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Luis Chaves: Während ich aus den Minusgraden zurückkehre und eine beiläufige Bemerkung vortäusche

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Timo Brandt

Im Vorbeiziehen: Hitze und Kälte, Moment und Erinnern, Abstand und Bewegung



„Du wolltest Fotosynthese?
Hier scheint die Sonne.
[…]
Es ist die Sonne, schwergängig wie das Gaspedal
[…]
Nur das Anfassen von Metall
bringt Kühlung.“


Der Band Während ich aus den Minusgraden zurückkehre und eine beiläufige Bemerkung vortäusche ist eine Auswahl der Gedichte und Kurzprosapoeme des costa-ricanischen Dichtes Luis Chaves aus den Jahren 1997-2016. Die Ausgabe ist so strukturiert, dass man mit einem bis dato noch unveröffentlichten Gedicht beginnt und sich dann über Texte aus den Publikationen Iglu (2014), Reiterstandbilder (2011), Asphalt, ein Roadpoem (2006) und Chan Marshall (2005) zu ein paar wenigen Texten aus den frühen Publikationen Polaroidgeschichten (2000) und die tiere, die wir uns vorstellen (1997) in der Entstehungsgeschichte zurückbewegt.


Dieses in-der-Zeit-Zurückgehen passt sehr gut zu dem nostalgischen Klang vieler Gedichte, ihrem Versuch, eine Art von Slow Motion durch das poetische Ablichten zu erreichen; einen Raum zu erschaffen, in dem die Erinnerung länger wirken kann, breiter, tiefer und sich beinahe selbst reproduziert.
    Ein weiteres Motiv, was gleich zu Anfang ins Auge fällt, ist die Dualität Hitze-Kälte. Schon in den Titeln („Minusgrade“, „Iglu“) spielt sie eine Rolle, aber auch ansonsten blitzt in den neueren Gedichten immer wieder ein Gegeneinandersetzen, aber auch ein Verschmelzen dieser Begriffe auf. Dadurch bekommen manche Gedichtverläufe etwas Schwankendes, Flirrendes und entziehen sich chronologischen Abläufen, fördern das Diffuse.


„Das Foto, auf dem sie auf ewig nicht ihn anblickt, der sie umarmt, sondern den Unbekannten, der es schoss.“

Inhaltlich dominiert vor allem aus dem Leben Gegriffenes. Der Ausgangspunkt der Texte, ihrer poetischen Erörterungen, ist oft ein Moment, in dem das lyrische Ich seine momentane Tätigkeit oder seinen Aufenthaltsort zu transzendieren beginnt – Thema kann ein Umzug sein, ein Ausflug, ein auf der Bettkante Sitzen, die Betrachtung eines Fotos, eine Party, ein Familienereignis, eine Tankstellenszene. Natürlich nehmen diese Erörterungen sehr unterschiedliche Verläufe: es kann bei einer bloßen Skizze bleiben, einem Memo an das eigene Erleben, oder der Ton holt weiter aus, wird elegisch.

Überhaupt ist elegisch wohl kein schlechtes Wort, um das Wesen der Gedichte zu schildern, obwohl sie oft eine eher profane Gestik haben. Ich meine auch nicht spirituell oder überbordend elegisch. Mehr: alltäglich-elegisch.

„Das Unkraut wächst
wenn wir nicht hinsehen.
Und die Jahre mehren sich
während wir uns um das Unkraut kümmern.
Das zu lernen, hat uns mehr Zeit
gekostet, als uns lieb gewesen wäre.“


Ich muss zugeben, dass ich mich während der Lektüre (vor allem einiger längerer Gedichte), trotz der nicht geringen Zahl an gelungenen Verdichtungen, öfter etwas hingehalten vorkam. Als würden die Verse noch eine Runde drehen wollen, bevor sie mich einsteigen, mitfahren lassen. Oder als baute Chaves manche Metaphern nur vor mir auf, um weiter die Atmosphäre des Gedichts aufrechtzuerhalten.

Dieser Eindruck entsteht zum einen durch den oben angedeuteten Ansatz des Beliebigen, der manchmal eben erst nach einer Weile sich anschickt, sich auf eine Verdichtung zuzubewegen und sich kurzeitig schon mal in losen Aufzählungen ergeht. Und zum anderen durch einige langatmige und etwas umständliche Metaphern, wie etwa:

„im Lauf des Abends spannte sich der demokratische Bogen des Weins von einem 2004er Jahrgang bis zu Tetra Paks“


oder:

„und der Dominoeffekt der Reproduktion, materialisiert in jeden Mädchen, die sich nackt im Pool tummeln.“


Teilweise haben diese Metaphern einen eigenen Glanz (wie zum Beispiel bei dem Sonne-Gaspedalvergleich zu Anfang), eine krude Genialität, aber sie erinnern mich auch dann und wann an die Bildwelten der amerikanischen Dichterin Mira Gonzalez in ihrem Band i will never be beautiful enough to make us beautiful together (auf Deutsch 2015 im Hanser Verlag erschienen als Ich werde niemals schön genug sein, um mit dir schön sein zu können), die in ihrer Umständlichkeit etwas wirklich Bestechendes und Nachdrückliches, aber auch etwas von einer Antiklimax haben konnten, etwas Behäbiges.

Bei diesen Stilblüten (positiv und negativ) geht es natürlich auch um Versuche, zu einer besonderen Form von Anschaulichkeit zu gelangen – was eben manchmal bemüht, manchmal dynamisch, rasant oder astonishing wirkt.


„alle vier Monate
eingerissene Scheine
in der Hosentasche
die Sonne von einem flachen Planeten aus gesehen
die Sittiche des Monats
in dem wir die Waffen streckten
im Glauben, wir würden sie erheben.“


Eine zweite Sache, die Chaves und Gonzalez gemein haben, ist die sehr persönliche Färbung der Gedichte, bei der das Private immer mitschwingt, im Spiegelbild hinter dem lyrischen Ich auftauchend, das sich selbst betrachtet. Dieses Private ist in Andeutungen gehüllt; poetische Verweise, die wie Regungen scheinen, zeichnen es nach.

Öfters erscheint dieses Private übermächtig in dem Gedicht, eher selten wird es klar auf seinen Platz verwiesen, definiert und eingerahmt – was mir meist besser gefällt. Überhaupt sind die Gedichte meiner Ansicht nach dort am stärksten, wo sie den elegischen Ton und die gleichzeitige Unverfänglichkeit bündeln und ein Erlebnis wie eine Nebensächlichkeit schildern, um das aber eigentlich eine Erkenntnis kreist. Wie in einem der Texte aus Asphalt mit dem Namen „Shell Panorama“:


„findet er etwas, das Musik recht nahe kommt. Sweet Home Alabama. Er erinnert sich: Als Kind hielt er es für ein Liebeslied. Später lernte er Englisch und erfuhr, dass es ein Lied des Ku-Klux-Klans war. Jetzt hört er es mitten in der zentralamerikanischen Pampa auf Kurzwelle.
[…]
Die Frage ist:
Werde ich einmal so dumm sein
wie die Musik, die ich mag?“


Im Zentrum von Chaves‘ Lyrik sitzt die Resignation, die aber doch ständig aufhorcht, nachdenkt, sich umsieht – und dann oftmals wiederum resigniert und dabei noch hier und da eine kleine Epiphanie abzugreifen versucht.
    Sein Heimatland, Costa Rica, scheint nur selten explizit als Thema in seinen Versen auf, aber man ahnt, dass es die Grundlage der resignativen Tendenz sein könnte; was jedoch die genaue Grundlage für Chaves‘ Gefühl ist, ständig vom Leben überholt zu werden, ist schwer festzumachen.


„Wie können wir erraten
dass alles Teil desselben Gefühls ist?
Wie voraussagen
dass es keine flüchtige Empfindung ist“


Man kann durch Chaves‘ Gedichte hindurchgleiten, sie stoßen einen nie vor den Kopf, sind sanft, manchmal zu sanft in ihren Erhebungen, Kanten. So viel streift diese Gedichte, so viel streift das lyrische Ich darin, und es wird gesprochen von Hitze und Kälte, Schönheit und Scheiße, ohne dass man ein Aufwallen oder Fallen spürt – und vielleicht ist das der Clou: Chaves will keine große Stimmung aufbauen, weil er genau von den Stimmungen sprechen will, schlicht, nicht bemerkenswert. Vielleicht will er jene Momente und Tage schildern, an denen die Dinge so liegen, wie sie liegen, und man nur von der Irritation, der Dankbarkeit, der Verzweiflung ob dieses Zustandes sprechen kann.

„Das Rauschen der Dusche
hinter einer halbgeöffneten Tür
das Kartenrelief
zerwühlter Decken.“

„woher diese Stimme, die sagt:
Schluss mit dieser Zwiebel
an Stelle des Herzens.“



Luis Chaves: Während ich aus den Minusgraden zurückkehre und eine beiläufige Bemerkung vortäusche. Spanisch/deutsch. Übertragen von Timo Berger. Berlin (Verlag Hans Schiler) 2017. 184 S. 18,00 Euro.

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