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Ludwig Steinherr: Zweimal Rom

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Barbara Zeizinger

Ludwig Steinherr: Zweimal Rom. Novelle. München (Allitera Verlag) 2023. 109 Seiten. 15,00 Euro. ISBN 978-3-96233-418-5

Zweimal Rom, zweimal Rosen


Die »kleine Neuigkeit« geschieht gleich zu Beginn in Ludwig Steinherrs Novelle »Zweimal Rom«, als nämlich der Protagonist Clemens, ein Schriftsteller, vornehmlich Lyriker, im Gästehaus eines Klosters nach dreiundzwanzig Jahren seine ehemalige Geliebte Christina trifft. Das ist erst mal noch keine »unerhörte Begebenheit«, allerdings entwickelt dieses überraschende Zusammen-treffen eine Dynamik mit mehreren Wendepunkten, die schließlich in einem überraschenden Finale enden.

Vor dreiundzwanzig Jahren haben die beiden sich bei einer Romreise zum letzten Mal gesehen, wobei dieser »erste« Aufenthalt katastrophal verlief und das Ende der Beziehung darstellte. Inzwischen ist die Juristin Christina mit Mike, einem Professor für Erziehungswissenschaft verheiratet, hat zwei Kinder, obwohl sie damals keine Kinder wollte, und Clemens, der sich immer Kinder wünschte, blieb als momentaner Single ohne Nachwuchs. Beide legen Wert darauf, sich geändert zu haben, Clemens sei nicht mehr der damalige Clemens, Christina nicht die von früher. Für Clemens ist sie sowieso »nicht mehr Christina, sondern eine ganz fremde Frau, die er gerade kennengelernt hat.« Daher nennt er sie Lena, was er allerdings im Verlauf der Handlung nicht durchhält. So beginnt gleich zu Beginn das Spiel mit Identitäten, das den beiden eine gewisse Freiheit gibt. Während ihrer sogenannten Katastrophentour, d. h. die beiden besuchen alle Orte, an denen sie sich damals gestritten haben, ist bei Christina/Lena nämlich der Wunsch entstanden, mit Clemens zu schlafen, und als dieser mit Verweis auf ihre Ehe zögert, meint sie:

»Wenn wir miteinander ins Bett gehen, ist das sowieso Gruppensex. Lena und Christina und der alte Clemens und der neue Clemens. Vier sind da mindestens im Bett.«

Doch ehe es so weit ist, besuchen sie bei ihrer Katastrophentour die Epizentren ihrer Auseinandersetzung. Darunter die Piazza Navona, auf der die »Atombombe« explodierte, als Clemens nach diesem missglückten Urlaub Christina mit einer viel zu teuren Rose beschwichtigen will. Woraufhin diese in einer der dunklen Gassen auf Nimmerwiedersehen verschwindet.

Aus dem Vorsatz die Nacht miteinander zu verbringen, wird nichts, weil Christinas Ehemann Mike einen Tag früher nach Rom gekommen ist und sämtliche amouröse Absichten der beiden durchkreuzt. So geht es munter weiter. Alle Versuche Christinas, eine Möglichkeit zu finden, Clemens wenigstens kurz, sei es in einem Taxi, sei es in einem Park, näher-zukommen, scheitern, weil jedes Mal etwas Überraschendes geschieht, mit dem sie nicht gerechnet hat.

Wie beispielsweise, als Christina, Mike und Clemens (dieser gezwungenermaßen) beschließen, zu dritt Neros goldenen Palast, Domus Aurea, zu besichtigen und dort ein von Christina einge-fädeltes kurzes Tête-à-Tête mit Clemens von einem befreundeten Paar, Sabine und Leander, gestört wird.

Das Spiel mit den Identitäten ist nun auch für Clemens vorbei. Er hat sich wieder in Christina verliebt, braucht Lena nicht mehr.

»Christina! Liebste Christina!, denkt er. Christina, ich liebe dich so unendlich!«

Dies denkt er bei der Führung durch die eiskalten Gemäuer von Domus Aurea, bis er dort die eigentlich »unerhörte Begebenheit« erfährt. Als die Gruppe sich nämlich mit einer VR-Brille auf eine virtuelle Tour begibt, spürt er eine zärtliche Umarmung, Küsse, Streicheln. Er flüstert Christinas Namen, den von Lena.

»Doch es ist weder Christina noch Lena, sondern eine Unsichtbare, die sich jetzt immer weiter nach vorn beugt und seine Lippen unter der schwarzen Brille sucht.«

Wer war diese rätselhafte Unsichtbare? Eine Phantasiegestalt, aber warum behauptet Sabine, sie gesehen zu haben? Später wird er denken, dass seit dem Erscheinen der Unsichtbaren alles radikal anders sei.

Nach der Besichtigung beginnt ein sehr unterhaltsam geschriebener Nachmittag zu fünft, bei dem Leander, ein Professor für Latein ‒ tempus currit, tempus fugit ‒ für unfreiwillige Komik sorgt. Clemens allerdings ist traurig, verwirrt und auf Mike eifersüchtig. Er fühlt sich unwohl zwischen den Paaren, will, dass Christina offen mit ihrem Mann spricht. Am Abend in einem Restaurant überlegt er, er dürfe nicht alles Christina überlassen, müsse einen Plan haben, selbst handeln. Und das macht er. Auf einem der früheren Katastrophenorte, der Piazza Navona, läuft er einem Rosenhändler hinterher, gerät in eine Schlägerei, hat aber schließlich einen Strauß Rosen in seiner Hand. Dann wieder findet er es blöd, den Rosenkavalier zu spielen, will die Rosen wegwerfen. Das ist nicht das Ende, aber ein letzter, nicht erwarteter Wendepunkt. Wie dieser weitergeht, soll für diejenigen, die das Buch noch nicht kennen, hier nicht beschrieben werden.

Ludwig Steinherr hat mit »Zweimal Rom« eine raffiniert komponierte Novelle geschrieben, voller Überraschungen für Protagonisten und Leser, Leserinnen gleichermaßen. Außerdem ist das Buch ein kleiner Reiseführer, man muss nur die Spaziergänge nachlaufen, die Sehenswürdig-keiten betrachten und die von Mike und Leander empfohlenen Lokale besuchen.


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