Feinde, dein
Unglück, dein Versagen und Verzichten, deine Schwächen alle – ist alles
vorbei?« Ohne ein Wort verstand sie meine Entgegnung, sie sei es gewesen, die
mühelos alles siegreich überwunden hätte, alles Leid hätte sie vernichtet und
mit magisch wollüstigem Zauber meine böse Zeit gelöst. Sie näherte sich mir,
liebkoste mit ihren Händen meinen Hals, streifte sanft die Haare meines Bartes
fort, dann sagte sie: »Nun wollen wir zu den anderen, wir wollen ins Leben
zurück.« Eine übermenschliche Freude erfüllte mich, ich fühlte die Kraft in
mir, dieses Irrlichterglück in die Wirklichkeit zu übertragen. Sie wollte mir
eine Blume schenken, zwischen ihren Brüsten zog sie eine Rose hervor, noch
geschlossen, gelb, betaut, und sie heftete sie an mein Knopfloch. In diesem
Augenblick ward mein Glück durch eine neue Wollust vermehrt. Es war die Rose,
die, an meinem Knopfloch befestigt, ihren Liebesduft ausatmete bis zu mir. Ich
sah, wie meine Freude Dorothy mit einer mir unbegreiflichen Erregung und Unruhe
erfüllte. Genau in dem Augenblick, da ihre Augen (durch mein mysteriöses
Doppelbewußtsein war ich dessen gewiß) die leichte Anspannung erfuhren, die um
eine Sekunde den ersten Tränen vorausgeht, da waren es meine Augen, die sich mit Tränen, ihren Tränen füllten, wenn ich so sagen darf.
Sie näherte sich mir, warf ihren Kopf zurück, legte ihr Haupt an meine Wange,
so daß ich die geheimnisvolle Grazie, die reizvollste Lebhaftigkeit an ihr
bewundern konnte, und nun züngelte es aus ihrem frischen, lächelnden Munde, und
ihre Zunge pflückte meine Tränen alle am Rande meiner Augen auf. Dann schluckte
sie sie mit einem kurzen Laut ihrer Lippen: das empfand ich als eine unbekannte
Art von Küssen, tiefer und heimlicher aufreizend, als wenn sie mich berührt
hätte.
Ich erwachte
mit einem Schlage, erkenne mein Zimmer wieder, und ebenso wie der Donner
unmittelbar dem Blitze folgt in einem über uns stehenden Gewitter, vereinte
sich ein schwindelndes Gefühl von Seligkeit mit dem gleichzeitigen (nicht etwa
vorangegangenen) niederschmetternden Bewußtsein, alles Sein sei Schein und
alles unmöglich.
Aber trotz
aller Vernunftsgründe war nun Dorothy B. nicht mehr die Frau, die sie am
letzten Abend noch für mich gewesen war. Die flüchtigen Beziehungen zwischen
mir und ihr hatten eine schon verblassende Spur in meiner Erinnerung
hinterlassen, wie eine gewaltige Flut hinter sich beim Zurückweichen
unbestimmte Furchen zieht. Ich sehnte mich, obgleich im voraus entzaubert,
danach, sie wiederzusehen, ich hatte den instinktiven Wunsch und zugleich den
klugen Widerstand dagegen, ihr zu schreiben. Wurde ihr Name im Gespräch
genannt, erzitterte ich, obwohl er nur das verschwimmende Bild dieser letzten
Nachterscheinung mir neu ins Bewußtsein rief. Sie war mir gleichgültiger als
jede banale Frau und zog mich mächtiger an als die ersehnteste Geliebte, das
berauschendste Geschick und Abenteuer. Ich hätte keinen Schritt getan, um sie
zu sehen, und für das andere »SIE« hätte ich mein Leben gegeben. Jede Stunde
radiert etwas von dieser Traumerinnerung fort, die in dieser Erzählung schon
stark verändert ist. Immer unklarer sehe ich sie vor mir, als wollte ich ein
Buch am Tische lesen, wenn der Tag sinkt, wenn es dämmert und die Nacht kommt.
Um noch etwas entziffern zu können, bin ich gezwungen, meine Gedanken an sie
für ein paar Augenblicke zu unterbrechen, so wie man die Augen
schließt, um noch in dem Buch, das sich tiefer mit Schatten füllt, ein paar
Buchstaben wahrnehmen zu können.
So verblaßt
es aber ist, so hinterläßt es doch noch Unruhe genug in mir, eine Schaumspur
oder die Wonne ihres Duftes. Aber auch dies Unruhigsein wird schwinden, und ich
werde Frau B. ohne Herzklopfen sehen können. Ihr von diesen Erlebnissen zu
erzählen, an denen sie im Grunde nicht beteiligt ist, hätte keinen Sinn.
Ach, die
Liebe ist über mich hinweggegangen wie ein Traum, mit derselben geheimen,
unerklärten Verwandlungskraft. Ihr aber, die ihr meine sehr Geliebte kennt,
ihr, die ihr nicht hinter die Mauern meiner Träume dringen könnt, ihr könnt
mich nicht verstehen. Versuchet nicht, mich zu trösten.
XV
Bilder in der Art von Erinnerungen
Wir haben
bestimmte Erinnerungen nach Art der holländischen Malerei alten Andenkens, es
sind Genrebilder, deren Personen oft niederen Ständen angehören. Gefaßt sind
sie in einem ganz alltäglichen Augenblick ihres Daseins ohne besondere
Ereignisse, häufig sind sie überhaupt nicht in Ereignisse verstrickt, und auch
der Rahmen hat nichts Außerordentliches, nichts Großartiges an sich.
Das Naturell
der Charaktere und die Einfachheit der Szene machen ihren ganzen Reiz aus, der
weite Abstand gießt zwischen sie und uns ein ruhiges Licht, das ihnen einen
Schimmer von Schönheit leiht.
Mein Leben
beim Regimente ist voll von Szenen dieser Art; ich habe sie einfach gelebt,
ohne große Freude, ohne großen Kummer, und ich erinnere mich ihrer mit sehr
viel Milde. Der Charakter der Umgebung war sympathisch, dazu kam die
Ungebrochenheit einiger Kameraden, die vom Lande stammten, deren Körper
schöner, beweglicher, deren Geist ursprünglicher, deren
Herz wärmer und deren Sinnesart natürlicher geblieben waren als bei andern
jungen Leuten, mit denen ich vor dieser Zeit und nachher verkehrt habe. Dazu
die Ruhe eines Daseins, dessen Obliegenheiten besser geregelt sind, und wo die
Phantasie weniger Nahrung erhält als in einer anderen Lebenslage: hier ist die
Herzensfröhlichkeit ein um so treuerer Begleiter, als uns dauernd die Zeit
fehlt, sie dadurch zu vertreiben, daß man hinter ihr her hetzt – das alles
trägt dazu bei, aus dieser Epoche meines Lebens eine (man muß es freilich
zugeben) von Lücken unterbrochene Folge von kleinen Bildern zu machen, die voll
glückhafter Treue sind, voll eines Zaubers, um den die Zeit den Mantel ihrer
sanften Traurigkeit und ihrer Poesie gebreitet hat.
XVI
Meereswind in der Ebene
»Ich werde
dir jungen Mohn bringen
mit purpurnen Blumenblättern.«
Theokrit:
»Der Cyklop«
Im Garten,
in einem kleinen Gehölz, mitten in der Ebene setzt der Wind seinen tollsten,
unnützen Eifer darein, die Sonnenflecke auseinanderzutreiben, sie zu verfolgen,
indem er wütend die Zweige des Buschwerks schüttelt, unter denen sie sich
verborgen haben, bis zu dem funkelnden Dickicht, unter dem sie jetzt zittern
und flimmern in unaufhörlicher Bewegung. Die Bäume, die trocknende Wäsche, der
Schweif des Pfauen, der sein Rad schlägt, alles zeichnet sich in der
durchsichtig klaren Luft mit außerordentlich scharfen, blauen Schatten ab, die
mit jedem Windstoße zu huschen beginnen, ohne den Boden zu verlassen, gleich
einem Drachen, der ungeschickt in die Höhe geworfen wird. Dieses Hin und Her
von Licht und Wind gibt dem Winkel hier in der Champagne eine Ähnlichkeit mit
der Landschaft am Meeresstrande. Hier steigt ein Pfad, glühend im Licht und
überbraust vom Winde, steil in die Höhe gegen einen nackten Himmel:
stehen wir oben, ist es nicht das Meer, was wir weiß schimmernd in Schaumkronen
und Sonnenschein unter uns erblicken? Wie an jedem Morgen, kamen Sie auch an
diesem, die Hände voll von Blumen und zarten Federn, die dem Gefieder einer
großen Holztaube, einer Schwalbe, eines Nußhähers beim Fluge über die Allee
entfallen waren. Die Federn zittern noch an meinem Hut, der Mohn entblättert
sich an meinem Knopfloch – wir wollen schnell zurück.
Das Haus
kracht unter dem Sturme wie ein Schiff, unsichtbare Segel hört man sich blähen,
unsichtbare Fahnen draußen krachend flattern. Du aber laß auf deinen Knien den
Strauß frischer Rosen ruhen, laß mich mein Herz ausweinen zwischen deinen eng
aneinandergeschlossenen Händen ...
XVII
Die Perlen
Ich war
morgens heimgekehrt und hatte mich fröstelnd zu Bett gelegt, während mich eine
eisige Melancholie bis ins Innerste wahnsinnig erregte. In dieser Stunde
standen trennend zwischen mir und dir: deine Freunde von gestern abend – deine
Pläne für morgen. – ebenso viele Feinde, ebenso viele Verschwörungen gegen mich
– deine Gedanken jetzt, ebensoviel unfaßbare, unerreichbare Gebiete. Jetzt bin
ich fern von dir, unvollkommen war deine Gegenwart, eine flüchtige Maske der
ewigen Trennung (und doch, wie leicht würden deine Küsse die Maske heben!), und
nun scheint mir dies alles doch genug, um mir dein wahres Antlitz zu
offenbaren, um alle Wünsche meiner Liebe zu krönen. Man mußte scheiden. In
welch eisiger Einsamkeit verbleibe ich fern von dir! Und doch, durch Zauberkraft
erneuern sich in trautem Glänze die alten Träume unseres Glücks, sie schweben
auf wie eine breite Rauchwolke über einer starken, heißen, hellen Flamme in
unzerstörbarer Fröhlichkeit, ohne Unterbrechung erwachen sie zu neuem Leben in
meinen Gedanken.
Unter den Decken ist meine Hand warm geworden, und auf
ihr ist der Duft der Zigaretten mit Rosenmundstück wiedererwacht, die du mir zu
rauchen gegeben hast. Lang atme ich ihn ein, den Mund an meine Hand geschmiegt,
und dieser Duft, warm von der Erinnerung, strömt dichte Wolken aus von
Zärtlichkeit, von Glück und »Du«. Ach, meine kleine Vielgeliebte, wann kommt
der Tag, da ich dich nicht mehr brauche, wo mir die Erinnerung alles Glück
bieten kann – jetzt erfüllt diese Erinnerung mein Zimmer ganz –, wenn ich nicht
mehr kämpfen muß gegen das unübersteigbare Hindernis deines Körpers. Ich sage
es dir in aller Torheit, ich sage es dir, weil ich nicht anders kann: ich kann
nicht sein ohne dich. Nur dein Leben gibt dem meinen seine unbeschreibliche
Farbe, melancholisch und warm, wie sie es deinen Perlen gibt, die du des Nachts
an deiner bloßen Haut trägst. Wie sie lebe ich nur in dir, traurig paßt sich
mein Wesen deiner Wärme an, und wie sie muß ich sterben, wenn du mich nicht
mehr bei dir behalten willst.
XVIII
Gestade des Vergessens
»Man sagt,
der Tod verschöne seine Opfer, er hebe ihre Tugenden ins Licht, aber oft ist es
nur das Leben, das sie in den Schatten gestellt hat. Der Tod ist der redliche,
der untadelige Zeuge, wenn er gemäß den Gesetzen der Wahrheit und gemäß denen
der Nächstenliebe uns beweist, daß meistens das Gute im Menschen sein Böses
überwiegt.« Was hier Michelet vom physischen Tode sagt, ist vielleicht wahrer
noch in Hinsicht des Todes, der eine große unglückliche Liebe leidenschaftlich
beendet. Das Wesen, das uns so viel Schmerz gekostet hat, ist uns nichts mehr,
man kann mit dem volksmäßigen Ausdruck sagen, »es ist tot für uns«. Die
wirklich Toten beweinen wir, wir lieben sie weiter, wir unterliegen lange noch
dem unwiderstehlichen Zauber, der sie überdauert und der uns oft noch zu ihrem
Grabe zurückführt. Das Wesen aber, das uns so viel
durchkosten ließ und von dessen innerstem Gehalt wir durchtränkt sind, es hat
jetzt nicht mehr die Kraft, auch nur den Schatten eines Kummers oder einer Freude
auf uns fallen zu lassen. Es ist mehr als tot für uns. Einmal war es uns das
Kostbarste auf Erden, dann haben wir es verflucht und verachtet, jetzt ist ein
gerechtes Urteil nicht möglich, kaum daß noch die Züge seiner Gestalt sich mit
einiger Klarheit vor den Augen unserer Erinnerung abzeichnen, denn diese Augen
haben durch die allzulange Betrachtung fast alle Kraft verloren. Dieses Urteil
über das geliebte Wesen hat sich so oft gewandelt, so oft hat es durch seine
mitleidlose Klarheit unser blindes Herz gequält, so oft haben wir uns selbst
die Augen verbunden, um diese grausame Disharmonie zu beenden – nun soll es die
letzte Schwingung durchmachen. Wie eine Landschaft, aus der Vogelperspektive
gesehen, so erscheint SIE von der Höhe des Verzeihens in ihrer echten Wertung,
sie, die »mehr als tot« ist, nachdem sie einst unser wahres Selbst gewesen.
Jetzt wissen wir nur, sie hat uns unsere Liebe nicht erwidert, wir verstehen,
sie hatte eine wahre Freundschaft für uns. Nicht mehr die Erinnerung ist's, die
sie verschönt, sondern die Liebe war schuld und hat ihr Unrecht getan. Wenn
einer alles will, wenn ihn aber auch dieses alles unbefriedigt ließe, so
erscheint einem solchen Menschen eine kleine Gabe nur als irrsinnige
Grausamkeit. Aber jetzt verstehen wir diese Gabe zu schätzen, als großmütiges
Geschenk von der Hand der Frau, die sich durch unsre Verzweiflung, unsre
Ironie, unsre ewige Tyrannei nicht hat entmutigen lassen. Sie blieb sanft, wie
sie es war. Verschiedene Bemerkungen, deren wir uns heute in diesem Zusammenhang
entsinnen, erscheinen jetzt duldsam und richtig zugleich; und voll echten
Zaubers – es waren Bemerkungen von ihr, der wir kein Verständnis zutrauen
wollten, da sie uns doch nicht liebte. Aber im Gegensatz dazu haben wir von ihr
mit so viel ungerechtem Egoismus, mit so viel Härte gesprochen. Sind wir ihr
nicht tiefer verpflichtet? Wenn diese hohe Flut der Liebeswogen sich auf immer
zurückgezogen hat, dann können wir immer noch, wenn wir in unserer Seele
wandeln und wandern, seltsame, bezaubernde Muscheln finden,
und halten wir diese ans Ohr, dann dürfen wir mit melancholischer Freude und
jetzt ohne zu leiden das unfaßbare Raunen von einst vernehmen. So denken wir
dann mit Zärtlichkeit an sie, die zu unserem Unglück mehr geliebt ward, als sie
lieben konnte. Nun ist sie nicht »mehr als tot« für uns. Sie ist eine
Abgeschiedene, deren man leidenschaftlich gedenkt. Die Gerechtigkeit gebietet,
wir sollen unser Urteil über sie berichtigen. Durch die allkräftige Macht der
Gerechtigkeit wird sie geistig in unserem Herzen wiedergeboren, um vor diesem
letzten Gericht zu erscheinen, das wir über sie halten, fern von ihr, die Augen
von Tränen verdunkelt.
XIX
Wahre Gegenwart
Wir haben
einander geliebt in einem verlorenen Örtchen des Engadins, das einen zweifach
süßen Namen trägt, die traumhaft tiefen deutschen Laute verlieren sich in der
Sinnenfreude italienischer Silben. Ringsum gibt es drei seltsam grüne Seen, die
zwischen tiefen Tannenwäldern liegen. Eisberge und Spitzen schließen den
Horizont ab. Am Abend vervielfältigt die Verschiedenheit der Gegenden den Reiz
der Beleuchtung. Werden wir je die Spaziergänge am Ufer des Sees von Sils-Maria
vergessen, im sinkenden Spätnachmittag gegen sechs Uhr? Hier sind die Lärchen,
getaucht in kristallenes Schwarz, hart gegen den blendenden Schnee abgehoben;
gegen das bleiche, blaue Wasser fast malvenfarben, wird es ein süßes,
leuchtendes Grün, worin die ausgebreiteten Zweige glänzen. Eines Abends war die
Stunde uns besonders günstig. In den wenigen Augenblicken des Sonnenuntergangs
durchlief das Wasser alle Farbtöne, unsere Seelen die ganze Stufenleiter der
Wonne. Plötzlich wandten wir uns um, da sahen wir einen kleinen Schmetterling
daherkommen, dann zwei, dann fünf, wie sie die Blumen an unserem Gestade
verließen, um über dem See sich zu wiegen. Bald schienen sie
eine unfaßbare Wolke fortgewehter Rosen, bald landeten sie an den Blumen am
anderen Ufer, sie kamen zurück, um von neuem sanft ihre abenteuerliche
Überfahrt zu wagen, und bisweilen zögerten sie, verlockt, über dem kostbar
getönten See, der in seinen Farben einer großen sterbenden Blüte glich.
Das war
zuviel, unsere Augen füllten sich mit Tränen. Diese kleinen Schmetterlinge, die
über den See segelten, kamen und gingen über unsere Seelen – über unsere Seele,
die angespannt war von Erregung durch so viel Schönes, bereit, zu vibrieren, zu
erbeben –, sie gingen dahin und kamen wie ein wollüstiger Geigenstrich. Die
zarte Bewegung ihres Fluges streifte das Wasser nie, aber unsere Augen
liebkosten sie, unsere Herzen; jedes Zittern ihrer rosenfarbigen Flügelchen
brachte uns einer Ohnmacht nahe. Als wir sie bei ihrer Rückkunft vom anderen
Ufer wahrnahmen, als wir ihr Spiel, ihr freies Wandeln über die Wasser
entdeckten, da klang eine zauberhafte Harmonie in uns wider. Indessen kamen sie
zurück mit tausend Arabesken ihrer Laune, dadurch veränderten sie die einfache
Harmonie und zeichneten eine Melodie von märchenhafter Phantasie. Unsere Seele
war klangreich geworden, sie lauschte jenem schweigenden Fluge, sie hörte aus
ihm eine wundervoll frei gezogene Musik heraus, in der all die sanften, starken
Harmonien des Sees sich durchdringend einten mit denen der Wälder, des Himmels
und mit unserer eigenen – und mit magischer Süße spielte unser Leben dazu die
Begleitung und ließ uns in Tränen ausbrechen.
Ich habe dir
nie davon erzählt, und du warst meinen leiblichen Augen fern in diesem Jahre.
Aber wie haben wir einander doch im Engadin geliebt! Nie konnte ich genug von
dir bekommen, nie ließ ich dich allein daheim. Du begleitetest mich bei meinen
Spaziergängen, aßest mit mir an der Tafel, schliefest in meinem Bett, träumtest
in meiner Seele mit. Ist es möglich, daß dich ein sicherer Instinkt als
geheimnisvoller Bote nicht von diesen kindlichen Einfällen unterrichtet hat, in
die du so eng verstrickt warst, daß du hier lebtest, daß du wahrhaft in ihnen
existiertest, denn so sehr besaßest du in mir »wirkliche Gegenwart«. So blieben
wir eines Tages (keiner von uns kannte Italien ) ganz
betroffen von der Bemerkung, die man über Alpgrun machte: »Von hier kann man
bis nach Italien sehen.« Wir brachen nach Alpgrun auf. Wir stellten uns vor,
die Ansicht der Landschaft, wie sie sich vor dem Gipfel ausbreitete, würde an
der Stelle, wo Italien begann, mit einem Male ihren wirklichen harten Charakter
verlieren, und es müßte in der Tiefe ein traumhaft blaues Tal sich öffnen. Erst
auf dem Wege bedachten wir, daß eine Grenze nicht den Boden des Landes ändern
kann, und wenn sie ihn auch änderte, so geschähe dies so unmerklich, daß wir es
nicht mit einem Blick merken könnten. Ein wenig waren wir enttäuscht, aber wir
lachten beide, daß wir so kindlich gewesen waren.
Ganz
betroffen blieben wir aber, als wir am Gipfel angelangt waren: unsere kindliche
Phantasie hatte sich vor unseren Augen in Wirklichkeit verwandelt. Eisberge
funkelten uns zur Seite. Zu unseren Füßen säumten Gießbäche das düstere Land
von Engadin mit dunklem Grün. Dann ein geheimnisvoller Hügelzug, und über
malvenfarbene Hänge hin öffnete sich und schloß sich ein blaues Wunderland,
eine blinkende Straße gen Italien. Die Namen waren die gleichen nicht mehr, von
hier an harmonierten sie mit dieser neuen Süße, man zeigte uns den See von
Poschiavo, den Pizzo di Verone, das Tal de Viola. Und dann kamen wir in eine
unerhört wilde, einsiedlerische Gegend, hier steigerte die verzweifelt düstere
Natur und die Gewißheit, man sei hier von allem abgeschieden, unsichtbar und
unbesiegbar, die Wonne gegenseitiger Liebe bis zur Raserei. Jetzt fühlte ich
erst mit Schmerz, daß du nicht leibhaftig neben mir warst. Es tat mir im Herzen
weh, daß du nur gekleidet in den Mantel des Verzichtes neben mir weiltest, aber
nicht in der echten Wirklichkeit meiner Sehnsucht. Ich stieg ein wenig hinab
bis zu der immer noch hohen Stelle, wohin der Aussicht wegen die Fremden kommen.
In einer einsamen Hütte gibt es ein Buch, in das sie ihre Namen schreiben. Ich
schrieb den meinen und dann eine Buchstabenphantasie, die deinem Namen ähnlich
sah, denn es war mir unmöglich, auf einen äußeren Beweis deines Nebenmirseins
in der wirklichen Tatsachenwelt zu verzichten. Indem ich ein
Atom von dir in dieses Buch setzte, war's mir, als ob ich mich um ebensoviel
von dem erdrückenden Gewicht befreite, mit dem du meine Seele belastetest. Und
dann hatte ich die ungeheure Hoffnung, dich eines Tages heraufzuführen, um
diese Zeile zu lesen, und dann würdest du mit mir höher steigen, um mich ganz
für diese Traurigkeit zu entschädigen. Ohne ein Wort hättest du alles
verstanden, oder besser, alles wäre dir wieder in die Erinnerung
zurückgekommen. Während du höher stiegst, gabst du dich mir tiefer hin. Du
würdest dich sogar ein wenig auf mich stützen, damit ich nur ja deutlich fühle,
du seiest dieses Mal hier, ganz bei mir, und zwischen deinen Lippen, die immer
etwas nach türkischen Zigaretten duften, sollte ich alles Vergessen der Welt
finden. Und auf dem Gipfel würden wir sinnlose Worte laut herausschreien in dem
glorreichen Bewußtsein, niemand, auch noch so fern, könnte uns hören. Bloß die
kurzen Gräser würden zittern, leise gestreift vom Höhenwinde. Der Aufstieg
würde deine Schritte langsamer machen, ein wenig schwer atmest du, und mein
Gesicht nähert sich deinem, um deinen keuchenden Hauch zu fühlen, wir sind
beide nicht bei Sinnen, wir wandern dorthin, wo es einen weißen See gibt neben
einem sanften schwarzen, wie eine weiße Perle neben einer schwarzen. Wie hätten
wir einander geliebt in dem verlorenen Nest im Engadin! Wir hätten niemanden zu
uns kommen lassen als die Bergführer, diese hochgewachsenen Männer, deren Augen
anderes widerspiegeln als die Augen der anderen Männer, als seien sie aus
anderem »Wasser«. Aber ich brauche mich gar nicht um dich zu kümmern. Die
Sättigung ist da vor dem Besitz. Ich will dich gar nicht in dieses Land führen.
Ohne daß du es verstehst, ja ohne daß du es kennst, rufst du es mit so
rührender Treue in die Wirklichkeit! Dein Anblick besitzt für mich den einzigen
Zauber, mich sofort zu erinnern an alle diese Namen von fremdartiger Süße,
deutsch und italienisch zugleich: Sils-Maria, Silva Plana, Crestalta, Celerina,
Juliers, Val de Viola.
XX
Sonnenuntergang von innen betrachtet
Wie die
Natur, hat auch die Welt des Geistes ihre Schauspiele. Ein Sonnenaufgang, eine
Mondscheinnacht, sie haben, wenn sie mich sonst auch bis zum Wahnsinn, bis zu
Tränen ergreifen können, niemals haben sie dieses leidenschaftlichste
Zärtlichkeitsgefühl, dieses weltweite, melancholische Entflammtsein in mir
erweckt, wie es bei abendlichen Spaziergängen unabsehbar die Wogen meiner Seele
durchtränkt, wie eine Sonne, die in ihrem stärksten Glänze unabsehbar in dem
Meere untergeht.
So wollen
wir denn so schnell wie möglich unsere Schritte in die Natur lenken. Keinen
Jäger hat je die beschleunigte Flucht eines ersehnten Wildes mehr bedrückt und
berauscht als uns die hochaufgerührten Gedanken, denen wir uns zitternd in
Vorfreude hingeben; je mehr wir sie besitzen, je leichter wir sie lenken, desto
tiefer, unwiderstehlicher fühlen wir uns an sie gekettet. Mit einer
leidenschaftlichen Erregung durchstreifen wir das dunkle Gefild, wir grüßen die
nachtbehangenen Eichen, denn sie sind der feierliche Schauplatz, sie sind die
heldenhaften Zeugen des Aufschwungs, der uns vorwärts treibt, der uns trunken
macht. Wer kann, wenn er die Augen zum Himmel erhebt, sich der äußersten
seelischen Entflammung entziehen, wenn er zwischen den Wolken, die noch den
Abglanz der letzten Sonne tragen, den geheimnisvollen Widerschein unserer
Gedanken wiedererkennt: Tiefer und schneller noch verlieren wir uns in der
Ebene, und der Hund, der uns folgt, das Pferd, das uns trägt, oder der Freund,
der verstummt – oder doch wenigstens, wenn kein lebendes Wesen neben uns ist,
die Blume in unserem Knopfloch, oder der Reitstock, der lustig in unseren
fiebernden Händen wirbelt –, eins von diesen allen ist es, was in Blicken und
Tränen den melancholischen Tribut unserer Weltentrücktheit empfängt.
XXI
Dem Mondschein gewidmet
Die Nacht
war gekommen, ich war in mein Zimmer zurückgekehrt, da es mich ängstlich
machte, im Dunkel ohne Blick auf den Himmel, auf die Felder und das
sonnenbeglänzte Meer zu verweilen. Als ich aber die Tür öffnete, sah ich das
Zimmer erhellt wie von einem Sonnenuntergang. Durch das Fenster sah ich Haus,
Felder, Himmel und Meer, oder vielmehr, sie erschienen mir, wie man etwas im
Traume sieht: der sanfte Mondenschimmer deutete sie viel eher an, als daß er
sie scharf abzeichnete, er umwölkte ihren Umriß mit bleichem Glanz, der die
Finsternis nicht verscheuchen konnte. Es war wie ein dichter Schleier,
gebreitet um eine vergessene Form. Und ich habe Stunden damit verbracht, im
Hofe das Erinnerungsbild der Dinge zu betrachten, matt, stumm, unfaßbar,
zauberhaft und entlichtet, wie die Dinge jetzt waren, die mir tagsüber Freude
oder Schmerz bereitet hatten mit ihren Schreien, ihren Rufen, ihren Stimmen
oder mit ihrem summenden Leben.
Erloschen
ist die Liebe, ich habe Angst, die Schwelle des Vergessens zu überschreiten.
Aber, befriedet, ein wenig blaß, sehr nah bei mir und doch schon nicht mehr zu
fassen, reihen sich hier wie im Mondenglanz all die Tage des geschiedenen
Glücks, all mein Kummer ist gestillt – und wie blickt mich dies alles an und
schweigt! Dies Schweigen tut mir wohl, indessen die weite Entfernung, der
unbestimmbare blasse Glanz mich trunken machen von Trauer und Poesie. Und ich
kann meine Augen nicht wenden von diesem inneren Mondschein.
XXII
Kritik der Hoffnung am Lichte der Liebe
Kaum ist
eine Zukunftsstunde uns zur Gegenwart geworden, als sie sich in ihrem Zauber
schon entblättert. Aber es ist wahr, sie gewinnt ihn
wieder, wenn unsere Seele umfassend genug ist, sie erstrahlt in gut geplanten
Perspektiven, vorausgesetzt, wir haben sie weit genug hinter uns gelassen, auf
den alten Pfaden unseres Gedächtnisses.
So mag die
auf Wolkengrund gebaute Stadt, der entgegen wir die Schritte unserer
ungeduldigen Hoffnungen und den Lauf unserer ermüdeten Stuten zu größerer Eile
angetrieben haben, nach dem Überschreiten der Höhe von neuem widerklingen in
verschleierten Harmonien, wenn auch die Banalität ihrer Straßen, das Stillose
ihrer Häuser (und doch schienen sie so nahe aneinandergerückt, so schön
auferbaut am Horizonte) und die leere Nichtigkeit der blauen Nebelhülle so
schlecht ihre unbestimmten Voraussagen eingehalten haben. So wie der Alchimist,
der seinen Mißerfolg stets nur den Begleitumständen und jedesmal anderen
anrechnet und nie auf den Gedanken kommt, es könne der Essenz, die er gerade in
Händen hat, ein unverbesserbarer Fehler anhaften, so klagen auch wir die
Bösartigkeit der Begleitwelt in ihren Einzelheiten an, die Bürde, welche auf
dem langersehnten Lebensglück lastet, das schlechte Wetter, die unfreundlichen
Fremdenherbergen während einer Reise, sie sollen es sein, die unser Glück
vergiftet haben. Wir trauen uns ganz sicher zu, die zerstörenden Ursachen aus
unserem Genuß abzuscheiden, unaufhörlich rufen wir mit einem bisweilen
schmollenden, aber durch eine Traumerfüllung nie zu enttäuschenden Zutrauen
(das heißt soviel wie betrogen) nach der geträumten Zukunft.
Es gibt
Menschen von reifer und oft mißgestimmter Überlegung, die noch in höherem Maße
als die anderen in dem Lichte der Hoffnung ihre hellste Lichtquelle sehen.
Diese Menschen erkennen, ach nur zu bald, daß die Hoffnung nicht herrührt von
der Erfüllung ersehnter Stunden, sondern nur aus dem überströmenden Quell des
eigenen Herzens. Aber was aus diesem Herzen hervorgeht, es ist der Natur fremd,
und mag es sich auch in Gießbächen nach außen ergießen, es wird nie stark genug
sein, in einem kalten Herde einen Funken zu entzünden. Diese Menschen fühlen
die Kraft nicht mehr in sich, das nicht Ersehnenswerte zu
ersehnen, sie wollen Träume nicht verwirklichen, deren Blume augenblicklich
welkt, will man sie außerhalb des eigenen Herzens pflücken. Diese
melancholische Anlage ist in besonderem Maße der Liebe zugehörig, und in ihr
rechtfertigt sie sich auch. Das Spiel der Phantasie kommt und geht, es läßt die
Hoffnungen nicht einen Augenblick aus dem Spiel, und so schärft es
bewundernswert die Spitzen der Enttäuschungen. Die unglückliche Liebe bleibt
uns die Probe der glücklichen schuldig, und dadurch hindert sie uns, das
Nichtige der glücklichen zu erkennen. Aber welch eine Lehre der Philosophie,
welch altersweiser Rat, welcher Überdruß an allem Streben folgt jeder
glücklichen Liebe und wandelt ihre Freuden in eitel Melancholie! Mein teures
Kind, Sie lieben mich, woher haben Sie die Grausamkeit genommen, es mir zu
sagen? Hier liegt nun vor uns dies brennende Glück erwiderter Liebe, und schon
der bloße Gedanke daran macht mich schwindeln, läßt meine Zähne im Fieberfrost
gegeneinanderschlagen!
Ich zerstöre
Ihre Blumen, ich verwirre Ihr Haar, ich reiße Ihren Schmuck ab, ich treffe Ihr
Fleisch, meine Küsse bedecken mit Schlägen Ihren Körper, wie das Meer, das
gegen den Strand schlägt. Sie selbst entschwinden mir und mit Ihnen das Glück.
Man muß scheiden, allein kehre ich heim und traurig. Ich klage dies letzte
Mißgeschick an, auf immer kehre ich zurück zu Ihnen. Aber das ist meine letzte
Illusion gewesen, die ich zerrissen habe, und mir bleibt nichts als ewiges
Unglück.
Ich weiß
nicht, wie ich den Mut gefunden habe, Ihnen dies zu sagen, denn es ist mein
ganzes Lebensglück, das ich damit unweigerlich von mir werfe, oder doch mein
ganzer Trost. Denn von nun an werden Ihre Augen, deren glücklicher Lebensmut
mich manchmal berauscht hat, nichts mehr widerspiegeln als die trübselige
Entzauberung, vor der Sie Ihre Klugheit und Ihre früheren Enttäuschungen schon
im voraus gewarnt haben. Nun haben wir dieses von beiden gegenseitig gehütete
Geheimnis laut ausgesprochen, daher gibt es kein Glück mehr für uns. Uns
bleiben nicht einmal die leidenschaftslosen Freuden der Hoffnung. Denn auch die
Hoffnung ist eine Tat des Glaubens. Sie ist leicht zu
hintergehen, und dies haben wir mißbraucht. Sie ist daran gestorben. Aber
nachdem wir auf den Genuß verzichtet haben, können wir nicht mehr Zauberfreuden
genießen, indem wir ihn erhoffen, denn hoffen ohne Hoffnung, so weise es wäre,
es ist unmöglich.
Aber meine
teure kleine Freundin, kommen Sie doch näher zu mir! Trocknen Sie Ihre Augen,
um schärfer zu sehen, denn ich weiß nicht, ob ich durch meinen Tränenschleier
richtig sehen kann – fast ist mir, als würden da in der Tiefe hinter uns große
Feuer angezündet. Oh, meine Liebe, meine Teuerste, wie ich Sie liebe! Geben Sie
mir, bitte, Ihre Hand, wir wollen uns den schönen Feuern nähern, doch nicht zu
nah! Ich glaube, es ist die in sanfter Kraft herrschende Erinnerungsgewalt, die
uns Gutes wünscht und die noch viel Gutes für uns zu tun im Begriffe ist, mein
Lieb!
XXIII
Unterholz
Wir haben
nichts zu fürchten, aber viel zu lernen von dem starken, friedlichen Geschlecht
der Bäume, das stärkende Essenzen erzeugt und lindernden Balsam und in deren
anmutsvoller Gesellschaft wir so viel frische Stunden in Schweigen und
Abgeschiedenheit verbracht haben. Während der brennend heißen
Nachmittagsstunden, wenn das Übermaß des Lichtes uns gerade durch seine
Überfülle nicht mehr wahrnehmbar wird, da steigen wir in einen normannischen
»Grund«, in dem sich mit ihrer ganzen Üppigkeit breite Buchen stolz erheben,
deren Laubwerk gleich einem schmalen, aber widerstandsfähigen Uferwall den
Ozean des Lichtes zerteilt und zurückwirft und nichts von ihm zurückhält als
ein paar Tropfen, die melodisch in die schweigende Finsternis des Unterholzes
hinabsintern. Unser Geist hat nicht wie am Ufer des Meeres oder auf den Bergen
seine Freude daran, sich auszubreiten über die Erde, dafür aber das Glück, von
ihr geschieden zu sein. Von allen Seiten geschützt durch Stämme,
die zu entwurzeln keine Menschenhand stark genug ist, schwingt er sich in die
Höhe wie die Bäume. Wir liegen auf dem Rücken, das Haupt auf trockene Blätter
gebettet; aus dem Schöße einer tiefen Befriedung heraus können wir der
fröhlichen Beweglichkeit unseres Geistes folgen, der emporsteigt, ohne auch nur
ein Blatt zum Zittern zu bringen, bis zu den höchsten Zweigen, wo er endlich
ausruht, am Gestade eines sanften Himmels, nahe einem Vogel, der singt. Hier
und da ist ein wenig Sonne gestockt am Fuße der Bäume, die sich wie im Traume
die äußersten Enden ihrer Zweige von ihr tränken und vergolden lassen. Alles
andere ist erschlafft und unbeweglich, und so schweigt es in stummem Glücke.
Hoch aufgeschossen, steil aufgerichtet mit der weit gespannten Opfergebärde
ihres Gezweiges und dennoch beruhigt und friedevoll stehen die Bäume da, und
durch diese sonderbare und natürliche Haltung laden sie uns unter anmutvollem
Rauschen ein, unser Herz einem Leben zu weihen, das so antik, so modern, so
verschieden ist von unserem, dessen dunkle, verborgene, unerschöpfbare
Hilfsquelle es zu sein scheint.
Ein leichter
Windhauch verwirrt auf eine Sekunde die funkelnde, düstere Starre, schwach
beben die Bäume, sie wiegen das Licht auf ihren Wipfeln und bewegen den
Schatten zu ihren Füßen.
Petit-Abbeville
(Dieppe), August 1895
XXIV
Die Kastanienbäume
Vor allem
liebe ich es, unter den ungeheuren Kastanienbäumen stehenzubleiben und zu
verweilen, wenn sie im Herbste vergilbt sind. Wie viele Stunden habe ich schon
in diesen geheimnisreichen grünen Grotten damit verbracht, über meinem Haupte
die rauschenden Kaskaden von blassem Gold zu betrachten, wie sie Frische und
Schatten spendeten in vollen Zügen. Ich beneide die Rotkehlchen und die
Eichhörnchen um ihre zarten, tiefen Zellen im Grün der
Zweige, diese antiken hängenden Gärten, die seit zwei Jahrhunderten jeder
Frühling neu mit weißen, duftenden Blüten schmückt. Die Zweige sind kaum
merklich gekrümmt, in edler Linienführung beugen sie sich vom Stamme zur Erde,
als seien es andere Bäume, in dem Stamme gepflanzt und von dort aufwachsend, mit
der Krone zur Erde geneigt. Die Blätter, die noch dageblieben waren, ließen
durch ihren blassen Schein jetzt besonders deutlich die Äste hervortreten, die,
nun entblättert, wuchtiger erscheinen und schwärzer. Und so eng halten und
schmiegen sie sich an den Hauptstamm, daß sie wie ein wundervoller Kamm das
sanfte, ausgegossene, blonde Haar zurückzuhalten scheinen.
Reveillon,
Oktober 1895
XXV
Meer
Das Meer
wird immer die Art Menschen faszinieren, bei denen Lebensüberdruß und
magnetische Anziehungskraft des Mysteriums dem ersten Kummer noch zuvorgekommen
sind, als seien das Ungenüge alles Wirklichen und seine Ohnmacht vorausgeahnt.
Diese Art braucht Ruhe, bevor sie noch die Ermattung richtig empfunden hat, und
das Meer wird sie trösten, es wird sie heben, wer weiß wohin?
Es trägt
nicht wie die Erde die Spuren menschlicher Arbeit, menschlichen Daseins. Nichts
hat seine Stätte hier, bleibend ist nur das Flüchtige, und wenn Barken das Meer
durchqueren, wie schnell ist die Schaumspur verschwunden. Diese hohe Keuschheit
hat nur das Meer, die Dinge der Erde besitzen sie nicht. Dieses ewig
jungfräuliche Wasser ist viel zarter als die verhärtete Erde, die einer Hacke
bedarf, will man sie durchbrechen. Schon der Schritt eines Kindes in das Wasser
höhlt eine tiefe Spur, er gibt einen deutlichen Ton; was an inniger Färbung
hier im Wasser vereint war, in einem Augenblick ist es geschieden, aber bald
ist die letzte Spur wieder geglättet, das Meer ist ruhig wie am ersten Tag der Schöpfung. Wer der Wege der Erde überdrüssig ist,
wer sie kennt, ohne sie gegangen zu sein, in ihrer ganzen Banalität und in
ihrer Härte – der wird der Verführung der bleichen Meereswege nicht
widerstehen, die gefährlicher ist und sanfter zugleich, ungewiß und einsam.
Alles ist hier geheimnisvoller bis zu den großen Schattenflächen, die bisweilen
friedlich über die leeren Gefilde des Meeres streifen; ohne Häuser, ohne
Schattendach breitet sich die Fläche der See aus, und über ihr die Wolken weit,
die Dörfer des Himmels, dies unfaßbare Geäst.
Das Meer hat
den Zauber aller Dinge, die auch nachts nicht zur Ruhe kommen, die aber unserem
unruhigen Dasein die Möglichkeit des Schlummers geben, ein Zusage von Ruhe,
welche nichts zerstören kann und wird, so wie die Nachtlampe für die Kleinen,
die sich weniger einsam fühlen, wenn sie leuchtet. Das Meer ist nicht wie die
Erde vom Himmel geschieden, immer bleibt es im Einklang mit seinen Farben, es
schmückt sich mit seinen zartesten Nuancen. Unter der Sonne strahlt es, jeden
Abend scheint es mit ihr zu sterben. Ist die Sonne dahin, so hört es nicht auf,
ihr nachzutrauern, etwas von ihrem strahlenden Andenken zu wahren, im Gegensatz
zur Erde, die sich weithin ins gleiche düstere Kleid hüllt.
Im Anblick
dieses sanften melancholischen Widerscheins fühlt man sein Herz gelöst. Ist die
Nacht beinähe ganz hereingebrochen und ist der Himmel düster über der in
Schwärze getauchten Erde, dann leuchtet die See noch in schwachem Schimmer, man
weiß nicht, durch welche geheimnisvolle Kraft, durch welche glanzerfüllte
Reliquie des Tages, der unter den Meereswogen dahingegangen ist.
Sie belebt
unsere Einbildungskraft, denn sie zieht uns vom Leben der Menschen ab, aber sie
hebt uns freudig empor, denn sie ist wie die Seele ein unbegrenztes, wenn auch
unzulängliches Streben nach oben, ein Elan, unaufhörlich gehemmt von Sturz,
eine Klage, sanft und ohne Anfang noch Ende. Zauberhaft ist sie wie die Musik,
die nicht wie die Sprache vom rauhen Atemhauche der Dinge umgeben bleibt, sie
schweigt von Menschen, aber sie folgt den Regungen unserer Seele nach. Unser
Herz strebt feurig empor mit ihren Wellen, es sinkt mit
ihnen zurück, so vergißt es sein eigenes Versagen. Was sie tröstet, ist eine
innere Harmonie zwischen der Seelentraurigkeit und der Meerestraurigkeit, und
eins wird ihr Geschick mit dem der Welt.
September
1892
XXVI
Marine
Den wahren
Sinn mancher Worte habe ich verloren. Vielleicht muß man die Dinge dazu
bringen, daß sie mich alle Worte wiedersagen lassen; denn diese Dinge haben
seit so langer Zeit ihren Weg in meinem Innern sich gebahnt. Wohl ist er seit
Jahren verlassen, aber man kann ihn wiederfinden, denn er ist, ich glaube
daran, nicht für immer verschüttet. Ich müßte zurück in die Normandie, nicht um
besonders meine Kraft zu erproben, sondern bloß einfach, um am Meeresstrande spazierenzugehen.
Oder besser noch, die Wege zu wählen unter den Bäumen, von wo man von Zeit zu
Zeit das Meer wahrnimmt oder seinen Atem, den Duft nach Salz, nach feuchten
Blättern und nach Milch. Ich müßte nichts von diesen Heimat-Dingen fordern. Sie
sind voll schenkender Großmut gegen das Kind, das sie bei seinen ersten
Schritten auf der Welt gesehen haben, und von sich aus würden sie mir alle
vergessenen Dinge ins Gedächtnis zurückrufen. Vor allem würde sein ganzer Duft
mir das Meer ankündigen, bevor ich es gesehen. In der Ferne würde ich es hören.
Ich würde einen Weg zwischen Hagedornbüschen gehen, in zärtlichstem Gefühl, ich
kenne es lange schon, auch unter einer gewissen Angst, und plötzlich, durch
einen wilden Riß in der Hecke, sehe ich mit einem Male die unsichtbar
gegenwärtige Freundin, die tolle, die sich immer beklagt, die alte Königin der
Wehmut: die See. Mit einem Schlage sehe ich sie! Es ist ein dumpf brütender Tag
unter blendender Sonne, sie ist der Widerschein der Himmelsbläue, nur blasser.
Wie Schmetterlinge sind weiße Segel dem unbewegten Meere aufgesetzt, sie sind
gelähmt von der Hitze, sie regen sich nicht. Oder das Meer
ist im Gegensatz dazu hoch aufgerührt, gelb unter der Sonne, wie ein gewaltiges
Ackerfeld, mit Kämmen, die unbeweglich scheinen aus so großer Entfernung, unter
ihrer hohen Krone aus blendend weißem Schnee.
XXVII
Segel im Hafen
Zwischen
seinen niedrigen Kais erstreckte sich der Hafen langhin wie eine Straße aus
Wasser, worauf das Licht des Abends glänzte. Hier blieben die Vorübergehenden
stehen, um die versammelten Schiffe anzustaunen, als seien es Fremde, am Abend
gekommen und gewillt, morgens weiterzureisen. Diese aber ließ die Neugier, die
sie bei der Masse erregt hatten, gleichgültig, denn sie schienen deren
Niedrigkeit zu verachten oder deren Sprache nicht zu kennen, und so bewahrten
sie in der feuchten Herberge, wo sie sich für eine Nacht aufhalten sollten,
ihre schweigende, unbewegliche Haltung. Der solide Bau des Vorderstevens sprach
nicht minder von künftigen weiten Reisen als von Seeschäden der Ermattung, die
sie auf ihren gleitenden Straßen schon hinter sich gelassen, Straßen, die so
alt waren wie die Welt und so neu wie die Passage, die über sie hinführte und
deren Spur verging. Schmächtig und doch voll Widerstand hatten sich diese
Schiffe mit ernster Kühnheit gegen den Ozean hin gedreht, den sie beherrschen
und der sie doch vernichtet. Das wunderreiche, sinnvolle Takelzeug spiegelte
sich im Wasser, wie eine präzise, vorausblickende Intelligenz untertaucht in
dem ungewissen Schicksal, das sie über kurz oder lang zertrümmern wird. Eben
erst hatte man sie aus dem Bereich des schönen wilden Lebens gezogen, wohin sie
morgen von neuem den Weg antreten sollten, und so waren ihre Segel noch
geschmeidig von dem Wind, der sie eben noch gebläht, ihr Bugspriet schnitt
schräg gegen das Wasser ab – wie gestern noch während der Fahrt, und vom
Vorderschiff bis zum Heck schien das Muschelrund die geheimnisvolle und
biegsame Grazie der Fahrt bewahrt zu haben.