Lutz Steinbrück: Haltlose Zustände
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Matthias Weglage
Lutz Steinbrück: Haltlose
Zustände. Berlin (Klak Verlag) 2020. 132 Seiten. 15,00 Euro.
Seelennotate mit
Politikbiss
Zu Lutz Steinbrücks Gedichtband „Haltlose Zustände“
Nichts ist beklemmender, als in einen vollbesetzten Bus zu
steigen, in dem es keine freien Sitzplätze mehr gibt, überall die Haltegriffe
fehlen und das Ziel der Fahrt ungewiss bleibt. Der Passagier schwankt mit den
Massen hin und her und droht hinzufallen, gottseidank kann ihm sicher sein, dass
er weiter von der Menge mitgezogen und gedrückt wird. Er kann gar nicht
aussteigen. Aber warum fährt der Fahrer eigentlich viel zu schnell? Und kann
man überhaupt je irgendwo ankommen? Solcherlei Atmosphärisches suggeriert der
Titel des neuen Gedichtbands von Lutz Steinbrück: es herrschen haltlose, ja
apokalyptische Zustände, der Ausgang der Geisterfahrt ist ungewiss. (Haltlose
Zustände, Gedichte, Klak-Verlag 2020).
Ein wichtiges Grundmotiv der Gedichte Steinbrücks ist die
Totalurbanisierung unseres Lebens. Die Gesellschaft ist abgestimmt auf
flimmernde Mechanismen, die sich mit Begriffen wie Kommerzialisierung und
Technikversessenheit umschreiben ließen. Viele Gedichte Steinbrücks erinnern
mich an die evokative Kraft urbaner Szenen in den Fotografien Edward Hoppers,
wo die Todesstarre kleinbürgerlicher Idyllen plötzlich evokative Kraft annimmt.
Dem Menschen sind nischenhaft nur beklemmend kleinste Gefühlsräume gegönnt. In
diesem Kalkülgewebe kann der Mensch nur schwer überleben. Vom Kleingartenidyll,
dem Firmenurlaub, den egophonen Gemütslagen defekter zwischenmenschlicher
Beziehungen bis zum erkrankten Deutschland-körper und überhaupt fehlenden
universellen Narrativen: alles ist erkrankt an den Simulationen und gefälschten
Sicherheiten einer totalkommerzialisierten Glückswelt, in der es nur eines
nicht mehr gibt: Naivität. Und in der ein anderes mächtig regiert: das Geld.
In einer dröhnenden Anti-Hymne auf den „Allmächtigen Markt“
heißt es: „Dauerschleifen der Marketing-Armeen halten Gier stabil/ Allmächtiger
Markt unser täglich Fleisch gib uns heute/ lass uns billig buchen und leasen
und träumen nach Süden/ mach dass dieser Planet nicht platzt noch fühlen wir
uns nicht zu eng/ noch glauben wir dir Allmächtiger Markt glauben dass dein
Wachsen/ unser ist dass unsere Kinder weiterwachsen und eines Tages fliegen/
können.“
Aller Wachstum ist trügerisch und scheinhaft, dies Fliegen
kann nicht der ikarische Traum vom besseren Menschen sein. Ganz ähnlich
anti-hymnisch wird in dem anderen Gedicht „Über Transatlantik-Brücken“
farcenhaft die Geldliebe als Gott persi-fliert: „mein Ex-Lieblingsgott ein
Weltmarktführer/ appelliert aus Anzug an Milliarden/ intime Echos raunen durch
den Speicher/ ein Bad in der Menge der Scheine// seid umschlungen wie zärtliche
Krawatten/ so weiblich du Vater so liebevoll dein Streicheln/ will stofflich
sein aus einem Stoff unendlich/ durch-zuckt von wechselwarmen Hemdhandschlägen//
zeigst dich meist als ein Er und schwebst/ behauptetes Amen aber sicher/ spende
bitte spende deinen Segen/ lass gute Noten regnen auf mich herab// habe schief
im Chor besungen/ dein Wille sei meiner/ unser Himmel ist geladen/ nenne dich
Daddy klingt vertrauter//..“
Das merkantile, bürgerlich-begehrliche Getriebensein macht
das Leben schattenhaft und imitathaft. In anderen, schwieriger zu lesenden
Gedichten beschreibt Steinbrück das von Mechanismen des Kalküls und der
Geldgier durchgetaktete Leben schlicht als Fake. Etwa in dem Gedicht “Meine
billigen Ichs, verstopft“: „mit stereotypen unerlaubt/ verhaftet in
Klischee-verdachts-/ momenten auf der Suche nach/ griffigem Licht// fand
Fragmente in Lautschrift/ löste Schatten aus der Wand/ verlängerter Atem der
Sonne/ ein Gesetz als kaltes Handtuch.“ Der Mensch muss sich damit arrangieren.
Er hantiert mit Fragmenten, sucht nach Auswegen, nach greifbarem Lichtersatz.
Und: „...eingewachsene billige Ichs/ mit geschlossenen Augen/ projizierte
Höhlenbilder/ konstruieren innere Ordnung/ unfassbarer Einzelszenen“.
Das Gedicht spielt auf das bekannte platonische Höhlengleichnis
an. Der Mensch sondert sich Sinnfragmente aus der Höhlenwand. Die Schatten, die
das Licht an die Höhlenwand wirft, sind jedoch Ersatzbilder. Im Gedicht „Ich
ist ein Säugetier“ wird die Frage nach der Identität des Ichs damit
beantwortet, dass es ein „Brutstück“ ist, das „Bedienungsanleitungen
durchläuft“. Die Seele ist High-Tech. Das Ich überlässt die „Verwaltung der
Atome Datenwolkenschiebern“. Das Ich ist „irgendein Arbeitsplatz, es ist „Teil
einer Fernsprechanlage“, ein „stimmloser Laut im Rudelwahn“.
Diese düstere Grundstimmung geht Steinbrück in immer anderen
Aspektierungen an. Ein Gedicht beschreibt die Rasanz der urbanisierten Welt:
„Das Leben ist eine Autobahn“. „Das Leben ist eine Autobahn/ in asphaltierter
Strömung// fragen mich verglaste Käfigaugen:/ Schenkst du mir einen festen
Horizont// so gut wie überholt/ hältst du dein Revier auf Kurs// linke Spur,
Impulse setzen treten treten/ Ja! So sehn‘ Sieger aus, wir wolln‘ Mannschaft
spürn'// zurück auf Super 8 ins Kindchenschema/ das Dreirad, der Roller, die
Stützpunkträder“. Das Gedicht spiegelt die Beschleunigung wider, von der die
modernen Industriegesellschaften angetrieben sind und bei der das Ich ständig
wie auf der linken Überholspur fahren muss, um mit verzweifelten Manövern Sieger
bleiben zu können. Oder lässt er bei den Überholmanövern den eigentlichen
Menschen rechts liegen? Denn der behält nur Käfigaugen für seine eigentlichen
Lebensperspektiven, er bleibt ein Gefangener. Das suggestive „setzen treten
treten“ deutet auf das Gewalthafte der beschleunigten Bewegung. Wenn das ganze
Leben zur Autobahn geworden ist, ist es erfüllt von zweifelhaften Siegen. Das
Gedicht gehört in den Zyklus „An Horizontenden“. Kann der Stereotypenmensch
überhaupt noch Horizonte haben?
Auch die Liebe ist zur Apokalypse geworden. Es herrschen
Halbwahrheiten statt echter Gefühle. In dem Gedicht „Liebling, unser
Beziehungsdesigner ist urlaubsreif“ heißt es: „mein indoor-Atlas misst defekte
Gemütszustände/ / laufe im Ticker meines Flatscreens auf und ab/ schenke dir‘ne
App zum Schrumpfen von Halbwahrheiten...“ Das Ich kommuniziert über Apps und
misst die Gemütszustände des Partners. Vielleicht würde eine bessere App
helfen? Resignativ heißt es: „unser Zeitalter eine Fälschung alle Komplimente
abgefischt“.
Viele Texte schwingen in dieser Grundstimmung. Sie sind
mainstreamkritisch und stark reflexiv. Der Philosoph Herbert Marcuse sprach
bereits vor Jahrzehnten von der „totalen Mobilmachung der
monopolkapitalistischen Epoche“, die zur Selbstzerstörung jeder Kultur führt.[1] „Eben
weil die Seele jenseits der Ökonomie lebt, kann die Ökonomie so leicht fertig
mit ihr werden.“ Den Begriff der totalen Mobilmachung, den Ernst Jünger noch in
bejahender Absicht auf die Beschleunigungsgesetze der Industriegesellschaft
angewendet hatte, nutzte Marcuse in kritischer oder kulturpessimistischer
Absicht gegen die ökonomische Warengesellschaft. Auch die Glücks-ansprüche des
Individuums sind in Frage gestellt oder in spätkapitalistischen Gesellschaften
gar nicht mehr einlösbar. Genuss und Glück können nur noch pervertierte Formen
zeigen.
Steinbrücks Gedichte sind politisch auf dieser tieferen
Ebene. Steinbrück hat über Brinkmann seine Magisterarbeit geschrieben, er hat
seinen Weg aus dem quirligen Berliner Lyrik-Untergrund mit seinen Lesebühnen
und Bars genommen. Das Gedicht „Social beatland“ erweist der Bewegung
vorsichtig noch Reverenz mit dem Bekenntnis zur „dritten Generation“. Das
Vokabular der Gedichte liegt zwischen Zeitkolumne und Prosagedicht. Die
Sprachgeste wirkt hier und da und anders als bei Brinkmann mit etwas gesuchter
Metaphorik ein wenig sophisticated (zum Beispiel in „Intimes Archiv“:
„auch dir legte Vater ein Auto in den Mund...“). Es sind kühle, sezierende
Seelennotate, die zeitgeschichtliche „Verortungen“ enthalten– so auch der Titel
des letzten Zyklus aus dem Gedichtband, der Spaziergänge durch brandenburgische
Dörfer enthält. Etwa in dem Gedicht „Schloss Freienwalde, Kriegszustände“
„windberauscht die schiefen Bäume/ in Reihe gepflanzte Gefangenen-Gräber/ die
Äste knirschen über dem Laub/ von traurigem Ernst umwölkt// Woher nimmt
diese Zeit noch den Mut,/ von Entwicklung, Zukunft und Zielen zu reden?/ sie
weiß nicht, wo sie steht, und sie will nicht/ wissen, wohin sie fährt//“
Die Fahrt geht ins Ungewisse. Steinbrück montiert ein Rathenau-Zitat in sein
Gedicht und erinnert noch einmal an den Titel des Gedichtbands.
Was fehlt in den Brandenburg-Gedichten, ist freilich gerade
das, was der Berliner am meisten im märkischen Umland sucht: Natur, es gibt
keine Naturgedichte im klassischen Sinn bei Steinbrück. Wie auch die
ästhetische Dimension des Gedichts vielfach zugunsten der
gesellschaftspolitischen aufgeopfert scheint. Ein zu hoher Preis? Vielleicht.
Jedenfalls sind die Gedichte keineswegs leicht lesbar, man muss sie sich
häufiger vornehmen. Das Schöne ist korrupt, die Landschaft ein Strichcode an
der Ware,[2]
die Natur ein Reservat für erschöpfte Manager geworden. Doch man kann förmlich
beobachten, wie sie es schaffen, klischeebeladene Naturbilder beständig
umzu-formen und neu zu gestalten: aus Apfelbaumliebe wird „Ampelbaumliebe“[3],
aus dem Antennenhorst ein „Antennenhost“[4],
aus Liebesgefühlen ein Beziehungsdesigner, Gott ist ein Weltmarktführer, der
„gute Noten“ vom Himmel herabregnen lässt. Blumen sind „Plastikblumen, die sich
in windigen Tagträumen von Photosynthese in Sicherheit wiegen“ (aus: in medias
naturas, Fluchtpunkt. Perspektiven 2008). In gewisser Weise versuchen die
Gedichte aus dem Verlust Kapital zu schlagen – wäre nicht diese Metapher gerade
in dem Zusammenhang unpassend. Sie arbeiten daran, Erfahrungen freizulegen.
Wie sie dekonstruieren, kann man an einem Gedicht wie
„Mitschnitt“ studieren: „das große Wasser ohne Claims/ eine Vision abfallender
Gischt// im Taumel meiner Ländereien/ komme ich überein// mit bewegten
Änderungen/ die Schlupflöcher durchnässt// mein See am Morgen: klar/ da könnte
doch etwas mehr Licht// aus diesem Wasser da/ könnte doch ein Stück der See
sich öffnen//“ Eine simple Naturszene wird uminterpretiert und neu
versprachlicht. Ein See am Morgen: das Wasser ohne Claims, ohne Werbeslogans,
der bis tief ins Mark der Einzelexistenz hineinwuchernde Krebs der
Marktwirtschaft gibt für Momente einen nackten Naturkörper frei. „mein see am
Morgen: klar“. Klar, das bedeutet, kein Wollen mehr, kein Bezahlen, keine
Geldwirtschaft. Ein herrschaftsfreies Nichts, in dem sich für Momente die Natur
in einem hergebrachten Sinn auftut.
Die Texte versuchen, die Zeit „in Zeitlupe gebannt“ zu
bekommen (aus: Meine billigen Ichs, verstopft). Ich sehe Steinbrück nicht als
Kulturpessimisten. Die Gedichte besitzen sogar eine vorsichtig optimistische
Gesinnung. Denn vielleicht ist die Sonne ja nicht nur eine käufliche
Riesenglühbirne, sondern ein „Halbgott“ (aus: Von langer Hand). Hier und da
blinzelt ein freundlicher Lichtschein in die Texte herein. Sie wollen sich nur
nicht in die Motorik der Kalkülgesellschaft einfügen. Sprache kann dem
Widersinn widerstehen.
Mit dem Rathenau-Zitat in dem Gedicht ist der
zeitgeschichtliche Rahmen abgesteckt. Rathenau war ein Politiker und Publizist
der Weimarer Zeit, eine Symbolfigur für die gefährdete Republik. Er wurde Opfer
eines heimtückischen Anschlags auf die Demokratie. In Bad Freienwalde hatte
Rathenau sich ein kleines märkisches Herrenhaus als Refugium zum Schreiben und
Malen in den Sommermonaten gekauft und für sich umgestaltet. Hier werden auch
Steinbrücks Verse auf den ersten Blick etwas entspannter, doch auch sie malen
das Bild von einem Toten. Rathenaus Augen glitzern im Schnee. Das „friedliche
Weiß, das den Horizont lichtet“, entsteht in der „Stille nach den tödlichen
Schüssen“. Es ist der Schnee des Vergessens, gegen den diese Verse anschreiben.
[1] In dem
Aufsatz „Über den affirmativen Charakter der Kultur“.
[2] Vgl.
das Gedicht „Geschäftsidee“ bereits aus dem ersten Gedichtband „Fluchtpunkt.
Perspektiven“ (2008).
[3] In:
„Klares Motiv“.
[4] In:
„Ausgeblendet“.