Magnús Sigurðsson: Drei Gedichte
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Magnús Sigurðsson
Drei Gedichte
(Aus: Veröld hlý og góð / Eine Welt, herzenswarm und gut, Dimma, Reykjavík 2016)
Aus dem Isländischen übertragen von Jón Thor Gíslason und Wolfgang Schiffer
Eine
Zeitleiste
Wie
alt ist der Wind?
So
alt wie die Sonne.
Wie
alt ist die Sonne?
So
alt wie das Licht.
Wie
alt ist das Licht?
So
alt wie das Leben.
Wie
alt ist das Leben?
So
alt wie Gott.
Aber
wie alt ist denn Gott?
Gott wird sechs,
übermorgen.
Genauso
wie ich?
Ja,
genauso wie du.
In
der Abenddämmerung
Warum
kommt sie nicht?
fragte
er sich.
Alles
andere ist da:
der
passende IKEA-Stuhl
die
passende IKEA-Schüssel
das
passende IKEA-Bett –
hier
im passenden schattigen
dunklen
Wald.
Inmitten
von singenden
Amseln
und
Sprossern.
Und
den flugleisen
Abendschwärmern.
Ein
Bruchstück der Menschheitsgeschichte
Dies
können wir verbuchen, mit absoluter Gewissheit
ohne
tiefer
nach
Hautblättern
der
Toten zu graben
der Steintoten
der
Neutoten
der
Untoten –:
Jesus
war ein Mensch.
Mohammed
war ein Mensch.
Hallgrímur
war ein Mensch.
Es
gibt genug Menschen.
Es gibt zu viele Menschen
die Mensch sein
wollen
unter
Menschen.
Es gibt zu wenige Menschen
die Mensch sein
wollen
unter anderen
Menschen.
Fleisch ist Fleisch
egal welche Haut es kleidet.
Erde
ist Erde
egal
welche Haut sie gebar.
Magnús
Sigurðsson, geb. 1984 in Ísafjörður,
einem kleinen im Fischerdorf in Islands abgelegenen Westfjorden,
betrat die Literaturbühne Islands im Jahr 2007 mit der Über-setzung von Ezra
Pounds Gedichtsammlung Pisan Cantos, für die er sogleich ausgezeichnet
wurde. Auch sein erster Gedichtband ein Jahr später, Fiðrildi, mynta og
spörfuglar Lesbíu / Schmetterlinge, Minze und die Spatzen Lesbias,
brachte ihm mit dem Tómas-Guðmundsson-Poesiepreis eine hohe Anerkennung ein,
gefolgt 2013 vom angesehenen Jón-úr-Vör-Poesiepreis. Insgesamt erschienen von
ihm bis heute fünf Gedichtbände und zwei Bände mit experimenteller Prosa sowie
Übersetzungen zahlreicher Gedichtbände ins Isländische, u.a. des Norwegers Tor
Ulven. Sein 2013 erschienener Gedichtband Tími kaldra
mána / Zeit der kalten Monde wurde 2017 in der Übersetzung von Meg Matich
unter dem Titel Cold Moons in den USA publiziert. 2019 promovierte
Magnús Sigurðsson mit einer Dissertation über Emily Dickinsons Rezeption in der
isländischen Literatur.