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Ludwig Steinherr: Medusen

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Timo Brandt

Die Sinnlichkeit, die sich nicht verliert


„Was gibt es hier zu finden
in diesem trüben Gewitterlicht?

Besser du suchst nicht zu genau!

Am Ende findest du noch Spuren –

Analogien im Kieferbau

Reste von DNA
die deine Verwandtschaft beweisen
mit dem Monster“                      

Im Ausschnitt dieses Gedichts stehen wir mit dem lyrischen Ich im Kolosseum in Rom, das zu Anfang verglichen wird mit dem Unterkiefer eines T-Rex. Überhaupt begleiten wir das lyrische Ich von Ludwig Steinherrs Band „Medusen“ an viele Orte: ins Museum, an den Strand, zum Einkaufen, zum Haareschneiden, auf Reisen, in den Herbst, in den Winter, nach New York und hinein in die Erinnerungen.

Steinherr ist einer von jenen Autor*innen, bei denen das lyrisches Ich und die schreibende Person sich in einigen Gedichten schwer voneinander trennen lassen. Was ich nicht grundsätzlich problematisch finde und auch nicht gesondert bewerten will. Aber ich habe bei der Lektüre von „Medusen“ wieder mal gemerkt, dass ich durch diese Art der Präsentation die Gedichte anders rezipiere, anders mit ihnen umgehe.
    Kurz gesagt: diese Gedichte erreichen mich auf einer empathischen Ebene (was nicht unbedingt heißt, dass sie mich auf einer sprachlichen grundsätzlich weniger überzeugen).

Abgedroschen wäre es, diesem Teil der Gedichte einen „Bekenntnis-Charakter“ zu unterstellen und ganz korrekt wäre es auch nicht. Denn es geht darin nicht unbedingt um die Entblößung des eigenen Seelenlebens, um die Verlautbarung einer bestimmten Identität. Vielmehr wird die unmittelbare körperliche und emotionale Erfahrung des Schreibenden zum Epizentrum, dessen Ausläufer, dessen Beben, von den Worten seismographisch abgebildet werden. Es wird versucht, das mit allen Sinnen verbundene und von allen Zuschreibungen abgeschnittene Erleben zu veranschaulichen.

„Die Hündin Pira die wenn du sprichst
den Kopf abwechselnd links und rechts hebt
als bräuchte jedes deiner Worte
ein neues Ohr –“

Steinherr versteht sich gut darauf, aus (vermeintlich) kleinen Epizentren große Beben werden zu lassen und so in den Gedichten das Gewöhnliche und Besondere ohne Widerspruch nebeneinander zu stellen.
    So gibt es bspw. ein Gedicht, in dem das lyrische Ich eine Bluse für eine Frau kauft; und während die Verkäuferin sie einpackt, das Papier knistert und der Stoff der Bluse ihm plötzlich beim Betrachten nahe geht (als Stoff, der Haut bedeckt, und als Stoff, der nun nackt, ganz ohne etwas wie eine Haut ist), da ziehen sich um diese Beschaffenheit der Bluse Erinnerungen zusammen, Wünsche, eine kaum auszuhaltende Sinnlichkeit und Unruhe und Müdigkeit, ohne Frivolität oder allzu geheischter Emotionalität. Als hätte sich für einen Augenblick in der Bluse der Berührungspunkt zwischen Materie und Gefühl offenbart, explosiv und flüchtig.

Einfachste Dinge werden so zu Verheißungen, aber es sind stillere, differenziertere Verheißungen als sie von Werbung, Pornographie, Special-Effects und digitalen Technologien produziert und aufgeboten werden. Verheißungen, die beide Beine auf dem Boden haben und dabei dennoch ganz von etwas durchdrungen werden.  

In einem anderen Gedicht stehen das lyrische Ich und andere Menschen um einen Rochen herum, der, an den Strand gespült, hilflos daliegt und schließlich mit vereinten Kräften wieder ins Wasser gebracht werden kann. Im Anschluss begibt sich das Gedicht dann über die bloße Illuminierung des Erlebnisses hinaus und fragt sich, ob etwas von diesem Erlebnis beim Rochen im (Körper-)Gedächtnis verbleiben wird.

„bleibt eine Spur in ihm
von diesem Augenblick
in einer andern fremden Sphäre
als der Meeresgrund zum Himmel geklappt war
als Heerscharren von Lichtwesen ihn umringten
Cherubim und Serafim
Lichtfinger ihn berührten
und er wehrlos lag – Auge in Auge
mit einer nie geschauten Sonne –?“

Ich mag es, wenn in Gedichten diese plötzliche Wendung, in eine Frage hinein, vollzogen wird; Steinherr beherrscht diese Art der Wendung famos.

Natürlich soll nicht der Eindruck aufkommen, dass der Band nur aus Lyrik bestände, in der unmittelbare Erlebnisse verarbeitet, veranschaulicht werden. Das Repertoire ist größer und reicht von aphoristischen, poetischen Sentenzen bis zu wasserfallartigen, manchmal fast schon polemischen Kaskaden.
    Ich muss allerdings zugeben, dass jene Gedichte, die sich fast überschlagen, die wüten und wuchern, mir meist etwas provisorisch erscheinen – ich mag es (zumindest im Fall Steinherr), wenn sie sich Zeit lassen; wenn ihre Bewegung sich mit dem eigenen Schwung vertraut macht und ihn daher nicht übertritt, lediglich ausreizt.

„Auch als Vermeer seine schlafwandelnden Mädchen malt
in lichtstillen Delfter Stuben
ist die Welt, was sie fast immer ist –
ein Irrenhaus ohne Wärter
Irre setzen sich Papierkronen auf […]
Irre versammeln Heere von Irren […]
Und mitten in all diesem Irrsinn
steht der Irrste von allen
In ihrer Seelenruhen den Pinsel in der Hand […]
und malt eine seidige Wimper
an ein träumendes Mädchenauge“

Nicht unterschlagen will ich jene Form von verblüffender Zärtlichkeit, die in vielen Gedichten erscheint. Verblüffend nicht deshalb, weil ungeheuer schön oder ungeheuer wortgewandt. Nein, ich bin immer wieder verblüfft von dieser Zärtlichkeit, weil sie sich nur sehr fein abhebt von dem Wortmaterial, das der Dichter um sie herum gruppiert, von den Dingen, die er ansonsten in dem Gedicht anspricht. Es sind Momente der Stille, die mit einem Mal, mitten im Nachvollziehen des Weltlärms, eintreten.

Sie ähneln jenen Momenten, in denen man, umschwirrt von angesammeltem Halbwissen und geläufigen Interpretationen, beeinflusst von Ausstellungstexten und dem Symboldetektor im eigenen Gehirn, durch ein Museum geht und vor einem Gemälde, einem Bild halt macht und plötzlich gebannt ist von einem Gesicht, einer Darstellung, einem Pinselstrich, einer Perspektive, einer Landschaft, einer Fläche aus Farbe.

In einem Gedicht über Botticellis Venus schreibt Steinherr:

„Ihr Blick sieht dich nicht an – sieht keinen –
Sie schaut in die Ferne als lehnte ihr Kopf sanft
an einem Zugfenster […]

Durch Kopfhörer hört sie eine Musik
die sie mit Sterblichen nicht teilt“

Ein weiteres, immer wieder auftretendes Thema – das aber, so mein Gefühl, gar keine tragende, sondern eher eine Nebenrolle in dem Band einnimmt – ist das Altern. Die Kinder werden größer, die Beziehung kann auf eine lange Zeit zurückblicken, die Perspektive auf das Leben weitet und verengt sich zugleich. Noch steht das Betagt-Sein nicht unmittelbar vor der Tür. Aber es ist auf dem Weg.

„Nur ab und zu winzige Gedächtnislücken
mikroskopische Vergesslichkeiten

die ich bestaune wie Schneekristalle
auf meinem Ärmel – mitten im Sommer –“

Beim Lesen von Gedichtbänden gibt es meist Texte, die mir besonders in Erinnerung bleiben, die mein Bild von dem Band prägen. Viele der restlichen Texte sind eine einmalige Erfahrung, von denen nicht mehr bleibt als eine Skizze – und ich weiß nicht, ob ich sie in mir vollende – und es gibt oft zusätzlich einige Texte (mal mehr, mal weniger), die nehme ich ein wenig schuldbewusst zur Kenntnis, weil ich das Gefühl habe, den Zugang nicht gefunden und sie gar nicht richtig aufgenommen zu haben.

Gedichte der letzten Kategorie fehlen in „Medusen“. Es ist ein Band, der in vielerlei Hinsicht zugänglich ist; diese Qualität verdankt er nicht einer Simplizität, sondern dem hohen Maß an Anschaulichkeit, das in Steinherrs poetischen Illuminationen und Dynamiken steckt.

Vor allem ist es eine Zugänglichkeit, die Nuancen des Rätsels, des Geheimnis nicht ausspart. Überall im Band ist eine unvermeidlich wirkende Sinnlichkeit am Werk. Jene Sinnlichkeit, von der wir wünschen, dass sie auch in unserem Leben am Werk sein möge. Und „Medusen“ zeigt: so abwegig muss dieser Wunsch nicht sein. Wir müssen nur mal wieder versinken in etwas, nur wieder staunen, wieder voller Zweifel oder Ruhe schauen.


Ludwig Steinherr: Medusen. Gedichte. München (Buch & Media – Lyrikedition 2000) 132 Seiten. 19,90 Euro.  
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