Direkt zum Seiteninhalt

Lutz Steinbrück: Kennzeichen BRDDR

Gedichte > Zeitzünder
Lutz Steinbrück

Kennzeichen BRDDR


Abgleich ab ans Fließband Klassenfeindbild-Produktion auf Hochtouren muss laufen mitlaufen parallel begehrte Westpakete wer schikaniert hier wen beim Versagen der Staatsorgane warum nicht einmal grenzenlos zeigen Sie Haltung die Ihnen zugute kommt geben sich zeitgemäße Formen manchmal braucht es kein Raunen sondern Ruck mit Knüppel aus Geldsack nehmt schon die paar D-Mark ein kleines Vermögen wir freuen uns wie unerzogene Kinder sind wieder wer aber wer und woher und wohin wessen unser ist jetzt nochmal dieses Wir? Es taumelt überhöht in ewigen Abgrund eine Wolkenlandschaft blüht gemeinsam unverdächtig dürfen uns spiegeln an Wagner, Goethe, Siegfried, einmal Kopfsalat mit Nietzsche und Ei, Willy Brandt und Kohl im Zweiertakt-Motor der auf Kommando überwältigt dieser Himmel endlich unser oder nicht? Glaubst du diesem Horizont? Zu welchem Preis verdienste dir 'n Einheitslohn? Im Unvertrauen: Ich ausrangierter “Held der Arbeit” habe mich an Fremdschemen gewöhnt

Erinnere mich an groben Schnitt durchs Urkorn dein VEB mein Made in Germany die Grenzen in der Luft greifbar meine Scheibe für mich mit Riss in der Rinde auf dem Küchentisch ein Blick zurück nach '45: die Oma schwitzt im bösen Traum hart gegen sich selbst überzeugte Mutter Genossin Trümmerfrau war Scholle komme was wolle tat was geboten für die Kinder unter Schmerzen und Leid ihr Schweigen verurteilte andere mit zum Tode sie setzt es in Marsch bis es sich verliert in pflichtschuldiger Unschuldsmiene auf den Aufbau konzentriert hier treffen sich Ost und West arbeiten an neuen Mythen zurück in die Zukunft auf in den Wohlstand die Rollenbilder klar verteilt wie gewohnt

1990 neues Deutschland: Männerfußball-Weltmeister – Jubel, Trubel, Weiterkeit – ein Auf- und Abgesang mit fliehenden Fahnen für neue alte Musterfarben wieder Abbau wieder Aufbau wieder Einbau ein Dach ein Haus ein Einheits-Chor hallt nach: Versprochen ist versprochen... zwei Länder nehmen Abschied von sich selbst da tritt meine Großmutter aus dem Küchenlicht vor die Kamera ihr Gesicht erhellt erzählt von ihren Träumen ich höre sie husten erkenne sie wieder es ist ihr letztes Jahr die Krümel auf dem Teller versprengte Trümmer aus denen Rauch aufsteigt im Kopfkino stand ihr Bett in Flammen (noch ein Jahr bis Hoyerswerda, zwei bis Mölln und Lichtenhagen, drei bis Solingen, der NSU-Prozess in weiter Ferne) bis zuletzt bleibt meine Oma in Vorstellungen gefangen kaut mühsam an Wahrheiten ihrer Geschichten wieder und wieder in Endlosschleifen holen sie Erinnerungen heim zurück auf Start die Stunde Null blieb Illusion vergeblich mit dem Kehrblech in der Hand ein Bild von ihr als Bruchstück einer Erzählung von Geschichte gespickt mit überlieferten Körnern im Kern bleibt schwarzer Teig schmeckt sauer wie zu weiße Milch zugrunde verschüttet den Boden gewischt wofür steht sie damals wie heute? Verkaufe den Menschen erhebende Gefühle so billig wie möglich dann kriegst du sie klein als Teile eines großen Ganzen die Bewohner zweier Staaten rücken zusammen an eckig-braunen Stammtischen mit schwarz-rot-goldnen Decken zerbrochnem Brot die Sorgen ins Bierglas hier bleiben viele unter sich und reden übereinander als ob

Zwischen betonierten Löchern klafft eine Lücke    Millionen gingen in den Westen Milliarden in den Osten wertverlustige vom Geld Getriebene fallen sich in die Arme wie unverhoffte Kursgewinner übereinander gestapelte Begehrlichkeiten fingern nach der Glücksspirale –  investieren Sie sofort in aufgeschreckte Liegenschaften bringen Fassaden zum Glänzen im Dorf herrscht kollektive Arbeitslosigkeit wo Vater Staat allmächtig war keine Widersprüche duldend über uns gewacht wir waren sowas von in Sicherheit verwahrt doch aufgehoben und versorgt für einen anderen Preis von Unfreiheit als jetzt sind aus treuen Händen abzugeben an eine neue Zeit auf Rechnung aber bitte und Danke hier bin ich Kunde darf ich sein eine Hymne aufs Begrüßungsgeld die ersehnte Reise nach Paris doch schon wieder sind es die da oben die alles für mich regeln so bin ich's gewohnt mein Betrieb ist abgewickelt mein Fußballklub bleibt wenn der nächste Konzern verschwunden ist ein neuer Identitätshalt lässt auf sich warten das Kennzeichen als Wappen, Konstante und Trost auf leergefegten Durchgangsstraßen habe diesen Ort verlassen ab in die Stadt das Kaltland blieb zu dunkeldeutsch die Jalousien dahinter die Münder geschlossen mit Schlagbäumen darin im Anschlag die fielen ihnen reihenweise aus den Augen  

Und wer gehört zu deinem Wir? Der kalte Krieg weht nach die Cliquen bleiben unter sich jede glaubt nur eigenen Geschichten so bleibt's gemütlich in Spannungsfeldern zwischen Verklärung und Verachtung kaum Platz im Eintopf der Befindlichkeiten sage “Stillgestanden”, “Weitermachen” statt “Aufarbeiten” die Familienaufstellung haben wir uns erspart sind mehr als provisorisch eingerichtet neben dem Nachbar-Michel (allzeit bereit Alarm zu schlagen) ganz zu schweigen vom Bürgerwutbauch auf alles was nicht passt in Schwarz-Weiß-Bilder von Welt – wer einen Schnappschuss dieser Ängste will soll dafür zahlen (Kamerad, du kommst mir nicht ins Haus) die alte Tante BRD ertränkt Westalgie in Wermut die Schere im Kopf kriegt sie einfach nicht zu fassen ihre Schwester kennt sie kaum wieder


Aus der Veranstaltung "Wir sind ein Volk ?!" im Literaturhaus Berlin am 4. September 2019.
Zurück zum Seiteninhalt