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Ludwig Steinherr: Verona kopfüber

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Barbara Zeizinger

Ludwig Steinherr: Verona kopfüber. Novelle. München (Allitera Verlag) 2022. 112 Seiten. 15,00 €. ISBN 978-3-96233-329-4

Auch Platon hilft nicht weiter


Vielleicht ist es die berühmte »unerhörte Begebenheit«, die Ludwig Steinherr an dem Genre Novelle schätzt. Setzt diese doch etwas Unerwartetes in Bewegung, etwas, das die Protagonisten nicht mehr in der Hand haben. Wobei diese unerwartete Begebenheit meist weitere überraschende, rätselhafte Ereignisse nach sich zieht. So geschieht es auch in der Novelle »Verona kopfüber« von Ludwig Steinherr, bei der schon der Titel verrät, dass die beiden Protagonisten nach und nach die Orientierung verlieren.

Die ungeheure Begebenheit beginnt recht harmlos. Wie so oft verbringen die Philosophiedozentin Luisa und der erfolgreiche Anwalt für Baurecht Konstantin, sie sechsunddreißig, er dreiundvierzig Jahre alt, ein paar Tage in ihrer Lieblingsstadt Verona. Sie gehen spazieren, besichtigen Sehenswürdigkeiten, essen in guten Restaurants. Nie zuvor haben sie Verona ohne die siebenjährige Tochter Amanda (ihr gemeinsamer Glücksstern) besucht, und so verrät schon die erste Seite, dass mit ihrer Ehe etwas nicht stimmt.

»Sie lächelte Konstantin an. Ein Blick, wie um ihn zu beruhigen. Alles gut. Aber im letzten Moment schaute sie auch diesmal wieder knapp an ihm vorbei. Fast unmerklich.«

Alle Wege und Besichtigungen, die ganzen »Traditionen«, dienen nur dazu, Normalität zu spielen und unangenehme Gespräche zu vermeiden. Denn es ist offensichtlich, dass jeder der beiden sich in einer Krise befindet, ein Geheimnis hat. Schon früh fragt sich Konstantin, ob Luisa eine Affäre habe. Sie schläft nicht mehr mit ihm, klappt den Laptop zu, wenn er das Zimmer betritt. Deutlich wird es auch in der Metapher mit den Kugelmenschen, die Luisa in einem Seminar über Platons »Symposion« behandelt hat. Diese Kugelmenschen, die traurig und depressiv ihre andere Hälfte suchen, nachdem Zeus sie aus Ärger in zwei Hälften getrennt hat. Doch Luisa lässt das Fazit von Aristophanes nicht gelten, der meinte, das höchste Ziel des Menschen sei es, einen Menschen zu finden, »der unsere frühere Hälfte war und uns deshalb vollkommen versteht.«

»Es geht nicht darum, schmerzlos und glücklich durchs Leben zu kugeln. Man liebt den anderen nicht nur deshalb, weil man ihn braucht. Man liebt ihn für etwas Höheres.«

Konstantins Krise ist weniger philosophisch, hat aber dennoch unabsehbare Folgen. Eigentlich wäre er als Verantwortlicher in seiner Kanzlei für den Abschluss eines Millionendeals zuständig, könnte er seinem Kollegen wenigstens telefonisch oder per Mail helfen. Aber auch als die Sache schiefzugehen droht, wimmelt er ihn ab.

»Ich kann jetzt nicht. Das schaffst du allein. Mein Leben geht gerade in die Brüche.«

Seine Lebenskrise äußert sich darin, dass er angefangen hat, Gedichte zu schreiben, ein Schreiben mit Gedanken an den Tod. Diese heimliche Leidenschaft befriedigt ihn so, dass er anfängt, seine Arbeit in der Kanzlei zu vernachlässigen. Lusia zeigt er seine Gedichte nicht, weil er Angst vor ihren Erwartungen hat, die das Wunder verscheuchen könnten. »Und ohne dieses Wunder wollte und konnte er nicht mehr leben.«

Als im zweiten Kapitel, einem der Wendepunkte, Luisa einen Tag für sich allein haben will, beginnt, er ein Langgedicht über das Gemälde von Antonio Pisanello, »Madonna della Quaglia«, sein absolutes Lieblingsbild, zu schreiben, das für ihn so etwas wie ein Bezugspunkt in seinem Leben ist.

Dann überschlagen sich die Ereignisse. Da er glaubt, Luisa verbringe ihren Tag in Verona, macht er sich auf, sie in einer »Magical Mystery Tour« zu suchen, als sei das ein Spiel. Er glaubt, sie befinde sich an einem ihrer gemeinsamen Orte und wolle nur von ihm gefunden werden. In Wahrheit war sie nicht in Verona, sondern erzählt ihm von ihrem Liebhaber, mit dem sie seit zwei Monaten ein im Grunde unmögliches, schmerzvolles Verhältnis hat.

»Nichts von alldem verträgt sich mit mir und mit meinem Leben und mit allem, woran ich glaube. Schon gar nicht mit Platon. Es ist die Hölle. Und trotzdem. Und trotzdem kann ich nicht anders.«

»Alles gut«, sagt sie am Ende. Aber es bleibt offen, ob das wirklich so ist. Konstantin weiß weder, wie es mit Luisa, noch in seinem Beruf weitergeht. Mit Sicherheit wird er nicht mehr der bisherige »Staranwalt« sein. Was ihm bleibt, was ihn rettet, ist die Poesie. In diesem Fall das bereits zuvor angefangene Langgedicht, das nicht nur erwähnt wird, sondern auch abgedruckt ist.
Ludwig Steinherr, der Philosophie studiert hat und unterrichtet, unterlegt diese »Szenen einer Ehe« mit philosophischen Betrachtungen. Und da es sich um eine Novelle handelt, wird der Leser immer wieder durch unterhaltsame Wendungen überrascht. Letztlich ist es die immer wieder neue Frage, was das richtige Leben ist.


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