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manuskripte, Heft 229

Rezensionen/Lesetipp > Zeitschrift des Monats

Michael Braun

Zeitschrift des Monats

manuskripte, Zeitschrift für Literatur, Heft 229: Alfred Kolleritsch

Der letzte Österreicher


Als der Dichter Alfred Kolleritsch am 29. Mai 2020 einsam in einem Grazer Krankenhaus starb, wo ihn seine Familie wegen der rigiden Corona-Verordnungen nicht mehr besuchen konnte, war die Erschütterung über die Todesnachricht weit über Österreich hinaus zu spüren. Denn mit dem 89jährigen Kolleritsch war nicht nur einer der letzten Autoren aus der Gründergeneration der österreichischen Avantgarde gestorben, sondern eben eine sehr besondere Dichtergestalt mit einer einzigartigen „Gravitationskraft“ (Maja Haderlap), der die Poesie, die Welt und die älteren wie jüngeren Autoren in gegenseitiger Anziehung zu halten vermochte. Kolleritsch war als Herausgeber der manuskripte, als langjähriger Präsident des Künstlervereins „Forum Stadtpark“, als Förderer und großzügiger Freund letztlich das Zentralgestirn der österreichischen Literatur. Wie sehr dieser Autor die experimentierfreudige Literatur der letzten fünfzig Jahre geprägt hat, erhellt nun das opulente Gedenkheft (H. 229/2020) der manuskripte, das auf 266 Seiten die Erinnerungen, Reminiszenzen, Klagelieder, Nachgesänge und Notizen von über 100 Autorinnen und Autoren versammelt. Es ist kaum ein anderer Autor der Gegenwart denkbar, der so viel Dankbarkeit und Anerkennung aus der eigenen Zunft erwarten kann. So wird in den Beiträgen des Heftes deutlich, dass es Kolleritsch verstanden hat, sich selbst zurückzunehmen und sein poetisches und erzählerisches Werk zurückzustellen zugunsten der selbstlosen Förderung und Aufmunterung zahlloser KollegInnen, die er immer wieder eingeladen hat, in den manuskripten zu veröffentlichen oder denen er zu Verlagen verhalf. Vor seinem Engagement beim Künstlerverein „Forum Stadtpark“ arbeitete er von 1959 bis 1963 als Lehrer am Pestalozzi-Gymnasium in Graz, am Lehrerberuf hielt er auch noch fest, als er mit den manuskripten längst die große Bühne für die Literatur der Moderne errichtet hatte. Warum er dann unbeirrbar seinem Lebensort Graz die Treue hielt, obwohl ihm alle Türen in die literarische Welt offenstanden, hat einer seiner Kunstfiguren erklärt, der Maler Schaukal aus dem 1995 veröffentlichten Prosabuch Der letzte Österreicher: „Er hatte seinen Ort, ein Stück Welt. Er verleugnete es nicht vor der größeren Welt, er liebte die Provinz, weil sie rücksichtsloser war.“ In diese „rücksichtslose Provinz“ implantierte er 1960 seine Zeitschrift manuskripte. Gemeinsam mit dem Lyriker Alois Hergouth stellte er im November 1960 die erste Ausgabe vor, ein zunächst bloß fünfzehnseitiges hektographiertes Heftchen, in dem ausschließlich Gedichte von Autoren aus Graz und der näheren Umgebung zu lesen waren. Harald Miesbacher hat nun im aktuellen Gedenkheft akribisch die Aufbruchszeit des Forums Stadtpark und der manuskripte rekonstruiert – wie auch die Krisenjahre 1994/1995, als Kolleritsch nach einem Zerwürfnis mit Walter Grond, einem seiner designierten Nachfolger, als Forums-Präsident zurücktrat. Dass Alfred Kolleritsch als ein Genie der Freundschaft nicht immer die konkurrierenden Dichter(innen) zusammenhalten konnte, zeigen die Beiträge von Ursula Krechel und Lukas Cejpek. Sie erinnern an das aufregende Literatursymposion „Steirischer Herbst“ im Jahr 1984, als dort Rainald Goetz den Finsterling gab und ausnahmslos alle Teilnehmer(innen) beschimpfte. Zu Ursula Krechel fiel Goetz nur eine sexistische Attacke ein: „Auch so eine Germanistenfotze“ – ohne dafür zur Rechenschaft gezogen zu werden. Kolleritsch, der als Mitglied im Direktorium des „Steirischen Herbstes“ die Gastgeber-Rolle innehatte, trug schwer an diesem verbalen Amoklauf, so dass er später, wie Lukas Cejpek berichtet, „mit einer Rasierklinge durch die Innenstadt-Buchhandlungen ging“, um aus den damals gerade erschienenen manuskripte-Heft die Seite mit den Rainald Goetz-Sottisen herauszutrennen. Bewegende Gedenkblätter haben zu diesem Erinnerungs-Heft auch Erwin Einzinger, Arnold Stadler, Monique Schwitter und nicht zuletzt auch Andreas Unterweger beigesteuert, der seit 2016 Redakteur der manuskripte ist und die Zeitschrift im freien Geist Kolleritschs fortführen wird. Der berühmteste Freund des Verstorbenen, Peter Handke, hat nur eine Postkarte an den Herausgeber geschrieben. In seinem Briefwechsel mit seinem Lebensfreund Kolleritsch hat Handke jedoch einmal sehr konzis die Eigenart von dessen Gedichten erläutert: „Deine Wörter [..]schweben nah am Erdboden, man spürt beim Lesen allerschönste Schwerkraft, schweres Schweben…“. Diese poetische Schwerkraft hat sich auch in die letzten Gedichte Kolleritschs eingeschrieben, die im Januar dieses Jahres unter dem Titel Die Nacht des Sehens (Wallstein) erschienen sind. Diese späten Gedichte sind anrührende kleine Lieder des Abschieds. Der für Kolleritsch so charakteristisch paradoxale Buchtitel Die Nacht des Sehens verweist auf eine existenzielle Situation, in der die Erfahrung des Schönen noch möglich ist, aber immer häufiger nur noch als Rückzugsbewegung: „als Klang im Atmen, / als Abgesang der Erschöpfung.“ Im manuskripte-Gedenkheft erinnert Erwin Einzinger an eine schöne Kolleritsch-Würdigung durch Urs Widmer, die der 2014 verstorbene Schweizer Autor seinem Freund „Fredy“ dereinst zum fünfzigsten Geburtstag gewidmet hat: „…manchmal denke ich, du bist einer, der das Verschwinden übt in einer Welt, in der alle mit dem Sichtbarwerden beschäftigt sind.“ Wie eine Antwort darauf lesen sich einige Zeilen aus Kolleritschs letzten Gedichten: „Sag mir etwas,/ das nicht verschwindet./Was war, ist weggeraten.“

manuskripte, Zeitschrift für Literatur, Heft 229/ 2020, Sackstr. 17, A-8010 Graz. 266 Seiten, 15 Euro.


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