Ma[ra] Gen[schel] Material
Christiane Kiesow
Politisch. Musikalisch. Radikal.
Wer Texte für die Ausgabe Nr. 6 der Novelle - Zeitschrift für Experimentelles einreichen wollte, durfte in der Hoffnung auf Veröffentlichung nicht hopplahopp handeln, denn es galt etwas zu beachten: die „Wettbewerbsbedingungen“¹. Zu diesen gehörten unter anderem die Themenvorgabe „Königshäuser“, ein Vermerk zur gewünschten Textlänge, sowie der Hinweis, dass die Herausgeber sich besonders über Einreichungen freuen, die das rein Textliche überschreiten. Außerdem wird kein Honorar gezahlt.
Wer gern Kurzgeschichten schreibt, hatte letztes Jahr die Möglichkeit, sich auf eine Ausschreibung² zum Thema „Grenzgänge/r“ zu bewerben. Zählte der Text zu den vier Siegergeschichten, wurde er auf einer eigens dafür stattfindenden Veranstaltung „erst musikalisch (live) eingeführt, dann von SchauspielerInnen gelesen, darauf von einem Koch in einem Menügang interpretiert“.
Streng genommen handelt es sich beim ersten Fall um unbezahlte Auftragsarbeit, im zweiten Fall gerät die Lesung zum Entertainment-Event - der Autor nimmt nur noch als Zuschauer teil. Man lernt hier exemplarisch für den Literaturbetrieb: Schreiben mag vielleicht etwas mit Selbstermächtigung zu tun haben, Veröffentlichen nicht unbedingt.
Manche bestreiten, dass es den Literaturbetrieb gibt. Das stimmt insofern, als dass wir es immer je mit verschiedenen Einrichtungen, Institutionen, Verlagen und Veranstaltern mit je eigenen Programmen und Zielen zu tun haben, die nicht zwangsläufig untereinander abgesprochen sind.
Aber es scheint so etwas wie überregional geteilte Geisteshaltungen zu geben, und Einzelinteressen-unabhängige Mechanismen³, die einander ähnelnde Bedingungen für Autoren erzeugen.
Das erste Essay des Ma[ra] Gen[schel] Material-Bandes, erschienen beim Verlag Reinecke &Voß, thematisiert solche Strukturen und führt Mara Genschel als Autorin ein, die diesen „Literaturbetrieb schwänzt“. Genschel stellt ihre Lyrik-Hefte selbstständig her und vertreibt sie zum Unkostenpreis. Sie betrachtet den Buchmarkt als „Affirmationsmaschine“, in der Autoren dazu genötigt sind, vermarktungsfähige Produkte anzubieten und sich selbst als Marke oder Maskottchen zu inszenieren, wollen sie in der Öffentlichkeit Anerkennung für ihr Schreiben finden. Viele Künstler machen das zähneknirschend mit. Manche dulden dann aber auch keine Kritik am Betrieb. „Unzufriedenheit zu äußern, oder überhaupt zu empfinden, kommt der Einsicht ins partielle Scheitern gleich. Gewinn oder halt die Klappe.“⁴ Überkonformität nennt man das Phänomen wohl im Bereich der Wirtschaftssoziologie. Also die von Statusangst geprägte, übermäßig korrekte Erfüllung der von außen an einen heran getragenen Rollenerwartung. Dass man laut Bertram Reinecke kaum auf einen „bedeutenden Lyriker [trifft], der nicht sehr umgänglich [ist]“, kann als Symptom dieser Zusammenhänge gedeutet werden. Genschels Haltung ist unmittelbar politisch.
Die kritische Einstellung gegenüber dem Buchmarkt zeigt sich auch in ihrem Umgang mit seinem Produkt: dem Buch. Seine vermeintliche Unberührbarkeit wird in Frage gestellt. Die Referenzfläche (so heißen ihre Lyrik-Hefte) wird charakterisiert als Fortsetzungswerk mit Kleinstauflagen von 50 Exemplaren, in denen an der eigenen Dichtung mit “Tesafilm, Fremdtext, Tinte und Edding“ Eingriffe vorgenommen werden. Sie ist kein abgeschlossener Gedichtband, lässt sich aber trotzdem „bequem ins Regal stellen“. Das poetologische Konzept dahinter ist „Nachbereitung und Übergriff auf vermeintlich stabilen Text … der schwarz/weiß Branche als Vertriebs- und Verbreitungssouverän“.
Man denke nur daran: Bücher bilden scheinbar geschlossene Einheiten und werden als Ware behandelt, bei welcher der materielle Wert im Vordergrund steht. Zur Lektüre-Etikette bei Leihexemplaren gehört, dass man sich keine Notizen mit Kugelschreiber oder Schokoladenflecken machen darf – Antiquariate bestimmen den Wiederverkaufswert von Büchern vor allem anhand ihrer Benutzungserscheinungen. Genschel klebt, streicht, schwärzt, ergänzt ihre Texte und krakelt mit Stiften auf den Seiten herum.
Ein bisschen klingt auch die Identitätsfrage an. Dank der technischen Reproduzierbarkeit durch den Buchdruck sind Bücher zumeist nur Kopien oder „ausgelagerte Stellvertreter“ einer (lektorierten) Textversion, Genschel hingegen erstellt nur Originale. Vor dem Hintergrund der Vervielfältigungsbranche, bei der Bücher dank mangelnden Kaufinteresses zu tausenden in Lagern vor sich hin rotten, um dann verramscht zu werden, ist Genschels Herstellungsverfahren auch ökonomischer Natur. Sie möchte aber explizit keinen „bibliophilen Pathos“ erzeugen, trotzdem die Referenzfläche dank der Herstellungsweise natürlich aus einer Reihe von Unikaten besteht.
Die Referenz in Referenzflächen enthält wohl mindestens zwei Bedeutungsebenen: „jemandem eine Referenz erweisen“ und „auf etwas referieren“. Konkret wird das z.B. auf einer Doppelseite der Referenzfläche 2# 41/50. Sie ist überschrieben mit „ERHABENES für G. Falkner“ - mit G. Falkner ist wahrscheinlich Gerhard Falkner gemeint. 2008 erschien seine „Hölderlin Reparatur“. Eine der Fragen seines Gedichtbandes lautet: „Welche Möglichkeiten des sublimen Sprechens gibt es heute?“ Antwortet Genschel vielleicht auf diese Frage? Die Doppelseite enthält zwei Streifen Tesafilm, die unregelmäßig gefaltet eingeklebt sind, und damit eine Erhebung (etwas Erhabenes!) bilden, fährt man mit den Fingern darüber. Da sich die zwei Streifen in einem Lyrikheft befinden, lassen sie sich vor diesem Bezugssystem als Gedichtzeilen deuten. Der Beitrag von Meinolf Reul zieht an dieser Stelle Parallelen zu Christian Morgensterns „Fisches Nachtgesang“: wenn diese Längen- und Kürzezeichen als Verse verstanden werden können (nämlich lautloses Sprechen), dann können auch zwei Streifen Tesafilm Verse sein. Reul erinnert auch an Mallarmé: „Verse werden nicht aus Ideen gemacht, sondern aus Wörtern“. Alles Referenzen, die mitgedacht werden können. Sie machen deutlich, dass Mara Genschel der Schalk im Nacken sitzt. Ann Cotten spricht in ihrem Essay auch von: „Blödeln mit klarer Stimme“. Gleichzeitig stellt dieser Humor aber auch eingespielte Rezeptionsgewohnheiten in Frage.
Da Lyrik ohnehin ein Nischendasein fristet, bei der Bände mit Auflagenstärken von 500 Exemplaren schon als Bestseller gelten, könnte man meinen, dass Genschels ungewöhnlicher Zugang wenig Beachtung findet. Tatsächlich gibt sie aber im Gespräch mit Luise Boege und Martin Schüttler zu, längst mit der Eigenproduktion der Nachfrage nicht mehr hinterher zu kommen.
Dieses Gespräch bildet übrigens zusammen mit Einzelbeiträgen von Ann Cotten, Michael Gratz, Bertram Reinecke und Meinolf Reul, nebst einer kleinen Auswahl an Werkbeispielen, den Materialband. Übersetzt heißt das: es interessieren sich sowohl Lyrik- und Prosa-Autoren als auch Verleger, Literaturwissenschaftler, Buchhändler und Musiker für Mara Genschels Werk. Wieso Musiker?
Vor einigen Jahren hat Genschel noch andere Lyrik gemacht. In dem Beitrag von Michael Gratz erfahre ich, dass die Gedichte vom ersten Band „Tonbrand Schlaf“ (März 2008) von starker Musikalität geprägt sind. Gratz untersucht im literaturwissenschaftlichen Zugriff die Zusammenstellung der verwendeten Wörter auf ihre Klangqualität und stellt fest: „mit Assonanzen [kann man] weit subtilere Musik machen als mit schmetternden Paar- oder Kreuzreimen. Mara Genschel radikalisiert diese Technik, indem sie überhaupt keine Endreime verwendet, auch nicht als Assonanz (…) Stattdessen setzt sie [hier] die vokalisierende Reimtechnik als durchgängiges Gestaltungselement im Versinneren ein, mit erstaunlich musikalischen Wirkungen.“:
Bin implodiert hier Freunde, | eingenistet
in dies Fest ganz | mein sinkt weiche Si-
nus | wellen tief tief zahme | Zahnbeats
knistern | Schauder, schaut | in meine
Brüste: | Herztonhalle singt | No-Input
Mischpult | spricht so taucht mich | tief
in dies Geräusch | vermisst mein Stimm-
band, | misst verstärkten Laut.
Die Klangkomposition der Texte müsste den „dafür sensiblen Leser“ eigentlich nötigen, „die Zeilen wenigstens im Geist fast zu singen“. Gratz weiß, dass Genschel ausgebildete Musikerin ist, und vermutet, dass ihr deshalb die „bei Dichtern verbreitete Scheu vor Experiment, Struktur, Werkstatt“ fehlt.
Seit damals hat sich Mara Genschel mit ihren Referenzflächen radikalisiert. In einer Weise, die sie für Michael Gratz in eine Reihe neben die Radikalentwürfe von Ann Cotten (Florida-Räume) und Gerhard Falkner (Hölderlin Reparatur) stellt.
Ihren Zugang zur Musik hat Genschel aber nicht verloren. Mit dem Komponisten Martin Schüttler arbeitet sie öfter zusammen. Im hinteren Teil des Bandes finden sich bisher unveröffentlichte Gedichtmontagen, die aus Material theoretischer Texte des Komponisten zusammengesetzt sind.
(…)
schöner leben ist Musik über art'
[ifizielle Authentizität]
Komposition zum Zweck ihrer Erkenntnis.
(…)
Sie zeigen den Versuch, „das klassische Rollenmodell der vertonten Lyrikerin zu untergraben“. Hier vertont die Lyrikerin den Komponisten.
Mara Genschel ist eine ungewöhnliche Autorin – der Magen Material-Band ermöglicht einen reflektierten Einstieg in ihr Schreiben, Denken, ihre Poetologie.
¹ http://www.literaturport.de/preise-stipendien/preisdetails/die-novelle-zeitschrift-fuer-experimentelles-6/
² http://www.literaturport.de/preise-stipendien/preisdetails/20-muenchner-kurzgeschichtenwettbewerb/
³ Beispielsweise sind Literaturhäuser oft gezwungen, bei Kulturämtern oder Privatfirmen um Gelder zu bitten, wollen sie eine Lesung finanzieren. Die Misere des Abbaus der Kulturförderung pflanzt sich bis zum Autor fort.
⁴ Zitat von Mara Genschel auf lyrikkritk.de (in „spaß und panik“, unter „Ärgert euch!“)
(Bertram Reinecke:) Ma[ra] Gen[schel] Material. Leipzig (Reinecke & Voß) 2015. 100 Seiten. 12,00 Euro.