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Mara-Daria Cojocaru: Anstelle einer Unterwerfung

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Erec Schumacher

VERMISCHTES AUF DER ROTEN LISTE


Unser Name wird nicht mehr ausgesprochen, / es ist, als hätten wir niemals existiert. (Rolf Bossert)



Neuntöters Epilog

Lyrikbände mit Tiergedichten sind in letzter Zeit keineswegs Mangelware. Von Judith Holofernes harmlosen Plänkeleien (Du bellst vor dem falschen Baum) bis zu Mikael Vogels Massenhaft Tiere versucht sich Lyrik durchaus regelmäßig auf Augenhöhe mit der Tierwelt - so auch Mara-Daria Cojocaru in ihrem zweiten Lyrikband „Anstelle einer Unterwerfung“. Die Rahmung, Konzeptualisierung und Theatralisierung von Realitäts- und Möglichkeitsräumen durch ein vielköpfiges Ensemble von Tieren und tierähnlichen Geschöpfen erfolgt hier in besonders prägnanter Weise. Bereits das rein quantitative Faktum von Cojocarus Tierarsenal fällt auf. Eine staunenswerte Artenvielfalt, die sich selbst in den einzelnen Gedichten tummelt, verquer und auf den Kopf gestellt, invasiv, real, inkorporiert, fiktionalisiert, als Spielfiguren oder Avatare, von den üblichen Verdächtigen bis zu konvertierten Fluchttieren oder Unikaten wie einem phosphoreszierenden Riesenkurzschnauzenbär; mal quicklebendig, mal einem fachgerechten Tod überführt (ob sich unsere Ahnen / Von der Schlachtung kannten), im Sterben oder als Mumientiere, als Leistungsträgertiere oder als letztes Reh im Zoo von Gaza. Übergangslos kapern sie (mit Bedeutungsüberschuss versehen) das lyrische Ich, infiltrieren, vervielfältigen es. Überhaupt wechselt die Perspektive permanent. Menschliches und Tierisches vermischen sich. Unentwegt oszilliert es zwischen Anthropomorphismus und Metamorphose. Die Zuschreibungen von Eigenschaften und Merkmalen hüpfen zwischen den Spezies (die Falkenhaftigkeit der Tauben), sprengen Taxonomien. Die Tiere selbst schlüpfen in (Sprech)Rollen, tragen Kostüme und Masken, suspendieren ihr Jagd- und Tötungsverhalten, ihre Genome, um dann als mein kritischer Hund, mein Therapiewaran, philosophische Stuten oder Performancehund bühnenreif zu agieren. Umgekehrt richten die Menschen ihre Blickrichtungen nach tierischen Charakteren aus, identifizieren sich mit ihnen (einer Made gleich), simulieren sie (Schmetterlinge), sehnen sie herbei oder machen gleich mit den Gottesanbeterinnen gemeinsame Sache. In ausgeklügelter Weise bettet Cojocaru diese Positions- und Perspektivwechsel als Gestaltungsprinzip ein: von Vogelperspektiven bis runtergebrochen ins Mikroskopische (pick den Staub vom Wassertropfen).

Sprunghaftigkeit fächert alle Dimensionen und Realitäts-bezüge auf, verrückt sie in Provisorien, Assoziationsketten, Interimistisches, Zwischenzeiten und erzeugt so Spannungs-verhältnisse und sich überlappende Dynamiken. Es sind Spielaufstellungen mit Versuchstieren und verteilten Sturm-positionen, die verschiedene Erklärungsansätze zulassen und Deutungsangebote unterbreiten.

Auch die Adressatenebene wechselt permanent. Mal richtet sich das Gedicht an die Nachgeborenen (im Vorwort), dann (titelgebend) An die friedliebenden Menschentiere, um gleich in der ersten Zeile in An die Konfliktträchtigen zu schwenken. Ich spreche nur für mich, heißt es an einer anderen Stelle. Aber wer spricht da eigentlich, wer ergreift für wen das Wort?



Wie schön war mit uns diese Welt

Cojocaru lokalisiert ihre Ensembles mit Vorliebe in apokalyptische Settings, gerne auch als apokalyptische Hüpfburg verballhornt, thematisiert Postapokalyptisches (die Wüste, die wir hinterlassen), Klimawandel, Naturkatastrophen und ihre Verbreitungsgebiete (Über den Fluss gestürzte Bäume, über / Das Dorf gestürzte Flüsse), rekursives Wühlen im Müll der Kommunikationsgesellschaft; daneben aber auch Alltagsbeschreibungen mit Wohlfühlgequatsche und dem Ringen um ein bisschen Goldstandard, verstrickt in Ketten und Verbindlichkeiten; fast Idyllisches mit nahtlosem Übergang zum unbemerkt einsetzenden oder bereits finalisierten Kollaps. Alles fließt ineinander, die Diskurse und Konfrontationslinien unterliegen einer ständigen Neukonfiguration, bevorzugen Hybridisierung, Montage, Pastiche; klaffend das alles, außerhalb eines normativen Regelsystems, außerhalb der Kausalitäten, im Zusammenbruch sozialer, zeitlicher und logischer Ordnungen. Und dann wieder ganz schlicht, notatartig: Verloren, Umriss, Idee.
Dazu passend vollzieht sich die Verortung des lyrischen Ichs global und selbst- / grenzüberschreitend. Da, wo ich herkomme, ist überall: arktische Gewässer, Galapagos-Inseln, Drakensberge, Kongo, Nebraska, Alaska, Fukushima, Pripyat, Manhattan, Paris, London, Berlin, usw.
Die eingespeisten Narrative drehen sich um Verlust, um Verlassenheit: das, was wir verloren haben, dass / Wir verloren haben, drückt uns zu Boden / Man kann sagen, radikalisiert. Oder was / Wären wir denn ohne das / Was wir hatten. Korrelieren mit einem gestörten Gleichgewicht, dem illusionären Streben nach Homöostase und Resilienz im Angesicht des Niedergangs, mit Leidensfähigkeit, postmoderner Einsamkeit (Erträgst du diese Einsamkeit?), posttraumatischen Stress, mit der Zeugenschaft globalen Artensterbens: Wer bin ich, mich neben Euch, im Schatten Eures Sterbens / Selber zu bestatten. Ein memento mori, Momente der Klarheit, Momente der Verdüsterung, biblische Heraufbeschwörungen: Alles wurde Staub. In Hilfestellungen für den letzten Menschen wird die Frage nach der Dringlichkeit gestellt: Ist dir am Fortbestehen des Menschen überhaupt gelegen.


Schwarmanweisungen

Zentral ist das Motiv des Fliegens. Das Flugzeug als Metapher menschlicher Expansion, kolonialistischer Raumüberschreitung, als Treiber globaler Vernetzung. Bei Cojocaru kommt der Flugverkehr zum Erliegen: Bruchlandungen im borealen Nebelwald, Wracksichtungen, luftige Mantarochen, die Flugzeuge fressen. Folglich geht es um Versuche, diese auch existentiell zu verstehende Flugunfähigkeit (meine Sprache ziemlich abgeflogen) zu überwinden, sie auf andere Arten des Geflügeltseins zu übertragen. Flügel verstanden als wesensbestimmende Bewegungsorgane, deren Verlust als Deformation und Verkrüppelung wahrgenommen wird, symbolisieren bei Cojocaru darüber hinaus Erfahrungen von Rausch, Aufschwung, Selbstentgrenzung, stehen aber auch für Verwundbarkeit, für Abrichtung (Flügel zügeln); ihre kollektive Relevanz spiegelt sich im Begriff Murmuration, so der Titel eines Gedichtes, in dem vielsagend von Schwarmanweisungen, die / Aber Fragen waren die Rede ist. An anderer Stelle heißt es: Unser Leben, wie im Flug. Luft – Flug – Atem bilden quasi ein triadisches System, auf das im Text fortwährend Bezug genommen wird. Wir holen Luft / Aus dem Lastenaufzug. - Luftgassenpassage. - Wir / Atmen uns tief in die Luft. – Einen Tag draus machen, mit geködertem Atem. - Zurechtgestutzte Luft. - Ich werfe Luftblasen. – Ich habe keine Atmung.


Rumination als Staatsstreich


Verknüpft wird dies mit Anleitungen zum Staatsstreich oder Strategien Angst zu lernen; Cojocaru lässt immer wieder Überreste abendländischer Denktraditionen aufschimmern: Selbstbestimmung, Autopoiesis, Kants Zum ewigen Frieden, das Platonische Höhlengleichnis - und Gott. Dem Gedicht Rumination, ein Fachterminus sowohl für das Wiederkäuen von Nahrung als auch für das menschliche Grübeln über Unglück, wird ein Rumi-Zitat in der englischen Übersetzung von Coleman Barks vorangestellt. God, my sheep and goats are yours / Ich lieg im Gras, schon / Eine rote Zahl // Einen blauen Fleck ins Fell / Gemalt / Doch etwas grünt noch / Ich kau daran / Verdaue das / Mein Gott. Verweise auf Religiöses ziehen sich über den gesamten Band: Zu Himmel und Hölle gefaltet; Diasporen sammeln, religiöse Flügel. Überhaupt sind die Gedichte anspielungsreich. Das Gedicht Dinner with the Treeladies beispielsweise führt den Leser hin zu einem elisabethanischen Theaterstück aus dem 16. Jahrhundert: Three Ladies in London. Ein allegorisches Stück, in dem die einzelnen Figuren Laster und Tugenden repräsentieren. Cojocaru spielt gewissermaßen mit diesen mittelalterlichen Moralitäten, variiert und konterkariert sie gleichzeitig. Genauso orientiert sich Cojocaru an den Erzählweisen von Fabeln oder Lehrgedichten, die sie mitunter surreal verfremdet. Auch die rumäniendeutsche Literatur kann sowohl von der Tonlage als auch von der Motivik als Bezugsquelle herhalten, beispielsweise wenn Cojocaru die geradezu heraldische Verwendung des Neuntöters bei Rolf Bossert zitiert. Paul Celans Gedicht Maulbeerbaum wird ziemlich clever paraphrasiert. Während die Naturbeschreibungen an angelsächsisches Nature-Writing, an die Rambles (Streifzüge) dort in komprimierter Form erinnern.


Ein Recht auf Nichtexistenz in der entmilitarisierten Zone?

Inmitten dieser Gemengelage und all dieser Konstellationen stellt sich die Frage nach dem Titel: Anstelle einer Unterwerfung? Wer fungiert eigentlich als Subjekt der Unterwerfung? Wie und womit werden die Leerstellen vor und nach der Unterwerfung gefüllt? Es hat etwas Verführerisches, den Titel an Foucaults Theorie der Macht anzudocken, wo der Prozess der Subjektwerdung (subjection / sujétion = Unterwerfung) bedingt wird durch einen sich gleichzeitig abspielenden Prozess des Unterworfenseins durch Macht im Sinne eines grundlegenden Paradoxons. Geht es also um die Auflösung eben dieses Paradoxons, um einen Befreiungskampf und emanzipatorische Praxis auf postapokalyptischen Territorien, die hinter Tiermasken oder Avataren im Kontext eines karnevalesken Games durchschimmern; die Rückeroberung des Raums als Exzess, als Phantasma, im Zustand der Simulation? Ein freies Schweben nach dem Overkill, nach dem explosiven Augenblick der Befreiung (nach der Orgie im Sinne von Baudrillard), ein Sprung aus allen Gewissheiten heraus, aus allen Sinnzusammenhängen und Konsistenzmilieus, jeder externen Machtintervention enthoben. Die Kaputtheit, die simultan ein- und ausgeblendet wird, scheint dies zu unterstreichen, genauso wie die Fragilität des Ganzen, die im Text ausgestellten kognitiven Dissonanzen, Verblendungszusammenhänge, Scheinkulissen, jene Engführung von Apokalypse und Idyll: Das Picknickpaar / Hört sich zu, nickt innerlich, still. Doch, die Sonne / Verfinstert sich: Klick, hast du nicht mitgekriegt. Die vormals Unterworfenen ausharrend als überlebende Widerstandsfiguren in einer kunsthistorischen Natur und in Erwartung der Wildnis, sich wieder dem Kreatürlichen hingebend, der Fellpflege, der Atmung, des Wiederfliegenkönnens. Eine Absage an die Dispositive des Formens, Geformtwerdens und Sich-selbst-Formens: So ist / Ein jeder Mensch / Eine bedingt / nur nutzbare und fremde Welt. Endlich befreit von den normativen Fesseln, aus der Lernkurve geworfen. - Sollten wir es noch / Mal schaffen? Und wenn es nicht / Genug zu essen gibt.

Der Band bietet Stoff im Überfluss, eine mal ungebändigte, mal nüchtern gezügelte, dann fast spröde, aber immer bildreiche Sprache, für die der Leser besser ein Fremwörterlexikon griffbereit hält. Cojocaru zieht alle Register, schlägt Haken und profiliert sich als poetische Stuntwoman. Bei aller Sprachmächtigkeit, die Cojocarus Band auszeichnet - eine Straffung hätte ihm gutgetan, der Verzicht auf den einen oder anderen Kunstgriff oder Kalauer. So fügt sich das Zuvielgewollte in seinem voltenreichen Virtuositätsgebaren nicht immer in das Beziehungsgeflecht der Zusammenhänge, läuft mitunter ins Leere. Womöglich ist dies aber auch Teil des poetologischen Quellcodes, vorgegeben durch die Prämissen des Textes, um den offenliegenden und verdeckten Intentionen gerecht zu werden. Ungeachtet dessen handelt es sich um einen starken Band, der auch in seiner politischen und gesellschaftskritischen Aussagekraft sowie als Versuch einer Bestandsaufnahme unserer brüchigen Zivilisation überzeugt. Eine Spurensuche im Schlachtabfall, die wechselt zwischen Ausgelassenheit, Melancholie und Kontemplation – die gerade in ihren lakonischen Momenten Erstaunliches leistet: Es folgt ein kurzer Kampf / Kultur, Natur. Die Dämmerung. Oder, die Verseuchung der Ozeane durch Plastikmüll thematisierend: 17000 Quietscheentchen / Zogen an Euch vorüber.
[...]
Im Dunkeln tastend, schwebend, betrachte ich / Eine Stadt, so hingemurmelt, ganz zerstreut / Der Leuchtteppich: Algen, Menschen...



Mara-Daria Cojocaru: Anstelle einer Unterwerfung. Gedichte. Frankfurt am Main (Schöffling & Co) 2016. 176 Seiten. 20,00 Euro.

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