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Manuskripte 231 und Park 73

Rezensionen/Lesetipp > Zeitschrift des Monats

Michael Braun

Zeitschrift des Monats

Manuskripte 231 - Park 73

ICH WAR EINE GEISTERSTUNDE


Psychotrope Substanzen haben in der modernen Poesie eine bemerkenswerte Karriere absolviert. Die halluzinogenen Pilze der Beat Generation sind zur Legende geworden, aber auch „peinliche Pilze“, so entnehmen wir einem Gedicht von Joachim Sartorius, gehören zu den Lieblings-gerichten der Gegenwartsdichter. Auch das Cover der neu gestalteten Literaturzeitschrift manuskripte, die sich ein Jahr nach dem Tod des Gründungsherausgebers Alfred Kolleritsch mit einem neuen Design präsentiert, darf man ebenfalls als eine Huldigung an kunstaffine Rauschpilze interpretieren. Die luxemburgische Künstlerin Val Smets hat mit ihren leichtkräftigen Zauberpilzen nicht nur das Umschlagbild für das aktuelle Heft 231 geliefert, sondern auch den ersten Teil des Heftes mit kleinen Pilz-Porträts bestückt. Sie liefern die ikonische Matrix für die Gedichte von Yevgeniy Breyger, Georg Leß, Lara Rüter und Hannah Schraven, die hier in ganz unterschiedlicher Weise intensive Visionen, Traumszenen, „Lindwurmsichtungen“ (G. Leß) und „Höllenartefakte“ (Y. Breyger) entwickeln. Was zunächst verblüfft, ist der mit großem Aufwand und Akribie betriebene optische Relaunch. Die strenge typografische Struktur von Kolleritschs manuskripten wurde aufgelockert, der Zeilenabstand vergrößert, mit einer neuen Schrifttype (ausgewählt von der steirischen Grafikerin Petra Höfler) hat man sich dem allerersten Heft der manuskripte aus dem Jahr 1960 wieder angenähert. Im ersten und aufregendsten Kapitel des neuen Heftes präsentiert man imaginativ übermütige, der Traumsphäre nahe Gedichte, die sich wie Expeditionen in halluzinatorisches Gelände lesen oder auch wie visionäre Zugriffe auf prähistorische Motive, wie etwa in dem Gedicht „Weißes Mammut“ der Leipziger Dichterin Lara Rüter. Die poetische Traumlogik vieler dieser Arbeiten benennt Hannah Schraven: „wir praktizieren slowmotion-dreaming / an den außenkanten deines atems wo / überbelichtete traum-bilder sich mit schlüpfgeräuschen mischen/ wenn der stillstand sich einstellt/ und in den ruinen/ in zeitraffer lilien aus der asche schießen“.  Der metaphorisch kühnste Text ist hier wohl das fünfteilige Poem Yevgeniy Breygers („Was lernt man ohne Absicht zu verzeihen?“), in dem in jedem zweiten Vers ein neues fantastisches Motiv entfaltet wird, so dass sich hier ein in viele Richtungen wucherndes Myzel ausbildet. Das suggestivste Poem in den manuskripten ist Birgit Kreipes sehr frei gestaltetes Gemäldegedicht „maximum shaming, mit Gerhard Richter, Park, Mai 1990“. Es geht aus von einer Serie von Übermalungen Richters, der 1990 das Foto einer Parkanlage in Köln mit dick aufgetragenen Ölfarben bearbeitete. Kreipe macht daraus eine Folge von Suchbewegungen eines dissoziierten Ich durch eine Zwischenwelt aus Farben, Räume und Atmosphären: „ich war eine geisterstunde// ich hab nichts mehr gesagt, es schritt durch mich/ hindurch, wie durch dieses gebäude.// und ich bleibe dunkel/ auch wenn tau auf den spitzen der gräser glimmt// >ich kläre das – morgen- nie.<“

Dieser Text hätte idealerweise auch der traditionsreichen Poesie-Zeitschrift Park als Motto dienen können, jenem ebenso sorgfältig wie inspiriert gestalteten Periodikum, das nun seit 45 Jahren von dem Berliner Dichter und Übersetzer Michael Speier herausgegeben wird. Im aktuellen Park (Nr. 73) führt Speier in der ihm eigenen Subtilität vor, welch großem Spektrum avancierter Poesie er in seiner Zeitschrift Raum gibt. Er kombiniert zwei Gedichte aus dem Nachlass Christoph Meckels, der zeitlebens mit der Zeitschrift eng verbunden war, und haikuartige Notate von Elke Erb mit ästhetisch schrillen Texten von Carla Cerda und Lara Rüter, den profiliertesten, eigensinnigsten und auch schrillsten Dichterinnen der jüngsten Lyriker:innen-Generation. Die von ihrem poetischen Temperament so unterschiedlichen Klassiker deutscher Gegenwartsdichtung treffen also auf zwei junge innovative Stimmen. Lara Rüter orientiert sich dabei in ihren formal sehr souverän gefügten Gedichten meist am bewährten Echoraum antiker Mythen, während Carla Cerda ihre motivischen Referenzen aus digitalen Archiven und paratextuellen Codes gewinnt, im Fall ihres Zyklus „Koi“ aus der Plattform „infofish.org“. In koketter Lässigkeit transformiert Rüter in ihrem Gedicht „moonflower“ eine Pflanzenart, deren Blüten sich nur in der Nacht öffnen, in eine kleine ironische Kosmologie, in der Mond- und Mars-Expeditionen imaginiert werden. Zwischen den Altmeistern Meckel und Erb und den Newcomern Rüter und Cerda finden sich starke Gedichte des Dichters und Fotokünstlers Dieter M. Gräf, der hier Augenblicke intensiver Geistesgegenwart und gesteigerter Wahrnehmung in Poesie verwandelt. Auffällig ist, wie Gräf sich immer intensiver der japanischen und chinesischen Zen-Mystik zuwendet: „wir verbeugen uns vorm leeren raum/ & vor dem, was aus ihm kommt“. In einer poetischen Meditation auf eine Fotografie des prominenten japanischen Fotokünstlers Nobuyoshi Araki gelingt ihm eine intensive Vergegenwärtigung des Projekts „Sentimental Journey“, in dem Araki den Lebensweg seiner früh verstorbene Frau Yoko dokumentiert hat. Den heitersten und lakonischsten Beitrag im neuen Park verdanken wir Elke Erb. Dieses Kurzgedicht könnte künftig als Maxime einer künftigen Werkausgabe der Dichterin voranstehen: „Was geschehen ist, ist geschehen./ Komm jetzt, wir wollen gehen!/ Wohin?/ Ins Schloß von Sowieso,/ ich bin die Prinzessin do.“

Manuskripte 231 (2021); Sackstraße 17, A-8010 Graz; 168 Seiten, 10 Euro
Park 73 (2021); Michael Speier, Tile-Wardenberg-Str. 18, 10555 Berlin, 110 Seiten, 10 Euro


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