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Lütfiye Güzel: selfklebend

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Gerrit Wustmann

Bedrohlich dunkle Herzen
Oder: Wie Lütfiye Güzel alle Konventionen unterwandert


Es gibt in der deutschen Literaturszene heute niemanden, der so konsequent alle Konventionen unterwandert, wie Lütfiye Güzel. Dass sie inzwischen nicht trotzdem, sondern genau deshalb Preise und Stipendien bekommt, spricht dafür, dass doch noch nicht alles verloren ist. Und dafür, dass es im Betrieb noch Akteure und gar Jurys gibt, die out of the box denken können. Diese Erkenntnis ist wichtig – und ohne Lütfiye Güzels Beharrlichkeit gäbe es sie kaum.

Zehn Lyrikbände hat sie seit 2012 publiziert. Aber was heißt schon „Lyrikband“? Es sind ja nicht nur ihre Gedichte, die überzeugen, weil jedes wie ein Schuss aus einer scharfen Waffe ist, Wunden hinterlässt, Narben aufreißt, weil sie dorthin geht, wo es weh tut – und weil das so gut tut in dieser Zeit des Angepasstseins, der Beliebigkeit, der Gefälligkeit, in dieser aalglatten Glitzerwelt der Oberflächlichkeiten.

Nein, der Grund ist auch die Form, mit der sie konsequent Formen bricht und all die ungeschriebenen Regeln demontiert und der Lächerlichkeit preisgibt. Was ist ein Lyrikband? Ein Buch (zwingend) mit, sagen wir mal, mindestens vierzig Gedichten. Das werden viele antworten. Publiziert von einem Verlag. Ziemlich genau so kam 2012 ihr Debüt „Herz-terroristin“ daher, und auch die beiden folgenden Bände „Let's Go Güzel!“ und „Trist Olé“. In der kleinen Dialog Edition, Duisburg. Danach war Schluss mit Verlag (also wirklich – mindestens von zwei Angeboten ziemlich renommierter kleiner Literaturverlage, die sie ausgeschlagen hat, weiß ich...). Fortan kamen die Bücher unter ihrem eigenen Label Go-Güzel-Publishing. Das achte, „Faible?“, ist ein Best of, eine umfangreiche Rückschau auf die bisherigen Publika-tionen. Und danach war auch Schluss mit Buch. Wer hat denn eigentlich gesagt, dass Gedichte in Buchform erscheinen müssen? In Printform, ja. Das ist Lütfiye Güzel wichtig. Obwohl sie einen Blog betreibt. Gedichte muss man nicht nur lesen, man muss sie anfassen können, am Papier riechen, Gedichte sind unbedingt etwas Haptisches.

Folgerichtig kam „Elle Rebelle“ als Loseblattsammlung in einer Papiertüte. Gedichte als Wegzehrung. Gedichte, die man einzeln weitergeben kann. Die man sich an die Wand pinnen, ins Portemonnaie stecken, um den Hals hängen kann. Gedichte als Flugblatt. Und jetzt? Der zehnte Streich heißt „selfklebend“. 19 Gedichte. 19 Aufkleber. Die Message ist klar: Hört auf, euch Gedichte ins Bücherregal zu stellen, nur um anderen mit eurer Belesenheit zu imponieren.

Alles Blödsinn! Gedichte gehören nicht ins Regal, sie gehören auch weder der Autorin noch dem Leser. Sie gehören der Welt, und dort sollen sie hin. Auf die Straße, an die Wände, raus, #şiirsokakta, das Gedicht ist auf der Straße, so heißt eine Bewegung in der Türkei, die aus dem Gezi-Aufstand von 2013 hervorging. Seither findet sich in Istanbul kaum mehr eine Wand, die nicht mit Gedichten beschriftet ist.

Eines davon könnte so lauten:
nachts auf dem weg zur leeren bushaltestelle

schaue ich nach links
& sehe den kindergarten
an der eingangstür
lauter herzen aus roter pappe
bedrohlich & dunkel
so als hätte man alle kinder
auf einen schlag entführt
am morgen dann
werden die lichter wieder
angehen
& die herzen wie harmloses
bastelzeug aussehen
aber ich werde nicht da sein
um nach links zu
schauen

Da ist sie wieder: Diese Melancholie, dieser unverstellte Blick für das Düstere im Alltäglichen, dieser unbedingte Wille zu sagen, was ist, und dabei den Blickwinkel zu verschieben. Es ist viel Innerlichkeit in Lütfiye Güzels Gedichten, viel Arbeit am offenen Herzen. Das trauen sich nur wenige: Sich in ihren Texten nackt zu machen, damit sie echt sind, anstatt mit formalen Spielereien zu punkten, die manchmal treffen, meist danebengehen. Mit so etwas hält Güzel sich gar nicht erst auf. Wozu auch? Sie fährt lieber im „geisterbahn-karussell“:

zwanzig neue bücher
in gepolsterten umschlägen
die klammern stecken
ihre köpfe
durch die beiden löcher
ich klebe die seiten
noch zu
bevor ich beschossen werde
von meinen eigenen organen

Dass diese Gedichte als Aufkleber daherkommen, diese Aufforderung will ich ernst nehmen. Sie sind nicht dazu gedacht, sie zu behalten. Fortan werde ich immer eins mit mir tragen. Und warten. Bis ich einen passenden Platz gefunden habe. Damit niemand, wirklich niemand mehr an Lütfiye Güzel vorbeikommt.


Lütfiye Güzel: selfklebend. 19 Gedichte. Duisburg (Go-Güzel-Publishing - lguezel@yahoo.com) 2018. 19 Aufkleber. 10,00 Euro.
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